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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Bismarck und die italienische Politik

waldigen Politik Italiens Gegner der Besitznahme von Tunis durch Frankreich.
Bismarck suchte in manchem Betracht auf dem Berliner Kongreß Deutschlands
Vorteil in möglichster Wahrnehmung der Interessen Rußlands, um die Gegner¬
schaft Rußlands nicht zu provozieren. England setzte sich in den Besitz der
Insel Cypern, Österreich-Ungarn erwarb Bosnien und die Herzegowina und
Frankreich erhielt durch geheime Vereinbarung^ das Recht, Tunis zu besetzen.
Er hatte nicht den geringsten Grund, sich um die Bestrebungen und Bedürfnisse
Italiens zu kümmern, dessen offizielle auswärtige Politiker mit Österreich und
Deutschland aus Rücksicht auf Frankreich keine reale Verständigung anbahnen
wollten und die durch die mehr oder weniger stillschweigende Duldung der
irredentistischen Bewegung Italien nur schadeten.

So stand Italien in den Jahren von 1878 bis 1881 in völliger Isoliert-
heit. Crispi war immer entschiedener Gegner der Jrredenta; er verurteilte
jegliche irredentistische Bestrebung, deren Vertreter vielfach an den höchsten
Stellen der italienischen Regierung zu finden waren, wie den irrigen Glauben
der Jrredentisten, sie könnten das Trentino und Trieft den Österreichern mit
den Waffen entreißen. Er war der Meinung, daß Italien das größte In¬
teresse daran habe, sich seine natürlichen Grenzen zu erringen, aber er wußte,
daß "für die Regelung dieser Frage nur die Diplomatie zuständig ist, und
daß die Jrredenta nichts anderes erreichen würde, als ihre Lösung ins End¬
lose zu verschleppen."

Wie es das gewaltige und großartige Endziel der auswärtigen Politik des
großen Kanzlers war: dem latenten, seit Jahrhunderten bestehenden Gegensatz
zwischen England und Rußland immer wieder neue Reibungsflächen unter¬
zuschieben, so war es für ihn ein Postulat von nicht minder großer Be¬
deutsamkeit geworden, die ehrgeizigen Bestrebungen der Franzosen von der
Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens abzulenken durch Gewährung materieller
kolonialer Entschädigungen in Nordafrika. In diesem Sinne berichtete schon
am 20. November 1880 der italienische Botschafter in Paris, Cialdini, nach
Rom: "Der vom Fürsten Bismarck aus Europa vertriebene französische Einfluß
hat sich in Afrika festgesetzt, wo keine Gefahr besteht, mit Deutschland zu¬
sammenzustoßen. Es wird uns nicht gelingen, von Frankreich irgendeine
Konzession durch Überredung und durch diplomatische Wendungen zu erreichen.
Das ist seit langer Zeit meine Überzeugung. Die französische Republik weiß
genau, daß diese Politik uns verletzt und uns voneinander entfernt, -- aber es
muß offen gesagt werden, daß sie sich darum nicht kümmert."

Ungeachtet solcher Erklärungen konnte sich die italienische Regierung von
der traditionellen Sympathie für Frankreich nicht entfernen, und war noch im
April 1881 von der Aufrichtigkeit der offiziellen französischen Enthüllungen fest
überzeugt, wonach die französische Regierung "nicht im geringsten an eine
ständige militärische Besetzung und noch viel weniger direkt an eine Annexion
von Tunis denke". Aber Crispi warnte ungehört: "Es hieße die Welt-


Bismarck und die italienische Politik

waldigen Politik Italiens Gegner der Besitznahme von Tunis durch Frankreich.
Bismarck suchte in manchem Betracht auf dem Berliner Kongreß Deutschlands
Vorteil in möglichster Wahrnehmung der Interessen Rußlands, um die Gegner¬
schaft Rußlands nicht zu provozieren. England setzte sich in den Besitz der
Insel Cypern, Österreich-Ungarn erwarb Bosnien und die Herzegowina und
Frankreich erhielt durch geheime Vereinbarung^ das Recht, Tunis zu besetzen.
Er hatte nicht den geringsten Grund, sich um die Bestrebungen und Bedürfnisse
Italiens zu kümmern, dessen offizielle auswärtige Politiker mit Österreich und
Deutschland aus Rücksicht auf Frankreich keine reale Verständigung anbahnen
wollten und die durch die mehr oder weniger stillschweigende Duldung der
irredentistischen Bewegung Italien nur schadeten.

So stand Italien in den Jahren von 1878 bis 1881 in völliger Isoliert-
heit. Crispi war immer entschiedener Gegner der Jrredenta; er verurteilte
jegliche irredentistische Bestrebung, deren Vertreter vielfach an den höchsten
Stellen der italienischen Regierung zu finden waren, wie den irrigen Glauben
der Jrredentisten, sie könnten das Trentino und Trieft den Österreichern mit
den Waffen entreißen. Er war der Meinung, daß Italien das größte In¬
teresse daran habe, sich seine natürlichen Grenzen zu erringen, aber er wußte,
daß „für die Regelung dieser Frage nur die Diplomatie zuständig ist, und
daß die Jrredenta nichts anderes erreichen würde, als ihre Lösung ins End¬
lose zu verschleppen."

