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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Ueber Heeresznhlen alter und neuer Zeit

bloß mit Heuschreckenschwärmen vergleichbar; ihr gewaltigster Heerführer und
Staatsbildner, der Völkervernichter Tschinghiz-ehalt, soll gleichzeitig Heere von
insgesamt 600 000 Kriegern im Felde gehabt und sein Enkel Batu im Jahre 1241
2/2 Million über die Karpathen in die ungarische Tiefebene geführt haben;
umstellt und geschlagen fielen die Ungarn nach den Worten eines gleichzeitigen
Geschichtsschreibers wie Blätter beim Eintritt des Winters, ihre Leichen
bedeckten den ganzen Weg, und ihr Blut floß gleich einem Bergstrom dahin.
Der türkische Name wurde der Schrecken des christlichen Abendlandes, als 1396
bei Nikopolis an der Donau in Bulgarien ein großes Ritterheer unter der
Führung des späteren deutschen Kaisers Sigismund eine vernichtende Nieder¬
lage durch Bajazid den "Blitz" erlitt, dessen übermächtige Massen auf 200 bis
400 000 Mann beziffert wurden. Wahrscheinlich waren aber beide Heere
gleich groß und die beträchtliche Menge des sie begleitenden unbrauchbaren
Gesindels abgerechnet noch nicht 20 000 Man stark.

Im Verlauf der Geschichte der Neuzeit hören die groben Übertreibungen
wehr und mehr auf. Allerdings die Türkenheere bleiben wie sie waren;
"Barbarenheere" müssen eben immer riesenhaft fein. An dem Heereszug, mit dem
Kam Mustafa 1683 Mitteleuropa ins Herz zu treffen gedachte, nahmen
nach später angeblich gefundenen Listen 230000 reguläre Truppen teil, ohne
die zahlreichen Scharen der Hilfsvölker und den ungeheuren Troß. Vor Wien
soll dies Heer nur 50000 weniger gezählt, also noch immer eine ganz
gewaltige Übermacht dargestellt haben gegenüber dem Entsatzheer unter dem
Polenkönig Johann Sobiesky. das mit 84000 Mann doch auch schon die
gewöhnliche Heeresstärke weit übertraf. Diese letztere Zahl ist aber vielleicht
ziemlich richtig. Im Vergleich zu ihr erwecken beispielsweise stärkeren Zweifel
die 100000 Mann, mit welchen Wallenstein nach einem volkstümlichen Worte
Stralsund vom Himmel herabholen wollte, auch wenn es mit Ketten daran gebunden
wäre, ebenso die 120 000 Russen, die 1709 bei Pultawa über kaum 20000
Schweden gesiegt haben sollen, die 80--90000 Österreicher bei Leuthen, und
manche andere Heereszahl dieser Zeit.

Die Durchschnittsgröße normaler Heere bewegte sich in den ersten drei
Jahrhunderten der Neuzeit wie vor länger als 2000 Jahren zwischen 30000
und 60000. Friedrich der Große verfügte zu Beginn des siebenjährigen
Krieges über 160000 Mann; beisammen hatte er diese Truppenzahl niemals,
nur ganz wenige Male etwa 60000 Mann, eine Zahl, die auch seine Gegner
selten erreichten, noch seltener überschritten. Bei den Römern betrug die Heeres¬
stärke unter gewöhnlichen Verhältnissen rund 40000 Mann. Im zweiten
punischen Kriege, der erhöhte Anforderungen stellte, hatten sie zeitweise zu¬
sammen mehr als 100000 unter Waffen; die Höchstzahl, die sie in diesem
Kriege einmal (bei Kanna 216 v. Chr.) zur Schlacht führten, betrug 60 bis
70000 Streiter. Höher ist, abgesehen allerdings von dem riesig angewachsenen
Troß, auch Cäsar nicht gekommen, zudem auch nur vorübergehend in Gallien.


Ueber Heeresznhlen alter und neuer Zeit

bloß mit Heuschreckenschwärmen vergleichbar; ihr gewaltigster Heerführer und
Staatsbildner, der Völkervernichter Tschinghiz-ehalt, soll gleichzeitig Heere von
insgesamt 600 000 Kriegern im Felde gehabt und sein Enkel Batu im Jahre 1241
2/2 Million über die Karpathen in die ungarische Tiefebene geführt haben;
umstellt und geschlagen fielen die Ungarn nach den Worten eines gleichzeitigen
Geschichtsschreibers wie Blätter beim Eintritt des Winters, ihre Leichen
bedeckten den ganzen Weg, und ihr Blut floß gleich einem Bergstrom dahin.
Der türkische Name wurde der Schrecken des christlichen Abendlandes, als 1396
bei Nikopolis an der Donau in Bulgarien ein großes Ritterheer unter der
Führung des späteren deutschen Kaisers Sigismund eine vernichtende Nieder¬
lage durch Bajazid den „Blitz" erlitt, dessen übermächtige Massen auf 200 bis
400 000 Mann beziffert wurden. Wahrscheinlich waren aber beide Heere
gleich groß und die beträchtliche Menge des sie begleitenden unbrauchbaren
Gesindels abgerechnet noch nicht 20 000 Man stark.

