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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßzcbliches

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sammenlebeu ohne eigentliche Kenntnis von
einander hat gewiß auch einst in Teilen Deutsch¬
lands stattgefunden, und lauschende Germanen¬
kinder können von dem huschender Schleich¬
volk der Wälder Anregung für die Gestalten
ihrer Märchen geschöpft haben. Wollten sie
neugierig wenigstens eine Spur der nächt¬
lichen Besucher erHaschen, so streuten sie Wohl,
Wie daS Märchen nicht müde wird zu er¬
zählen, den "Wichtelmännern" Sand oder
Asche auf den Weg vorm Haus in den
Wald hinein, und wenn sie dann am Morgen
nachzusehen kamen, hatten schon die gefiederten
Hausgenossen, die gemeinhin an? frühesten
auf zu sein Pflegen, ihre Spuren in den
Sand gedrückt: daher die Märchen von den
Zwergen mit Hühner- oder Entenfüßen,

Gewiß soll man die Versuche rationalisti¬
scher Erklärung nicht überspannen -- ein
Stück weiter helfen sie doch in ein Gebiet
hineinschauen, das sich geschichtlicher Erhellung
A. G. entzieht.

Aunst

Heinrich Wülfflm: Kunstgcschichtliche
Grundbegriffe. Das Problem der Stil¬
entwicklung in der neueren Kunst. F. Bruck-
mann A.-G. München 1916. 10 M. geh.,
12 M. geb.

Ein neuer Wölfflin ist ein Ereignis. Der
bedeutende Kunstforscher karge mit seinen
Gaben, und es sind allemal reife Werke, die
er in gemessenem Abstand der deutschen
Öffentlichkeit vorlegt. Auch diese "Systematik"
wurde seit Jahren nach einer Andeutung und
wenigen zerstreut erschienenen Vorarbeiten
erwartet. Nun liegt das Werk vor, aber
mancher wird erstaunt sein, wenn er es auf¬
schlägt. Es zeigt nicht die übergreifende
abstrakte Allgemeinheit, die sein Titel ver¬
muten läßt. Fast möchte man sagen, der
Untertitel träfe eigentlich das Wesentliche
besser. In der Tat kommt der Kern dieser
Untersuchungen mit dem Thema der ersten
Arbeit Wölfflins überein: es handelt sich um
den Übergang und wesenhaften Unterschied
zwischen Renaissance und Barock, nun aber
nicht mehr so, daß die Analyse jeweils die
entscheidende Drehung am einzelnen Stil¬
motiv aufwiese, sondern unter ganz allge¬

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meinen begrifflichen Gegensätzlichkeiten wird
die wesenhafte Verschiedenheit dieser beiden
großen neuzeitlichen Stile zur Anschauung
erhoben, Und so sehr ist die antithetische
Logik dieser Begriffspaare in den Vordergrund
geschoben, daß der konkrete Beleg, so sehr er
die Hauptsache ist, doch etwas zufällig Bei¬
spielhaftes nicht los wird. Andererseits springt
das Velegmatericil nicht in der Geschichte
herum. Wenn auch gelegentlich Beispiele aus
anderen Epochen hinzugezogen werden, so
steht doch gerade der Gegensatz von Renaissance
und Barock fest im Mittelpunkte der Betrach¬
tung. Und so bekommt die Darstellung ihre
eigene logische Pikanterie dadurch, daß, wie
durch vorbestimmte Fügung, ein dialektisch
einleuchtendes System von Gegensätzlichkeiten,
die sich beinahe auseinander deduzieren lassen,
auf einen ganz bestimmten Fall der sonst
aller Logik gegenüber so spröden Wirklichkeit
tatsächlich zu passen scheint.

