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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht

Für den politisch Interessierten war aber während der ersten Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts der Leitartikel die Hauptsache. Im Vergleiche mit ihm
erschien alles andere als Lückenbüßer. "Ist der Tendenzartikel gut", sagt
Se. Abram, "so gilt die Zeitung für gediegen, mag auch der Überblick über die
Tagesgeschichte lückenhaft und zerrissen sein. Das Ausland übersehen wir;
wenn gerade eine Fülle einheimischen Stoffes drängt, so mag selbst eine
Begebenheit von einiger Bedeutung unbeachtet bleiben, sofern sie uns nicht
betrifft. Der Deutsche ist historischer gestimmt; er will zugleich Geschichte in
seiner Zeitung lesen, eine Geschichte der Gegenwart mit der Gewissenhaftigkeit
zusammengetragen, womit ein Historiker seine Quellen sammelt, durch keine
Parteiabsicht bestochen, keine vorgefaßte Meinung gefärbt, von keinem Zwecke
bestimmt, als dem der geschichtlichen Wahrheit. Wir Franzosen aber sind nicht
kühl und platonisch genug, um aus einer Mondperspektive herab das, was um
uns her lebt und webt, als einen Stoff der Geschichte zu besehen; wir sind
nicht parteilos in Europa, weil wir uns einbilden, daß uns alles angeht und
daß wir in alles eingreifen müssen. Wir schmeicheln uns selbst; wir ver¬
fälschen die Geschichte, noch während sie im Geschehen begriffen ist; wir machen
uns täglich lächerlich durch die gänzliche Unkenntnis alles dessen, was nicht
Paris ist. Und dessenungeachtet ziehen wir den halben Kontinent tagtäglich an
dem Faden unserer Zeitungslektüre nach, wie ein spielender Knabe einen Horn-
schröter." Diese Worte voll Selbsterkenntnis enthalten keine Übertreibung. Es
ist niemals eine Presse so mächtig gewesen und es wird vielleicht niemals
wieder eine Presse so mächtig sein wie die französische während der Restauration,
als fast ganz Europa die geistigen Kämpfe miterlebte, die in Paris gekämpft
wurden, und der Pariser Journalismus für jeden Strebenden ein Bedürfnis,
eine Bedingung, ein Salz seines politischen Geistes war.

Die deutschen Regierungen haben nichts getan, um diesem Einfluß ent¬
gegenzuarbeiten. Während der Befreiungskriege war auch die deutsche Presse ein
gewaltiger Hebel der öffentlichen Meinung den "Rheinischen Merkur" von Joseph
Görres nannte Napoleon die fünfte Großmacht -- aber wenige Jahre später waren
alle Tageblätter und Zeitschriften, die eine innere Erneuerung und Vertiefung
unseres nationalen Lebens anstrebten, unterdrückt und verschwunden.*) Dieses
Jammerbild des deutschen Zeitungswesens war das Geschöpf einer deutschen
Staatseinrichtung: der Zensur. Die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse und
die Bundestagsbeschlüsse vom 20. September 1819 bedeuteten den Untergang
der deutschen Preßfreiheit. Die Zensur hat hier lange Zeit alle deutschen Ge¬
danken aus dem Wege geräumt, sie vor allem hat die deutsche Presse mit ge¬
bundenen Händen an das Ausland ausgeliefert. Denn da die Zensur die
Verhandlung und Besprechung deutscher Fragen den Zeitungen untersagte, so
richtete sich das politische Interesse auf die Angelegenheiten und Ereignisse in



") Bergl. meinen Aufsatz "Die Verwelschung der deutschen Presse in der vormärzlichen
Zeit" im "Tag" Ausgabe S Ur. 129 vom S. Juni 1915.
Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht

Für den politisch Interessierten war aber während der ersten Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts der Leitartikel die Hauptsache. Im Vergleiche mit ihm
erschien alles andere als Lückenbüßer. „Ist der Tendenzartikel gut", sagt
Se. Abram, „so gilt die Zeitung für gediegen, mag auch der Überblick über die
Tagesgeschichte lückenhaft und zerrissen sein. Das Ausland übersehen wir;
wenn gerade eine Fülle einheimischen Stoffes drängt, so mag selbst eine
Begebenheit von einiger Bedeutung unbeachtet bleiben, sofern sie uns nicht
betrifft. Der Deutsche ist historischer gestimmt; er will zugleich Geschichte in
seiner Zeitung lesen, eine Geschichte der Gegenwart mit der Gewissenhaftigkeit
zusammengetragen, womit ein Historiker seine Quellen sammelt, durch keine
Parteiabsicht bestochen, keine vorgefaßte Meinung gefärbt, von keinem Zwecke
bestimmt, als dem der geschichtlichen Wahrheit. Wir Franzosen aber sind nicht
kühl und platonisch genug, um aus einer Mondperspektive herab das, was um
uns her lebt und webt, als einen Stoff der Geschichte zu besehen; wir sind
nicht parteilos in Europa, weil wir uns einbilden, daß uns alles angeht und
daß wir in alles eingreifen müssen. Wir schmeicheln uns selbst; wir ver¬
fälschen die Geschichte, noch während sie im Geschehen begriffen ist; wir machen
uns täglich lächerlich durch die gänzliche Unkenntnis alles dessen, was nicht
Paris ist. Und dessenungeachtet ziehen wir den halben Kontinent tagtäglich an
dem Faden unserer Zeitungslektüre nach, wie ein spielender Knabe einen Horn-
schröter." Diese Worte voll Selbsterkenntnis enthalten keine Übertreibung. Es
ist niemals eine Presse so mächtig gewesen und es wird vielleicht niemals
wieder eine Presse so mächtig sein wie die französische während der Restauration,
als fast ganz Europa die geistigen Kämpfe miterlebte, die in Paris gekämpft
wurden, und der Pariser Journalismus für jeden Strebenden ein Bedürfnis,
eine Bedingung, ein Salz seines politischen Geistes war.

Die deutschen Regierungen haben nichts getan, um diesem Einfluß ent¬
gegenzuarbeiten. Während der Befreiungskriege war auch die deutsche Presse ein
gewaltiger Hebel der öffentlichen Meinung den „Rheinischen Merkur" von Joseph
Görres nannte Napoleon die fünfte Großmacht — aber wenige Jahre später waren
alle Tageblätter und Zeitschriften, die eine innere Erneuerung und Vertiefung
unseres nationalen Lebens anstrebten, unterdrückt und verschwunden.*) Dieses
Jammerbild des deutschen Zeitungswesens war das Geschöpf einer deutschen
Staatseinrichtung: der Zensur. Die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse und
die Bundestagsbeschlüsse vom 20. September 1819 bedeuteten den Untergang
der deutschen Preßfreiheit. Die Zensur hat hier lange Zeit alle deutschen Ge¬
danken aus dem Wege geräumt, sie vor allem hat die deutsche Presse mit ge¬
bundenen Händen an das Ausland ausgeliefert. Denn da die Zensur die
Verhandlung und Besprechung deutscher Fragen den Zeitungen untersagte, so
richtete sich das politische Interesse auf die Angelegenheiten und Ereignisse in



") Bergl. meinen Aufsatz „Die Verwelschung der deutschen Presse in der vormärzlichen
Zeit" im „Tag" Ausgabe S Ur. 129 vom S. Juni 1915.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/30>, abgerufen am 27.07.2024.