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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die böhmische Frage

Reichsrat fern, sie trieben, wie man sich ausdrückte, Abstinenz, und demonstrierten
dadurch gegen den durch die Dezemberverfassung durchgeführten Dualismus des
Reiches, die Loslösung Ungarns aus dem engeren Staatenverband. Die
Deutschen aber glaubten, daß ihnen nun gerade in dem also neugestalteten
Reich die Leitung unbestritten gehören würde. Sie glaubten darauf Anspruch
zu haben "vermöge ihrer Kultur, vermöge ihrer tausendjährigen Geschichte und
insbesondere deshalb, weil sie das Reich geschaffen und zusammengehalten
hätten". In diesem Vertrauen waren sie sogar ohne Bedenken für ein
Nationalitätengesetz und eine Regelung der Sprachenfrage in sehr entgegen¬
kommenden Sinne zu haben.

Es war auch für die Deutschen Österreichs eine große Zeit, als im Kriege
mit Frankreich ein neues Deutsches Reich erstand. Robert Hamerling sandte
damals einen begeisterten Gruß über die Grenze:


Wir sagen, frei die Stirn von Schamerröten,
Deutsch-Österreich war mitten unter euch.

Die tschechischen Politiker aber hatten aus ihrer antideutschen, besser anti¬
preußischen Gesinnung keinen Hehl gemacht und waren selbst in enge Beziehungen
zu dem französischen Botschafter in Wien, dem Herzog von Gramont, getreten.
Sie hofften, daß eine Niederlage der deutschen Waffen ihre Stellung ver¬
bessern würde.

Trotz ihrer Abstinenz zogen gerade die Tschechen in dieser Periode aus
dem Einleben in den Verfassungsstaat die größten Vorteile. Je weniger sie
sich um die staatliche, besonders um die Zentralverwaltung bekümmerten, desto
mehr pflegten sie die Selbstverwaltung, die in Österreich in der freisinnigsten
Weise ausgestaltet ist. In dieser mit nationalem Geiste erfüllten Selbst¬
verwaltung, der sich die Tschechen mit ihrem ganzen Können, mit Fleiß und
Begeisterung widmeten, hatten sie dann auch die Vorschule für ihre Betätigung
in den Parlamenten.

1879 sind die Tschechen aus ihrer Abstinenz herausgetreten. Es war die
große Wende Österreichs. 1876 hatten die Wirren auf dem Balkan begonnen,
die zu dem russisch-türkischen Kriege führten. Man bejubelte in Prag den
Serbenführer Tschernajew, man bejubelte die Russen, man agitierte für den
orthodoxen Glauben und verbrannte das Bild des Papstes. Durch den Berliner
Kongreß erhielt Österreich dann das europäische Mandat zur Besetzung von
Bosnien und der Herzegowina. Aber nur mit Mühe hat die Regierung hierzu
und zu den damit verknüpften Mehraufwendungen die Zustimmung des Reichs¬
rath erhalten können. Da sprangen die Tschechen ein. Als sich jetzt durch
ihren Eintritt ins Parlament die Regierung nicht mehr auf die Deutschen in
ihren verschiedenen Parteischattierungen allein angewiesen sah, als alle Völker
der Monarchie sich auf den Boden der Verfassung stellten und zur Mitarbeit


Grenzboten II 1916 20
Die böhmische Frage

Reichsrat fern, sie trieben, wie man sich ausdrückte, Abstinenz, und demonstrierten
dadurch gegen den durch die Dezemberverfassung durchgeführten Dualismus des
Reiches, die Loslösung Ungarns aus dem engeren Staatenverband. Die
Deutschen aber glaubten, daß ihnen nun gerade in dem also neugestalteten
Reich die Leitung unbestritten gehören würde. Sie glaubten darauf Anspruch
zu haben „vermöge ihrer Kultur, vermöge ihrer tausendjährigen Geschichte und
insbesondere deshalb, weil sie das Reich geschaffen und zusammengehalten
hätten". In diesem Vertrauen waren sie sogar ohne Bedenken für ein
Nationalitätengesetz und eine Regelung der Sprachenfrage in sehr entgegen¬
kommenden Sinne zu haben.

Es war auch für die Deutschen Österreichs eine große Zeit, als im Kriege
mit Frankreich ein neues Deutsches Reich erstand. Robert Hamerling sandte
damals einen begeisterten Gruß über die Grenze:


Wir sagen, frei die Stirn von Schamerröten,
Deutsch-Österreich war mitten unter euch.

Die tschechischen Politiker aber hatten aus ihrer antideutschen, besser anti¬
preußischen Gesinnung keinen Hehl gemacht und waren selbst in enge Beziehungen
zu dem französischen Botschafter in Wien, dem Herzog von Gramont, getreten.
Sie hofften, daß eine Niederlage der deutschen Waffen ihre Stellung ver¬
bessern würde.