Die Erörterung geht vom Gegensatz des
Linearen und Malerischen aus. Im Barock
verschwimmt der Kontur, Der zeichnerische
Stil der Klassik sah in Linien, der malerische
des Barock in Massen. DaS Tastbild wird
ersetzt durch das Schont. Erst damit wird
eine Schönheit des Körperlosen möglich. Der
zweite Gesichtspunkt, unter dem sich der
Gegensatz beider Stile betrachten läßt, ist der
von Fläche und Tiefe, Die Renaissance kom¬
poniert in Parallel geschichteten Flächen, das
Barock geht auf eigentliche Tiefenkomposition.
Ferner gliedert sich das klassische Kunstwerk
in der geschlossenen, in sich selbst begrenzten
Form, während die offene Form des Barock
überall über sich selbst hinausweist und un-
abgegrenzt erscheinen will. Die Klassik betont
ausdrücklich die Horizontalen und Vertikalen,
das Barock verschleiert diese Gliederung.
Die Symmetrie behält es bloß in der Bau¬
kunst bei. Das Verhältnis zwischen Raum
und Füllung wird erst bei ihm ein scheinbar
zufälliges, daS Bild verleugnet den Nahmen,
dessen Abschluß doch insgeheim wohlbeabsich¬
tigt ist. Die Figur verliert die Konsonanz
mit den begleitenden architektonischen Formen.
Ja, das Verhältnis steigert sich überhaupt
zum Gegensatz zwischen betonten Gesetz und
zur Schau gestellter Freiheit. Den Werten

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Maßgebliches und Unmaßzcbliches

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sammenlebeu ohne eigentliche Kenntnis von
einander hat gewiß auch einst in Teilen Deutsch¬
lands stattgefunden, und lauschende Germanen¬
kinder können von dem huschender Schleich¬
volk der Wälder Anregung für die Gestalten
ihrer Märchen geschöpft haben. Wollten sie
neugierig wenigstens eine Spur der nächt¬
lichen Besucher erHaschen, so streuten sie Wohl,
Wie daS Märchen nicht müde wird zu er¬
zählen, den „Wichtelmännern" Sand oder
Asche auf den Weg vorm Haus in den
Wald hinein, und wenn sie dann am Morgen
nachzusehen kamen, hatten schon die gefiederten
Hausgenossen, die gemeinhin an? frühesten
auf zu sein Pflegen, ihre Spuren in den
Sand gedrückt: daher die Märchen von den
Zwergen mit Hühner- oder Entenfüßen,

Gewiß soll man die Versuche rationalisti¬
scher Erklärung nicht überspannen — ein
Stück weiter helfen sie doch in ein Gebiet
hineinschauen, das sich geschichtlicher Erhellung
A. G. entzieht.

Aunst

Heinrich Wülfflm: Kunstgcschichtliche
Grundbegriffe. Das Problem der Stil¬
entwicklung in der neueren Kunst. F. Bruck-
mann A.-G. München 1916. 10 M. geh.,
12 M. geb.

Ein neuer Wölfflin ist ein Ereignis. Der
bedeutende Kunstforscher karge mit seinen
Gaben, und es sind allemal reife Werke, die
er in gemessenem Abstand der deutschen
Öffentlichkeit vorlegt. Auch diese „Systematik"
wurde seit Jahren nach einer Andeutung und
wenigen zerstreut erschienenen Vorarbeiten
erwartet. Nun liegt das Werk vor, aber
mancher wird erstaunt sein, wenn er es auf¬
schlägt. Es zeigt nicht die übergreifende
abstrakte Allgemeinheit, die sein Titel ver¬
muten läßt. Fast möchte man sagen, der
Untertitel träfe eigentlich das Wesentliche
besser. In der Tat kommt der Kern dieser
Untersuchungen mit dem Thema der ersten
Arbeit Wölfflins überein: es handelt sich um
den Übergang und wesenhaften Unterschied
zwischen Renaissance und Barock, nun aber
nicht mehr so, daß die Analyse jeweils die
entscheidende Drehung am einzelnen Stil¬
motiv aufwiese, sondern unter ganz allge¬