Im Verlauf der Geschichte der Neuzeit hören die groben Übertreibungen
wehr und mehr auf. Allerdings die Türkenheere bleiben wie sie waren;
„Barbarenheere" müssen eben immer riesenhaft fein. An dem Heereszug, mit dem
Kam Mustafa 1683 Mitteleuropa ins Herz zu treffen gedachte, nahmen
nach später angeblich gefundenen Listen 230000 reguläre Truppen teil, ohne
die zahlreichen Scharen der Hilfsvölker und den ungeheuren Troß. Vor Wien
soll dies Heer nur 50000 weniger gezählt, also noch immer eine ganz
gewaltige Übermacht dargestellt haben gegenüber dem Entsatzheer unter dem
Polenkönig Johann Sobiesky. das mit 84000 Mann doch auch schon die
gewöhnliche Heeresstärke weit übertraf. Diese letztere Zahl ist aber vielleicht
ziemlich richtig. Im Vergleich zu ihr erwecken beispielsweise stärkeren Zweifel
die 100000 Mann, mit welchen Wallenstein nach einem volkstümlichen Worte
Stralsund vom Himmel herabholen wollte, auch wenn es mit Ketten daran gebunden
wäre, ebenso die 120 000 Russen, die 1709 bei Pultawa über kaum 20000
Schweden gesiegt haben sollen, die 80—90000 Österreicher bei Leuthen, und
manche andere Heereszahl dieser Zeit.

Die Durchschnittsgröße normaler Heere bewegte sich in den ersten drei
Jahrhunderten der Neuzeit wie vor länger als 2000 Jahren zwischen 30000
und 60000. Friedrich der Große verfügte zu Beginn des siebenjährigen
Krieges über 160000 Mann; beisammen hatte er diese Truppenzahl niemals,
nur ganz wenige Male etwa 60000 Mann, eine Zahl, die auch seine Gegner
selten erreichten, noch seltener überschritten. Bei den Römern betrug die Heeres¬
stärke unter gewöhnlichen Verhältnissen rund 40000 Mann. Im zweiten
punischen Kriege, der erhöhte Anforderungen stellte, hatten sie zeitweise zu¬
sammen mehr als 100000 unter Waffen; die Höchstzahl, die sie in diesem
Kriege einmal (bei Kanna 216 v. Chr.) zur Schlacht führten, betrug 60 bis
70000 Streiter. Höher ist, abgesehen allerdings von dem riesig angewachsenen
Troß, auch Cäsar nicht gekommen, zudem auch nur vorübergehend in Gallien.


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[0225] Ueber Heeresznhlen alter und neuer Zeit bloß mit Heuschreckenschwärmen vergleichbar; ihr gewaltigster Heerführer und Staatsbildner, der Völkervernichter Tschinghiz-ehalt, soll gleichzeitig Heere von insgesamt 600 000 Kriegern im Felde gehabt und sein Enkel Batu im Jahre 1241 2/2 Million über die Karpathen in die ungarische Tiefebene geführt haben; umstellt und geschlagen fielen die Ungarn nach den Worten eines gleichzeitigen Geschichtsschreibers wie Blätter beim Eintritt des Winters, ihre Leichen bedeckten den ganzen Weg, und ihr Blut floß gleich einem Bergstrom dahin. Der türkische Name wurde der Schrecken des christlichen Abendlandes, als 1396 bei Nikopolis an der Donau in Bulgarien ein großes Ritterheer unter der Führung des späteren deutschen Kaisers Sigismund eine vernichtende Nieder¬ lage durch Bajazid den „Blitz" erlitt, dessen übermächtige Massen auf 200 bis 400 000 Mann beziffert wurden. Wahrscheinlich waren aber beide Heere gleich groß und die beträchtliche Menge des sie begleitenden unbrauchbaren Gesindels abgerechnet noch nicht 20 000 Man stark. Im Verlauf der Geschichte der Neuzeit hören die groben Übertreibungen wehr und mehr auf. Allerdings die Türkenheere bleiben wie sie waren; „Barbarenheere" müssen eben immer riesenhaft fein. An dem Heereszug, mit dem Kam Mustafa 1683 Mitteleuropa ins Herz zu treffen gedachte, nahmen nach später angeblich gefundenen Listen 230000 reguläre Truppen teil, ohne die zahlreichen Scharen der Hilfsvölker und den ungeheuren Troß. Vor Wien soll dies Heer nur 50000 weniger gezählt, also noch immer eine ganz gewaltige Übermacht dargestellt haben gegenüber dem Entsatzheer unter dem Polenkönig Johann Sobiesky. das mit 84000 Mann doch auch schon die gewöhnliche Heeresstärke weit übertraf. Diese letztere Zahl ist aber vielleicht ziemlich richtig. Im Vergleich zu ihr erwecken beispielsweise stärkeren Zweifel die 100000 Mann, mit welchen Wallenstein nach einem volkstümlichen Worte Stralsund vom Himmel herabholen wollte, auch wenn es mit Ketten daran gebunden wäre, ebenso die 120 000 Russen, die 1709 bei Pultawa über kaum 20000 Schweden gesiegt haben sollen, die 80—90000 Österreicher bei Leuthen, und manche andere Heereszahl dieser Zeit. Die Durchschnittsgröße normaler Heere bewegte sich in den ersten drei Jahrhunderten der Neuzeit wie vor länger als 2000 Jahren zwischen 30000 und 60000. Friedrich der Große verfügte zu Beginn des siebenjährigen Krieges über 160000 Mann; beisammen hatte er diese Truppenzahl niemals, nur ganz wenige Male etwa 60000 Mann, eine Zahl, die auch seine Gegner selten erreichten, noch seltener überschritten. Bei den Römern betrug die Heeres¬ stärke unter gewöhnlichen Verhältnissen rund 40000 Mann. Im zweiten punischen Kriege, der erhöhte Anforderungen stellte, hatten sie zeitweise zu¬ sammen mehr als 100000 unter Waffen; die Höchstzahl, die sie in diesem Kriege einmal (bei Kanna 216 v. Chr.) zur Schlacht führten, betrug 60 bis 70000 Streiter. Höher ist, abgesehen allerdings von dem riesig angewachsenen Troß, auch Cäsar nicht gekommen, zudem auch nur vorübergehend in Gallien.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/225>, abgerufen am 28.07.2024.