Trotz ihrer Abstinenz zogen gerade die Tschechen in dieser Periode aus
dem Einleben in den Verfassungsstaat die größten Vorteile. Je weniger sie
sich um die staatliche, besonders um die Zentralverwaltung bekümmerten, desto
mehr pflegten sie die Selbstverwaltung, die in Österreich in der freisinnigsten
Weise ausgestaltet ist. In dieser mit nationalem Geiste erfüllten Selbst¬
verwaltung, der sich die Tschechen mit ihrem ganzen Können, mit Fleiß und
Begeisterung widmeten, hatten sie dann auch die Vorschule für ihre Betätigung
in den Parlamenten.

1879 sind die Tschechen aus ihrer Abstinenz herausgetreten. Es war die
große Wende Österreichs. 1876 hatten die Wirren auf dem Balkan begonnen,
die zu dem russisch-türkischen Kriege führten. Man bejubelte in Prag den
Serbenführer Tschernajew, man bejubelte die Russen, man agitierte für den
orthodoxen Glauben und verbrannte das Bild des Papstes. Durch den Berliner
Kongreß erhielt Österreich dann das europäische Mandat zur Besetzung von
Bosnien und der Herzegowina. Aber nur mit Mühe hat die Regierung hierzu
und zu den damit verknüpften Mehraufwendungen die Zustimmung des Reichs¬
rath erhalten können. Da sprangen die Tschechen ein. Als sich jetzt durch
ihren Eintritt ins Parlament die Regierung nicht mehr auf die Deutschen in
ihren verschiedenen Parteischattierungen allein angewiesen sah, als alle Völker
der Monarchie sich auf den Boden der Verfassung stellten und zur Mitarbeit


Grenzboten II 1916 20
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[0317] Die böhmische Frage Reichsrat fern, sie trieben, wie man sich ausdrückte, Abstinenz, und demonstrierten dadurch gegen den durch die Dezemberverfassung durchgeführten Dualismus des Reiches, die Loslösung Ungarns aus dem engeren Staatenverband. Die Deutschen aber glaubten, daß ihnen nun gerade in dem also neugestalteten Reich die Leitung unbestritten gehören würde. Sie glaubten darauf Anspruch zu haben „vermöge ihrer Kultur, vermöge ihrer tausendjährigen Geschichte und insbesondere deshalb, weil sie das Reich geschaffen und zusammengehalten hätten". In diesem Vertrauen waren sie sogar ohne Bedenken für ein Nationalitätengesetz und eine Regelung der Sprachenfrage in sehr entgegen¬ kommenden Sinne zu haben. Es war auch für die Deutschen Österreichs eine große Zeit, als im Kriege mit Frankreich ein neues Deutsches Reich erstand. Robert Hamerling sandte damals einen begeisterten Gruß über die Grenze: Wir sagen, frei die Stirn von Schamerröten, Deutsch-Österreich war mitten unter euch. Die tschechischen Politiker aber hatten aus ihrer antideutschen, besser anti¬ preußischen Gesinnung keinen Hehl gemacht und waren selbst in enge Beziehungen zu dem französischen Botschafter in Wien, dem Herzog von Gramont, getreten. Sie hofften, daß eine Niederlage der deutschen Waffen ihre Stellung ver¬ bessern würde. Trotz ihrer Abstinenz zogen gerade die Tschechen in dieser Periode aus dem Einleben in den Verfassungsstaat die größten Vorteile. Je weniger sie sich um die staatliche, besonders um die Zentralverwaltung bekümmerten, desto mehr pflegten sie die Selbstverwaltung, die in Österreich in der freisinnigsten Weise ausgestaltet ist. In dieser mit nationalem Geiste erfüllten Selbst¬ verwaltung, der sich die Tschechen mit ihrem ganzen Können, mit Fleiß und Begeisterung widmeten, hatten sie dann auch die Vorschule für ihre Betätigung in den Parlamenten. 1879 sind die Tschechen aus ihrer Abstinenz herausgetreten. Es war die große Wende Österreichs. 1876 hatten die Wirren auf dem Balkan begonnen, die zu dem russisch-türkischen Kriege führten. Man bejubelte in Prag den Serbenführer Tschernajew, man bejubelte die Russen, man agitierte für den orthodoxen Glauben und verbrannte das Bild des Papstes. Durch den Berliner Kongreß erhielt Österreich dann das europäische Mandat zur Besetzung von Bosnien und der Herzegowina. Aber nur mit Mühe hat die Regierung hierzu und zu den damit verknüpften Mehraufwendungen die Zustimmung des Reichs¬ rath erhalten können. Da sprangen die Tschechen ein. Als sich jetzt durch ihren Eintritt ins Parlament die Regierung nicht mehr auf die Deutschen in ihren verschiedenen Parteischattierungen allein angewiesen sah, als alle Völker der Monarchie sich auf den Boden der Verfassung stellten und zur Mitarbeit Grenzboten II 1916 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/317>, abgerufen am 23.12.2024.