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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Der Weltkrieg und die Streitbewegung in Europa

unter den fortwährenden Arbeitskämpfen besonders schwer leiden, versucht,
sich auf eine recht seltsame Art zu helfen, und zwar dadurch, daß man
uniformierte Hafenarbeiterbataillone einrichtete. Die Mannschaften dieser
Bataillone erhalten einen Zioillohn von mindestens 35 Schilling pro Woche,
der von den Unternehmern den Behörden zurückerstattet wird, sowie ferner von
den letzteren 7 Schilling Soldatengeld und freie Uniform. Aber auch dieses
Abhilfemittelchen, welches einer gewissen Anziehung auf kleinere Teile der
Arbeiterschaft nicht entbehrte, hat natürlich nicht vermocht, die unter den
Hafenarbeitern herrschende Unzufriedenheit zu beseitigen. Auch Fälle von
Sabotage, d. h. die mutwillige Zerstörung öffentlichen und privaten Eigentums
seitens der Streitenden, wurden berichtet. Nach Mitteilungen von "Daily
Graphic" vom Juni 1915 herrschte in den Zentren der Baumwollindustrie von
Oldham und Lancashire eine außerordentliche Erbitterung in den Arbeiterkreisen:
die in diesen Textilbezirken ausgebrochenen zahlreichen Brände, denen eine ganze
Anzahl von Spinnereien und Webereien sowie mehrere Baumwollager zum
Opfer gefallen sind, sollen von den streikenden Arbeitern angelegt worden sein.
Auch im Jahre 1916 hat nun die Streitbewegung in England nicht nach¬
gelassen. Nach einer Erklärung von Lloyd George ist die englische Munitions¬
erzeugung im März 1916 infolge der Arbeiterausstände um 28 Prozent geringer
als im Januar 1916.

Auch unsere anderen Gegner haben betreffs der Arbeiterbewegung ihre
Sorgen. So wird beispielsweise in Rußland eine Streitbewegung durch
die andere abgelöst. Überhaupt stand das Zarenreich in den letzten Jahren
im Zeichen der Arbeiterausstände. Nach einer Veröffentlichung des russischen
Handels- und Gewerbeministeriums gab es beispielsweise im Jahre 1913
2404 Streiks politischer und ökonomischer Natur mit 880 096 Streitenden. In
den ersten sieben Monaten des Jahres 1914 stieg die Zahl der Streiks bereits
auf 4098, an denen 1494 284 Personen beteiligt waren. In der Kriegszeit
ist nun die Ausstandsbewegung nicht zum Stillstand gekommen und zwar
trotz aller Maßnahmen der russischen Regierung. Nach Mitteilungen der
schwedischen Zeitung "Stormklokkan" fanden im April 1915 Proteststreiks
größeren Stils zur Erinnerung an die Lenavorgänge in verschiedenen Teilen
Rußlands statt. Mit dem Feldruf: "Der Bürgerkrieg ist die Parole der
revolutionären Sozialdemokratie in diesem historischen Augenblick!" wurden diese
Massenbewegungen eingeleitet. Am 1. Mai 1915 streikten in Petersburg
35000 Arbeiter mit der Parole: "Nieder mit dem Kriege!" Im Juni 1915
brach wiederum in Petersburg und zwar unter den Metallarbeitern ein Streik
aus, der 15000 Mann umfaßte und wobei die Sabotage in weitesten Umfange
angewendet wurde. In demselben Monat brachen mehrere Streiks im Innern
Rußlands aus. In Moskau kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen den
Streitenden und den Organen der öffentlichen Sicherheit, denen zwanzig Per¬
sonen zum Opfer fielen, und in Kostroma, dem Zentrum der russischen Textil


Der Weltkrieg und die Streitbewegung in Europa

unter den fortwährenden Arbeitskämpfen besonders schwer leiden, versucht,
sich auf eine recht seltsame Art zu helfen, und zwar dadurch, daß man
uniformierte Hafenarbeiterbataillone einrichtete. Die Mannschaften dieser
Bataillone erhalten einen Zioillohn von mindestens 35 Schilling pro Woche,
der von den Unternehmern den Behörden zurückerstattet wird, sowie ferner von
den letzteren 7 Schilling Soldatengeld und freie Uniform. Aber auch dieses
Abhilfemittelchen, welches einer gewissen Anziehung auf kleinere Teile der
Arbeiterschaft nicht entbehrte, hat natürlich nicht vermocht, die unter den
Hafenarbeitern herrschende Unzufriedenheit zu beseitigen. Auch Fälle von
Sabotage, d. h. die mutwillige Zerstörung öffentlichen und privaten Eigentums
seitens der Streitenden, wurden berichtet. Nach Mitteilungen von „Daily
Graphic" vom Juni 1915 herrschte in den Zentren der Baumwollindustrie von
Oldham und Lancashire eine außerordentliche Erbitterung in den Arbeiterkreisen:
die in diesen Textilbezirken ausgebrochenen zahlreichen Brände, denen eine ganze
Anzahl von Spinnereien und Webereien sowie mehrere Baumwollager zum
Opfer gefallen sind, sollen von den streikenden Arbeitern angelegt worden sein.
Auch im Jahre 1916 hat nun die Streitbewegung in England nicht nach¬
gelassen. Nach einer Erklärung von Lloyd George ist die englische Munitions¬
erzeugung im März 1916 infolge der Arbeiterausstände um 28 Prozent geringer
als im Januar 1916.

