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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Ueber Heere-zechten alter und neuer Zeit

1^/2 Millionen betragen, d. h. also noch ^ Million mehr, als die Gesamtzahl
der Streiter beträgt, die Xenophon, der Schilderer jenes Zuges und Führer
der Griechen auf ihrem Rückmarsch, auf Grund der Aussagen von Überläufern
und Gefangenen für die von Artaxerxes gegen seinen Bruder aufgebotenen
Heere angibt. Richtig wird doch wohl nur sein, daß man zwar allenthalben
mit Riesenzahlen rechnete, aber dementsprechende Heere auch im Orient nirgends
und niemals hatte, natürlich erst recht nicht später beim Untergang der Perser-
Herrschaft; gewiß hat Alexander mit 35--45000 Mann ein Weltreich erobert,
das fünfzigmal größer war als Mazedonien, aber nicht Heere von 600 000 oder
gar 1000 000 Mann besiegt.

Die größte Heereszahl, von der die geschichtliche Überlieferung überhaupt
weiß, nämlich 5 100 000 Streiter, gibt die Lübecker Chronik der polnisch¬
litauischen Übermacht, der im Jahre 1410 bei Tannenberg der Deutsche Orden
erlag. Gerade diese Schlacht ist ein lehrreiches Beispiel, wie wertlos unter
Umständen Schlachtberichtc im allgemeinen und die Angaben von Heereszahlen
im besonderen sein können. Nach einer wichtigen französischen Quellenschrift
der Zeit siel der Hochmeister von Preußen mit 300 000 Streitern in Litauen
ein. Ein Heer von 400 000 Litauern und Sarmaten trat ihm entgegen und
wurde so geschlagen, daß 36 000 Mann fielen, wogegen die Christen außer
vielen Verwundeten nur 200 Tote hatten. Acht Tage später kam es an der¬
selben Stelle zu einem neuen Kampfe, nachdem inzwischen das geschlagene
Heer durch die vom Polenkönig zu Hilfe herangeführten Scharen auf 600 000
angewachsen war. Das Ordensheer wurde besiegt, der Hochmeister fiel, und
es blieben auf dem Platze wohl 60 000 Tote oder mehr. So der französische
Bericht, der an Einfalt den Herodot ein gut Stück übertrifft. Wie groß die
beiden Heere in Wirklichkeit gewesen sind, läßt sich auch hier nicht mit Sicher¬
heit feststellen. Delbrttck (Geschichte der Kriegskunst III. Seite 543) schätzt das
Ordensheer auf 11 000, das polnisch-litauische auf 16 500. Mögen beide
größer, mögen sie noch ein- oder zweimal so groß gewesen sein (was freilich
nach mittelalterlichen Möglichkeiten ganz ungewöhnliche Heeresmassen ergeben
würde), immer noch ständen sie weit zurück hinter der kleinsten überlieferten
Zahlenangabe, die für die Deutschen 83 000, für die Polen und Litauer
183 000 beträgt.

Weitere Beispiele offenbarer Übertreibungen, wenn sie auch nicht gleich in
die Millionen gehen, lassen sich mit Leichtigkeit beibringen. Selbst die scheinbar
mäßigeren Ziffern dürften nicht alle, bloß auf den zehnten Teil verkleinert, die
wirkliche Heeresgröße wiedergeben.

Seit Alexanders des Großen Zeit ergossen sich wiederholt keltische Scharen
wie ungestümer Wucht über Südeuropa und weiter, um sich neue Wohnsitze zu
erkämpfen. Nach sicherer Überlieferung zählte der Haufe, der nach Kleinasien
übersetzte und dort das Reich der Galater gründete, 20 000 Menschen, wovon
die Hälfte waffenfähige Männer waren. Möglicherweise war der Haufe, der


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Ueber Heere-zechten alter und neuer Zeit

1^/2 Millionen betragen, d. h. also noch ^ Million mehr, als die Gesamtzahl
der Streiter beträgt, die Xenophon, der Schilderer jenes Zuges und Führer
der Griechen auf ihrem Rückmarsch, auf Grund der Aussagen von Überläufern
und Gefangenen für die von Artaxerxes gegen seinen Bruder aufgebotenen
Heere angibt. Richtig wird doch wohl nur sein, daß man zwar allenthalben
mit Riesenzahlen rechnete, aber dementsprechende Heere auch im Orient nirgends
und niemals hatte, natürlich erst recht nicht später beim Untergang der Perser-
Herrschaft; gewiß hat Alexander mit 35—45000 Mann ein Weltreich erobert,
das fünfzigmal größer war als Mazedonien, aber nicht Heere von 600 000 oder
gar 1000 000 Mann besiegt.

