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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Zum Ariegsausbruch

lichen Meinung sowohl in Rußland wie in Frankreich eine gewisse Rolle gespielt.
Nichts konnte den Gegnern willkommener sein als dieses Extrablatt mit dieser
unrichtigen Nachricht.

Doch nun zu England. Rüchel stellt hier sehr gut die Bemühungen der
französischen Diplomatie, die Engländer nun wirklich auch noch ganz festzukriegen,
denen der deutschen gegenüber, die Neutralität Englands zu erreichen. "Der
Sache nach wußte Frankreich längst, woran es war" -- aber man hatte noch
kein formelles Versprechen. Englands Eintritt in den Krieg erfolgte nach Rüchel
am 2. August dadurch, daß Grey "der französischen Regierung die Hilfe seiner
Flotte zusagte für den Fall eines deutschen Angriffs auf die französische Nord¬
küste" (S. 42). Diese Feststellung ist wichtig für die Tatsache, daß England
nicht wegen der Verletzung der belgischen Neutralität in den Krieg gegangen
ist. Denn damals war ein deutsches Ultimatum an Belgien nicht ergangen.

Die Verhandlungen Deutschlands mit England über eine Neutralität des
letzteren sind bekannt. Deutschland machte das Angebot der Garantie der fran¬
zösischen Integrität, der Integrität der französischen Kolonien, erklärte sich bereit, die
belgische Integrität und ihre NichtVerletzung zu garantieren -- Lichnowski fragte
schließlich an, ob Grey ihm keine Bedingung nennen könnte, unter der England
neutral bleiben wollte. Das war Sir Edward peinlich, denn es zerriß ihm das
Spiel, es zerstörte die Rolle, die er vor dem europäischen Publikum spielen
wollte -- man hatte schon beschlossen, in den Krieg mit einzutreten -- Grey
mußte, an die Wand gedrückt, unbeholfen erwidern: "daß er sich verpflichtet
fühle, endgültig auf diese oder ähnliche Bedingungen hin jede Zusage zu ver¬
weigern, neutral zu bleiben, er könne nur sagen, daß England seine Hände frei
lassen müßte".

Bernard Shaw hat uns in seinem geistreichen "common sense about tus
>var" eine dramatische Beschreibung dieser Szene gegeben. In seinem Kom¬
mentar dazu sagt er: "Die ausschlaggebende Unterhaltung zwischen Sir Edward
Grey und Fürst Lichnowssy ist in der berühmten Ur. 123 (des englischen
Blaubuches) wiedergegeben. Mit den späteren ziemlich kindischen Versuchen,
Ur. 123 durch die Bemerkung abzuschwächen, daß der Fürst nur ein liebens¬
würdiger Mann ohne Bedeutung gewesen sei, der nicht wirklich seinen teuflischen
Souverän vertreten habe, brauche weder ich mich abzugeben, noch sonst irgend
ein ernsthafter Mann. Es ist über allein Zweifel erhaben, daß nach dieser
Unterhaltung Fürst Lichnowsky nichts tun konnte, als dem Kaiser berichten,
daß die Entente, nachdem sie endlich sein kaiserliches Haupt festgekricgt hat. ent¬
schlossen war, es unter keinen Umständen wieder loszulassen und daß es sich
jetzt um einen Kampf bis zum Ende zwischen dem britischen und dem deutschen
Reiche handele. Darauf sagte der Kaiser: Mir sind Deutsche. Gott helfe
uns'. Und als eine Menge verrückter Studenten unter seinen Fenstern nach
dein Kriege schrie, schickte er sie in die Kirche und befahl ihnen zu beten. Seine
Telegramme an den Zaren (deren Weglassung in unserem Pennyblaubuch zum


Zum Ariegsausbruch

lichen Meinung sowohl in Rußland wie in Frankreich eine gewisse Rolle gespielt.
Nichts konnte den Gegnern willkommener sein als dieses Extrablatt mit dieser
unrichtigen Nachricht.

Doch nun zu England. Rüchel stellt hier sehr gut die Bemühungen der
französischen Diplomatie, die Engländer nun wirklich auch noch ganz festzukriegen,
denen der deutschen gegenüber, die Neutralität Englands zu erreichen. „Der
Sache nach wußte Frankreich längst, woran es war" — aber man hatte noch
kein formelles Versprechen. Englands Eintritt in den Krieg erfolgte nach Rüchel
am 2. August dadurch, daß Grey „der französischen Regierung die Hilfe seiner
Flotte zusagte für den Fall eines deutschen Angriffs auf die französische Nord¬
küste" (S. 42). Diese Feststellung ist wichtig für die Tatsache, daß England
nicht wegen der Verletzung der belgischen Neutralität in den Krieg gegangen
ist. Denn damals war ein deutsches Ultimatum an Belgien nicht ergangen.

Die Verhandlungen Deutschlands mit England über eine Neutralität des
letzteren sind bekannt. Deutschland machte das Angebot der Garantie der fran¬
zösischen Integrität, der Integrität der französischen Kolonien, erklärte sich bereit, die
belgische Integrität und ihre NichtVerletzung zu garantieren — Lichnowski fragte
schließlich an, ob Grey ihm keine Bedingung nennen könnte, unter der England
neutral bleiben wollte. Das war Sir Edward peinlich, denn es zerriß ihm das
Spiel, es zerstörte die Rolle, die er vor dem europäischen Publikum spielen
wollte — man hatte schon beschlossen, in den Krieg mit einzutreten — Grey
mußte, an die Wand gedrückt, unbeholfen erwidern: „daß er sich verpflichtet
fühle, endgültig auf diese oder ähnliche Bedingungen hin jede Zusage zu ver¬
weigern, neutral zu bleiben, er könne nur sagen, daß England seine Hände frei
lassen müßte".

Bernard Shaw hat uns in seinem geistreichen „common sense about tus
>var" eine dramatische Beschreibung dieser Szene gegeben. In seinem Kom¬
mentar dazu sagt er: „Die ausschlaggebende Unterhaltung zwischen Sir Edward
Grey und Fürst Lichnowssy ist in der berühmten Ur. 123 (des englischen
Blaubuches) wiedergegeben. Mit den späteren ziemlich kindischen Versuchen,
Ur. 123 durch die Bemerkung abzuschwächen, daß der Fürst nur ein liebens¬
würdiger Mann ohne Bedeutung gewesen sei, der nicht wirklich seinen teuflischen
Souverän vertreten habe, brauche weder ich mich abzugeben, noch sonst irgend
ein ernsthafter Mann. Es ist über allein Zweifel erhaben, daß nach dieser
Unterhaltung Fürst Lichnowsky nichts tun konnte, als dem Kaiser berichten,
daß die Entente, nachdem sie endlich sein kaiserliches Haupt festgekricgt hat. ent¬
schlossen war, es unter keinen Umständen wieder loszulassen und daß es sich
jetzt um einen Kampf bis zum Ende zwischen dem britischen und dem deutschen
Reiche handele. Darauf sagte der Kaiser: Mir sind Deutsche. Gott helfe
uns'. Und als eine Menge verrückter Studenten unter seinen Fenstern nach
dein Kriege schrie, schickte er sie in die Kirche und befahl ihnen zu beten. Seine
Telegramme an den Zaren (deren Weglassung in unserem Pennyblaubuch zum


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/20>, abgerufen am 27.07.2024.