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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht

den Louis Veuillot sin halbes Jahrhundert geleitet hat. Dem offiziellen
"Moniteur" leisteten ministerielle Blätter wie der "Publiciste" und "Etoile"
freiwillige Handlangerdienste, den politischen Radikalismus verfochten der "Etat",
den Sozialismus die "Röforme". Weit größer als der geistige Machtbereich
dieser Blätter war der Einfluß des "Journal des D6half". Schon während der
ersten Staatsumwälzung am 29. August 1789 hatte der Rechtsanwalt Gauttier
de Biauzat aus Clermont die Zeitung als kleines Winkelblüttchen erscheinen
lassen. Aber erst 1799, als es durch Kauf in den Besitz der Brüder
Bertin gelangte, entfaltete es sich zu voller Blüte. Unter Napoleon mußte es
den Namen "Journal de l'Empire" annehmen, es wurde der Familie Bertin
entrissen und einer Gesellschaft von Aktionären übergeben, kehrte aber 1814
wieder in den Besitz der berühmten Journalistenfamilie zurück und stieg nun
zu einem leitenden Organ der Nation empor, das in gemäßigter Form eine
königstreue Gesinnung vertrat und sich durch einen überlegenen, akademischen
Ton weithin Ansehen verschafft. Nur die 1839 von Emile de Girardin ge¬
gründete Zeitung "La Presse" und der 1854 von Henri de Villemessant ins
Leben gerufene "Figaro" konnten sich zeitweilig an Beliebtheit und Bedeutung
mit dem "Journal des Döbats" messen.

Der telegraphische Nachrichtendienst für die französische Presse hat sich erst
während der fünfziger Jahre regelrecht ausgestaltet, als Charles Havas das
von seinem Vater im Jahre 1840 eröffnete Bureau für Übersetzungen zu einem
Depeschenbureau "Agence Havas" erweiterte, das 1879 in eine Aktiengesellschaft
umgewandelt wurde.

Unter dem zweiten Kaiserreich beginnt der Niedergang der französischen
Presse. Wie konnte ein Regiment, das die Geister entnervte und die Gewissen
stumm machte, eine Presse ertragen, die eine freimütige Sprecherin und Stimm-
führerin der öffentlichen Meinung war. Die großen Zeitungen gingen jetzt
mehr und mehr zurück, neue Gründungen, wie die des "Temps", des "Gaulois",
des "Petit Journal" machten ihnen den Rang streitig. Die sogenannte kleine
Presse trat jetzt in den Vordergrund und unterhielt die Gesellschaft mit pikanten
Schilderungen der Tagesneuigkeiten, der Klatsch machte sich breit, der Journa¬
lismus zeigte eine vollendete Fertigkeit, das Verfaulte zu parfümieren und
für den Gaumen des reichen Pöbels schmackhaft zu machen. "Heutzutage" --
so klagte Rigaud am 23. Oktober 1858 im Journal des Döbats -- "heutzutage
sind die Zeitungen Bulletins, Ephemeriden, Anzeigen; man liest sie, um die
Ereignisse des vorigen Tages, den Titel des neuen Stückes, den Kurs der
Rente zu erfahren. Sie versammeln um sich eine Menge Müßiggänger, die
mit Behagen beobachten, wie sie in der Mitte der Klippen einhertreiben, ähnlich
wie die Wanderer am Meeresstrand mit dem Blick die Barken im Sturm ver¬
folgen". Und Claude Tillier schrieb: "Es gibt auf dem Gebiete der Kunst
nur etwas, was man den kulinarischen Leistungen vergleichen kann, nämlich die
Leistungen des heutigen Journalismus. Und dabei ist doch noch ein Unterschied:


Die Entwicklung der französischen Presse zur Weltmacht

den Louis Veuillot sin halbes Jahrhundert geleitet hat. Dem offiziellen
„Moniteur" leisteten ministerielle Blätter wie der „Publiciste" und „Etoile"
freiwillige Handlangerdienste, den politischen Radikalismus verfochten der „Etat",
den Sozialismus die „Röforme". Weit größer als der geistige Machtbereich
dieser Blätter war der Einfluß des „Journal des D6half". Schon während der
ersten Staatsumwälzung am 29. August 1789 hatte der Rechtsanwalt Gauttier
de Biauzat aus Clermont die Zeitung als kleines Winkelblüttchen erscheinen
lassen. Aber erst 1799, als es durch Kauf in den Besitz der Brüder
Bertin gelangte, entfaltete es sich zu voller Blüte. Unter Napoleon mußte es
den Namen „Journal de l'Empire" annehmen, es wurde der Familie Bertin
entrissen und einer Gesellschaft von Aktionären übergeben, kehrte aber 1814
wieder in den Besitz der berühmten Journalistenfamilie zurück und stieg nun
zu einem leitenden Organ der Nation empor, das in gemäßigter Form eine
königstreue Gesinnung vertrat und sich durch einen überlegenen, akademischen
Ton weithin Ansehen verschafft. Nur die 1839 von Emile de Girardin ge¬
gründete Zeitung „La Presse" und der 1854 von Henri de Villemessant ins
Leben gerufene „Figaro" konnten sich zeitweilig an Beliebtheit und Bedeutung
mit dem „Journal des Döbats" messen.

Der telegraphische Nachrichtendienst für die französische Presse hat sich erst
während der fünfziger Jahre regelrecht ausgestaltet, als Charles Havas das
von seinem Vater im Jahre 1840 eröffnete Bureau für Übersetzungen zu einem
Depeschenbureau „Agence Havas" erweiterte, das 1879 in eine Aktiengesellschaft
umgewandelt wurde.

Unter dem zweiten Kaiserreich beginnt der Niedergang der französischen
Presse. Wie konnte ein Regiment, das die Geister entnervte und die Gewissen
stumm machte, eine Presse ertragen, die eine freimütige Sprecherin und Stimm-
führerin der öffentlichen Meinung war. Die großen Zeitungen gingen jetzt
mehr und mehr zurück, neue Gründungen, wie die des „Temps", des „Gaulois",
des „Petit Journal" machten ihnen den Rang streitig. Die sogenannte kleine
Presse trat jetzt in den Vordergrund und unterhielt die Gesellschaft mit pikanten
Schilderungen der Tagesneuigkeiten, der Klatsch machte sich breit, der Journa¬
lismus zeigte eine vollendete Fertigkeit, das Verfaulte zu parfümieren und
für den Gaumen des reichen Pöbels schmackhaft zu machen. „Heutzutage" —
so klagte Rigaud am 23. Oktober 1858 im Journal des Döbats — „heutzutage
sind die Zeitungen Bulletins, Ephemeriden, Anzeigen; man liest sie, um die
Ereignisse des vorigen Tages, den Titel des neuen Stückes, den Kurs der
Rente zu erfahren. Sie versammeln um sich eine Menge Müßiggänger, die
mit Behagen beobachten, wie sie in der Mitte der Klippen einhertreiben, ähnlich
wie die Wanderer am Meeresstrand mit dem Blick die Barken im Sturm ver¬
folgen". Und Claude Tillier schrieb: „Es gibt auf dem Gebiete der Kunst
nur etwas, was man den kulinarischen Leistungen vergleichen kann, nämlich die
Leistungen des heutigen Journalismus. Und dabei ist doch noch ein Unterschied:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/26>, abgerufen am 22.12.2024.