Wie es das gewaltige und großartige Endziel der auswärtigen Politik des
großen Kanzlers war: dem latenten, seit Jahrhunderten bestehenden Gegensatz
zwischen England und Rußland immer wieder neue Reibungsflächen unter¬
zuschieben, so war es für ihn ein Postulat von nicht minder großer Be¬
deutsamkeit geworden, die ehrgeizigen Bestrebungen der Franzosen von der
Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens abzulenken durch Gewährung materieller
kolonialer Entschädigungen in Nordafrika. In diesem Sinne berichtete schon
am 20. November 1880 der italienische Botschafter in Paris, Cialdini, nach
Rom: „Der vom Fürsten Bismarck aus Europa vertriebene französische Einfluß
hat sich in Afrika festgesetzt, wo keine Gefahr besteht, mit Deutschland zu¬
sammenzustoßen. Es wird uns nicht gelingen, von Frankreich irgendeine
Konzession durch Überredung und durch diplomatische Wendungen zu erreichen.
Das ist seit langer Zeit meine Überzeugung. Die französische Republik weiß
genau, daß diese Politik uns verletzt und uns voneinander entfernt, — aber es
muß offen gesagt werden, daß sie sich darum nicht kümmert."

Ungeachtet solcher Erklärungen konnte sich die italienische Regierung von
der traditionellen Sympathie für Frankreich nicht entfernen, und war noch im
April 1881 von der Aufrichtigkeit der offiziellen französischen Enthüllungen fest
überzeugt, wonach die französische Regierung „nicht im geringsten an eine
ständige militärische Besetzung und noch viel weniger direkt an eine Annexion
von Tunis denke". Aber Crispi warnte ungehört: „Es hieße die Welt-


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[0208] Bismarck und die italienische Politik waldigen Politik Italiens Gegner der Besitznahme von Tunis durch Frankreich. Bismarck suchte in manchem Betracht auf dem Berliner Kongreß Deutschlands Vorteil in möglichster Wahrnehmung der Interessen Rußlands, um die Gegner¬ schaft Rußlands nicht zu provozieren. England setzte sich in den Besitz der Insel Cypern, Österreich-Ungarn erwarb Bosnien und die Herzegowina und Frankreich erhielt durch geheime Vereinbarung^ das Recht, Tunis zu besetzen. Er hatte nicht den geringsten Grund, sich um die Bestrebungen und Bedürfnisse Italiens zu kümmern, dessen offizielle auswärtige Politiker mit Österreich und Deutschland aus Rücksicht auf Frankreich keine reale Verständigung anbahnen wollten und die durch die mehr oder weniger stillschweigende Duldung der irredentistischen Bewegung Italien nur schadeten. So stand Italien in den Jahren von 1878 bis 1881 in völliger Isoliert- heit. Crispi war immer entschiedener Gegner der Jrredenta; er verurteilte jegliche irredentistische Bestrebung, deren Vertreter vielfach an den höchsten Stellen der italienischen Regierung zu finden waren, wie den irrigen Glauben der Jrredentisten, sie könnten das Trentino und Trieft den Österreichern mit den Waffen entreißen. Er war der Meinung, daß Italien das größte In¬ teresse daran habe, sich seine natürlichen Grenzen zu erringen, aber er wußte, daß „für die Regelung dieser Frage nur die Diplomatie zuständig ist, und daß die Jrredenta nichts anderes erreichen würde, als ihre Lösung ins End¬ lose zu verschleppen." Wie es das gewaltige und großartige Endziel der auswärtigen Politik des großen Kanzlers war: dem latenten, seit Jahrhunderten bestehenden Gegensatz zwischen England und Rußland immer wieder neue Reibungsflächen unter¬ zuschieben, so war es für ihn ein Postulat von nicht minder großer Be¬ deutsamkeit geworden, die ehrgeizigen Bestrebungen der Franzosen von der Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens abzulenken durch Gewährung materieller kolonialer Entschädigungen in Nordafrika. In diesem Sinne berichtete schon am 20. November 1880 der italienische Botschafter in Paris, Cialdini, nach Rom: „Der vom Fürsten Bismarck aus Europa vertriebene französische Einfluß hat sich in Afrika festgesetzt, wo keine Gefahr besteht, mit Deutschland zu¬ sammenzustoßen. Es wird uns nicht gelingen, von Frankreich irgendeine Konzession durch Überredung und durch diplomatische Wendungen zu erreichen. Das ist seit langer Zeit meine Überzeugung. Die französische Republik weiß genau, daß diese Politik uns verletzt und uns voneinander entfernt, — aber es muß offen gesagt werden, daß sie sich darum nicht kümmert." Ungeachtet solcher Erklärungen konnte sich die italienische Regierung von der traditionellen Sympathie für Frankreich nicht entfernen, und war noch im April 1881 von der Aufrichtigkeit der offiziellen französischen Enthüllungen fest überzeugt, wonach die französische Regierung „nicht im geringsten an eine ständige militärische Besetzung und noch viel weniger direkt an eine Annexion von Tunis denke". Aber Crispi warnte ungehört: „Es hieße die Welt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/208>, abgerufen am 28.07.2024.