Die größte Heereszahl, von der die geschichtliche Überlieferung überhaupt
weiß, nämlich 5 100 000 Streiter, gibt die Lübecker Chronik der polnisch¬
litauischen Übermacht, der im Jahre 1410 bei Tannenberg der Deutsche Orden
erlag. Gerade diese Schlacht ist ein lehrreiches Beispiel, wie wertlos unter
Umständen Schlachtberichtc im allgemeinen und die Angaben von Heereszahlen
im besonderen sein können. Nach einer wichtigen französischen Quellenschrift
der Zeit siel der Hochmeister von Preußen mit 300 000 Streitern in Litauen
ein. Ein Heer von 400 000 Litauern und Sarmaten trat ihm entgegen und
wurde so geschlagen, daß 36 000 Mann fielen, wogegen die Christen außer
vielen Verwundeten nur 200 Tote hatten. Acht Tage später kam es an der¬
selben Stelle zu einem neuen Kampfe, nachdem inzwischen das geschlagene
Heer durch die vom Polenkönig zu Hilfe herangeführten Scharen auf 600 000
angewachsen war. Das Ordensheer wurde besiegt, der Hochmeister fiel, und
es blieben auf dem Platze wohl 60 000 Tote oder mehr. So der französische
Bericht, der an Einfalt den Herodot ein gut Stück übertrifft. Wie groß die
beiden Heere in Wirklichkeit gewesen sind, läßt sich auch hier nicht mit Sicher¬
heit feststellen. Delbrttck (Geschichte der Kriegskunst III. Seite 543) schätzt das
Ordensheer auf 11 000, das polnisch-litauische auf 16 500. Mögen beide
größer, mögen sie noch ein- oder zweimal so groß gewesen sein (was freilich
nach mittelalterlichen Möglichkeiten ganz ungewöhnliche Heeresmassen ergeben
würde), immer noch ständen sie weit zurück hinter der kleinsten überlieferten
Zahlenangabe, die für die Deutschen 83 000, für die Polen und Litauer
183 000 beträgt.

Weitere Beispiele offenbarer Übertreibungen, wenn sie auch nicht gleich in
die Millionen gehen, lassen sich mit Leichtigkeit beibringen. Selbst die scheinbar
mäßigeren Ziffern dürften nicht alle, bloß auf den zehnten Teil verkleinert, die
wirkliche Heeresgröße wiedergeben.

Seit Alexanders des Großen Zeit ergossen sich wiederholt keltische Scharen
wie ungestümer Wucht über Südeuropa und weiter, um sich neue Wohnsitze zu
erkämpfen. Nach sicherer Überlieferung zählte der Haufe, der nach Kleinasien
übersetzte und dort das Reich der Galater gründete, 20 000 Menschen, wovon
die Hälfte waffenfähige Männer waren. Möglicherweise war der Haufe, der


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[0223] Ueber Heere-zechten alter und neuer Zeit 1^/2 Millionen betragen, d. h. also noch ^ Million mehr, als die Gesamtzahl der Streiter beträgt, die Xenophon, der Schilderer jenes Zuges und Führer der Griechen auf ihrem Rückmarsch, auf Grund der Aussagen von Überläufern und Gefangenen für die von Artaxerxes gegen seinen Bruder aufgebotenen Heere angibt. Richtig wird doch wohl nur sein, daß man zwar allenthalben mit Riesenzahlen rechnete, aber dementsprechende Heere auch im Orient nirgends und niemals hatte, natürlich erst recht nicht später beim Untergang der Perser- Herrschaft; gewiß hat Alexander mit 35—45000 Mann ein Weltreich erobert, das fünfzigmal größer war als Mazedonien, aber nicht Heere von 600 000 oder gar 1000 000 Mann besiegt. Die größte Heereszahl, von der die geschichtliche Überlieferung überhaupt weiß, nämlich 5 100 000 Streiter, gibt die Lübecker Chronik der polnisch¬ litauischen Übermacht, der im Jahre 1410 bei Tannenberg der Deutsche Orden erlag. Gerade diese Schlacht ist ein lehrreiches Beispiel, wie wertlos unter Umständen Schlachtberichtc im allgemeinen und die Angaben von Heereszahlen im besonderen sein können. Nach einer wichtigen französischen Quellenschrift der Zeit siel der Hochmeister von Preußen mit 300 000 Streitern in Litauen ein. Ein Heer von 400 000 Litauern und Sarmaten trat ihm entgegen und wurde so geschlagen, daß 36 000 Mann fielen, wogegen die Christen außer vielen Verwundeten nur 200 Tote hatten. Acht Tage später kam es an der¬ selben Stelle zu einem neuen Kampfe, nachdem inzwischen das geschlagene Heer durch die vom Polenkönig zu Hilfe herangeführten Scharen auf 600 000 angewachsen war. Das Ordensheer wurde besiegt, der Hochmeister fiel, und es blieben auf dem Platze wohl 60 000 Tote oder mehr. So der französische Bericht, der an Einfalt den Herodot ein gut Stück übertrifft. Wie groß die beiden Heere in Wirklichkeit gewesen sind, läßt sich auch hier nicht mit Sicher¬ heit feststellen. Delbrttck (Geschichte der Kriegskunst III. Seite 543) schätzt das Ordensheer auf 11 000, das polnisch-litauische auf 16 500. Mögen beide größer, mögen sie noch ein- oder zweimal so groß gewesen sein (was freilich nach mittelalterlichen Möglichkeiten ganz ungewöhnliche Heeresmassen ergeben würde), immer noch ständen sie weit zurück hinter der kleinsten überlieferten Zahlenangabe, die für die Deutschen 83 000, für die Polen und Litauer 183 000 beträgt. Weitere Beispiele offenbarer Übertreibungen, wenn sie auch nicht gleich in die Millionen gehen, lassen sich mit Leichtigkeit beibringen. Selbst die scheinbar mäßigeren Ziffern dürften nicht alle, bloß auf den zehnten Teil verkleinert, die wirkliche Heeresgröße wiedergeben. Seit Alexanders des Großen Zeit ergossen sich wiederholt keltische Scharen wie ungestümer Wucht über Südeuropa und weiter, um sich neue Wohnsitze zu erkämpfen. Nach sicherer Überlieferung zählte der Haufe, der nach Kleinasien übersetzte und dort das Reich der Galater gründete, 20 000 Menschen, wovon die Hälfte waffenfähige Männer waren. Möglicherweise war der Haufe, der 14"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/223>, abgerufen am 28.07.2024.