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meinen begrifflichen Gegensätzlichkeiten wird
die wesenhafte Verschiedenheit dieser beiden
großen neuzeitlichen Stile zur Anschauung
erhoben, Und so sehr ist die antithetische
Logik dieser Begriffspaare in den Vordergrund
geschoben, daß der konkrete Beleg, so sehr er
die Hauptsache ist, doch etwas zufällig Bei¬
spielhaftes nicht los wird. Andererseits springt
das Velegmatericil nicht in der Geschichte
herum. Wenn auch gelegentlich Beispiele aus
anderen Epochen hinzugezogen werden, so
steht doch gerade der Gegensatz von Renaissance
und Barock fest im Mittelpunkte der Betrach¬
tung. Und so bekommt die Darstellung ihre
eigene logische Pikanterie dadurch, daß, wie
durch vorbestimmte Fügung, ein dialektisch
einleuchtendes System von Gegensätzlichkeiten,
die sich beinahe auseinander deduzieren lassen,
auf einen ganz bestimmten Fall der sonst
aller Logik gegenüber so spröden Wirklichkeit
tatsächlich zu passen scheint.

Die Erörterung geht vom Gegensatz des
Linearen und Malerischen aus. Im Barock
verschwimmt der Kontur, Der zeichnerische
Stil der Klassik sah in Linien, der malerische
des Barock in Massen. DaS Tastbild wird
ersetzt durch das Schont. Erst damit wird
eine Schönheit des Körperlosen möglich. Der
zweite Gesichtspunkt, unter dem sich der
Gegensatz beider Stile betrachten läßt, ist der
von Fläche und Tiefe, Die Renaissance kom¬
poniert in Parallel geschichteten Flächen, das
Barock geht auf eigentliche Tiefenkomposition.
Ferner gliedert sich das klassische Kunstwerk
in der geschlossenen, in sich selbst begrenzten
Form, während die offene Form des Barock
überall über sich selbst hinausweist und un-
abgegrenzt erscheinen will. Die Klassik betont
ausdrücklich die Horizontalen und Vertikalen,
das Barock verschleiert diese Gliederung.
Die Symmetrie behält es bloß in der Bau¬
kunst bei. Das Verhältnis zwischen Raum
und Füllung wird erst bei ihm ein scheinbar
zufälliges, daS Bild verleugnet den Nahmen,
dessen Abschluß doch insgeheim wohlbeabsich¬
tigt ist. Die Figur verliert die Konsonanz
mit den begleitenden architektonischen Formen.
Ja, das Verhältnis steigert sich überhaupt
zum Gegensatz zwischen betonten Gesetz und
zur Schau gestellter Freiheit. Den Werten