Auch unsere anderen Gegner haben betreffs der Arbeiterbewegung ihre
Sorgen. So wird beispielsweise in Rußland eine Streitbewegung durch
die andere abgelöst. Überhaupt stand das Zarenreich in den letzten Jahren
im Zeichen der Arbeiterausstände. Nach einer Veröffentlichung des russischen
Handels- und Gewerbeministeriums gab es beispielsweise im Jahre 1913
2404 Streiks politischer und ökonomischer Natur mit 880 096 Streitenden. In
den ersten sieben Monaten des Jahres 1914 stieg die Zahl der Streiks bereits
auf 4098, an denen 1494 284 Personen beteiligt waren. In der Kriegszeit
ist nun die Ausstandsbewegung nicht zum Stillstand gekommen und zwar
trotz aller Maßnahmen der russischen Regierung. Nach Mitteilungen der
schwedischen Zeitung „Stormklokkan" fanden im April 1915 Proteststreiks
größeren Stils zur Erinnerung an die Lenavorgänge in verschiedenen Teilen
Rußlands statt. Mit dem Feldruf: „Der Bürgerkrieg ist die Parole der
revolutionären Sozialdemokratie in diesem historischen Augenblick!" wurden diese
Massenbewegungen eingeleitet. Am 1. Mai 1915 streikten in Petersburg
35000 Arbeiter mit der Parole: „Nieder mit dem Kriege!" Im Juni 1915
brach wiederum in Petersburg und zwar unter den Metallarbeitern ein Streik
aus, der 15000 Mann umfaßte und wobei die Sabotage in weitesten Umfange
angewendet wurde. In demselben Monat brachen mehrere Streiks im Innern
Rußlands aus. In Moskau kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen den
Streitenden und den Organen der öffentlichen Sicherheit, denen zwanzig Per¬
sonen zum Opfer fielen, und in Kostroma, dem Zentrum der russischen Textil


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[0293] Der Weltkrieg und die Streitbewegung in Europa unter den fortwährenden Arbeitskämpfen besonders schwer leiden, versucht, sich auf eine recht seltsame Art zu helfen, und zwar dadurch, daß man uniformierte Hafenarbeiterbataillone einrichtete. Die Mannschaften dieser Bataillone erhalten einen Zioillohn von mindestens 35 Schilling pro Woche, der von den Unternehmern den Behörden zurückerstattet wird, sowie ferner von den letzteren 7 Schilling Soldatengeld und freie Uniform. Aber auch dieses Abhilfemittelchen, welches einer gewissen Anziehung auf kleinere Teile der Arbeiterschaft nicht entbehrte, hat natürlich nicht vermocht, die unter den Hafenarbeitern herrschende Unzufriedenheit zu beseitigen. Auch Fälle von Sabotage, d. h. die mutwillige Zerstörung öffentlichen und privaten Eigentums seitens der Streitenden, wurden berichtet. Nach Mitteilungen von „Daily Graphic" vom Juni 1915 herrschte in den Zentren der Baumwollindustrie von Oldham und Lancashire eine außerordentliche Erbitterung in den Arbeiterkreisen: die in diesen Textilbezirken ausgebrochenen zahlreichen Brände, denen eine ganze Anzahl von Spinnereien und Webereien sowie mehrere Baumwollager zum Opfer gefallen sind, sollen von den streikenden Arbeitern angelegt worden sein. Auch im Jahre 1916 hat nun die Streitbewegung in England nicht nach¬ gelassen. Nach einer Erklärung von Lloyd George ist die englische Munitions¬ erzeugung im März 1916 infolge der Arbeiterausstände um 28 Prozent geringer als im Januar 1916. Auch unsere anderen Gegner haben betreffs der Arbeiterbewegung ihre Sorgen. So wird beispielsweise in Rußland eine Streitbewegung durch die andere abgelöst. Überhaupt stand das Zarenreich in den letzten Jahren im Zeichen der Arbeiterausstände. Nach einer Veröffentlichung des russischen Handels- und Gewerbeministeriums gab es beispielsweise im Jahre 1913 2404 Streiks politischer und ökonomischer Natur mit 880 096 Streitenden. In den ersten sieben Monaten des Jahres 1914 stieg die Zahl der Streiks bereits auf 4098, an denen 1494 284 Personen beteiligt waren. In der Kriegszeit ist nun die Ausstandsbewegung nicht zum Stillstand gekommen und zwar trotz aller Maßnahmen der russischen Regierung. Nach Mitteilungen der schwedischen Zeitung „Stormklokkan" fanden im April 1915 Proteststreiks größeren Stils zur Erinnerung an die Lenavorgänge in verschiedenen Teilen Rußlands statt. Mit dem Feldruf: „Der Bürgerkrieg ist die Parole der revolutionären Sozialdemokratie in diesem historischen Augenblick!" wurden diese Massenbewegungen eingeleitet. Am 1. Mai 1915 streikten in Petersburg 35000 Arbeiter mit der Parole: „Nieder mit dem Kriege!" Im Juni 1915 brach wiederum in Petersburg und zwar unter den Metallarbeitern ein Streik aus, der 15000 Mann umfaßte und wobei die Sabotage in weitesten Umfange angewendet wurde. In demselben Monat brachen mehrere Streiks im Innern Rußlands aus. In Moskau kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen den Streitenden und den Organen der öffentlichen Sicherheit, denen zwanzig Per¬ sonen zum Opfer fielen, und in Kostroma, dem Zentrum der russischen Textil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/293>, abgerufen am 27.07.2024.