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[0298] Maßgebliches und Unmaßzcbliches sammenlebeu ohne eigentliche Kenntnis von einander hat gewiß auch einst in Teilen Deutsch¬ lands stattgefunden, und lauschende Germanen¬ kinder können von dem huschender Schleich¬ volk der Wälder Anregung für die Gestalten ihrer Märchen geschöpft haben. Wollten sie neugierig wenigstens eine Spur der nächt¬ lichen Besucher erHaschen, so streuten sie Wohl, Wie daS Märchen nicht müde wird zu er¬ zählen, den „Wichtelmännern" Sand oder Asche auf den Weg vorm Haus in den Wald hinein, und wenn sie dann am Morgen nachzusehen kamen, hatten schon die gefiederten Hausgenossen, die gemeinhin an? frühesten auf zu sein Pflegen, ihre Spuren in den Sand gedrückt: daher die Märchen von den Zwergen mit Hühner- oder Entenfüßen, Gewiß soll man die Versuche rationalisti¬ scher Erklärung nicht überspannen — ein Stück weiter helfen sie doch in ein Gebiet hineinschauen, das sich geschichtlicher Erhellung A. G. entzieht. Aunst Heinrich Wülfflm: Kunstgcschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stil¬ entwicklung in der neueren Kunst. F. Bruck- mann A.-G. München 1916. 10 M. geh., 12 M. geb. Ein neuer Wölfflin ist ein Ereignis. Der bedeutende Kunstforscher karge mit seinen Gaben, und es sind allemal reife Werke, die er in gemessenem Abstand der deutschen Öffentlichkeit vorlegt. Auch diese „Systematik" wurde seit Jahren nach einer Andeutung und wenigen zerstreut erschienenen Vorarbeiten erwartet. Nun liegt das Werk vor, aber mancher wird erstaunt sein, wenn er es auf¬ schlägt. Es zeigt nicht die übergreifende abstrakte Allgemeinheit, die sein Titel ver¬ muten läßt. Fast möchte man sagen, der Untertitel träfe eigentlich das Wesentliche besser. In der Tat kommt der Kern dieser Untersuchungen mit dem Thema der ersten Arbeit Wölfflins überein: es handelt sich um den Übergang und wesenhaften Unterschied zwischen Renaissance und Barock, nun aber nicht mehr so, daß die Analyse jeweils die entscheidende Drehung am einzelnen Stil¬ motiv aufwiese, sondern unter ganz allge¬ meinen begrifflichen Gegensätzlichkeiten wird die wesenhafte Verschiedenheit dieser beiden großen neuzeitlichen Stile zur Anschauung erhoben, Und so sehr ist die antithetische Logik dieser Begriffspaare in den Vordergrund geschoben, daß der konkrete Beleg, so sehr er die Hauptsache ist, doch etwas zufällig Bei¬ spielhaftes nicht los wird. Andererseits springt das Velegmatericil nicht in der Geschichte herum. Wenn auch gelegentlich Beispiele aus anderen Epochen hinzugezogen werden, so steht doch gerade der Gegensatz von Renaissance und Barock fest im Mittelpunkte der Betrach¬ tung. Und so bekommt die Darstellung ihre eigene logische Pikanterie dadurch, daß, wie durch vorbestimmte Fügung, ein dialektisch einleuchtendes System von Gegensätzlichkeiten, die sich beinahe auseinander deduzieren lassen, auf einen ganz bestimmten Fall der sonst aller Logik gegenüber so spröden Wirklichkeit tatsächlich zu passen scheint. Die Erörterung geht vom Gegensatz des Linearen und Malerischen aus. Im Barock verschwimmt der Kontur, Der zeichnerische Stil der Klassik sah in Linien, der malerische des Barock in Massen. DaS Tastbild wird ersetzt durch das Schont. Erst damit wird eine Schönheit des Körperlosen möglich. Der zweite Gesichtspunkt, unter dem sich der Gegensatz beider Stile betrachten läßt, ist der von Fläche und Tiefe, Die Renaissance kom¬ poniert in Parallel geschichteten Flächen, das Barock geht auf eigentliche Tiefenkomposition. Ferner gliedert sich das klassische Kunstwerk in der geschlossenen, in sich selbst begrenzten Form, während die offene Form des Barock überall über sich selbst hinausweist und un- abgegrenzt erscheinen will. Die Klassik betont ausdrücklich die Horizontalen und Vertikalen, das Barock verschleiert diese Gliederung. Die Symmetrie behält es bloß in der Bau¬ kunst bei. Das Verhältnis zwischen Raum und Füllung wird erst bei ihm ein scheinbar zufälliges, daS Bild verleugnet den Nahmen, dessen Abschluß doch insgeheim wohlbeabsich¬ tigt ist. Die Figur verliert die Konsonanz mit den begleitenden architektonischen Formen. Ja, das Verhältnis steigert sich überhaupt zum Gegensatz zwischen betonten Gesetz und zur Schau gestellter Freiheit. Den Werten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/298>, abgerufen am 27.07.2024.