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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Auslese der Begabten

nachweisen können, daß solche Abhängigkeit nicht besteht, dürfen sie aber auf
vererbte Werte, deren Erkennen sehr schwer ist, nicht verzichten. Wer endlich
dem Staate die Pflicht der Zwangsauslese zuschiebt, muß vorher die andere
Frage entscheiden, ob denn die ganze Nation nicht ein viel höheres Interesse
am Stamme einer aufstrebenden Familie, als am Aufstieg eines Einzelwesens
hat. Was das Einzelwesen nicht erreicht, ist vielleicht dem nächsten Geschlechte
vorbehalten; und ein Stamm, der unter Schwierigkeiten den Aufstieg erreicht,
birgt größere Werte für den Staat in sich, als der mühelose Erwerb des
künstlich geförderten Einzelwesens.

Die Theorie von der Zwangsauslese Begabter aufstellen und sie gleich¬
zeitig für absurd halten, ist dasselbe. Die Auslese kann nur ein Aufsuchen zum
Zwecke des unverbindlicher Hinweisens und ein wohlwollendes Beraten der
Eltern sein, die nicht selbst die Fähigkeiten ihrer Kinder erkennen und nicht die
Mittel haben, ihre tüchtigen Kinder sachgemäß ausbilden zu lassen. Spartanische
Erziehungstheorien dagegen passen nicht in eine Welt, der die persönliche Frei¬
heit ein Axiom ist. Eine organisierte Fürsorge für die Begabten und Tüchtigen
darf auch gar nicht mit dem Kindesalter Halt machen. Sie muß die Begabten
noch in späterem Lebensalter beobachten, leiten und fördern, damit sie nicht
untergehen und für die Allgemeinheit nutzlos leben. Sie soll dahin arbeiten,
jederzeit auch allen den begabten und strebsamen Menschen, die das Schicksal
gezwungen hat, ihren Weg anders zu suchen, als es der normale staatliche
Bildungsgang vorschreibt, das Vorwärtskommen zu ermöglichen und zu erleichtern.
Hier gilt es wieder, Vorurteile zu beseitigen und Grenzmauern zu durchbrechen,
die überall hemmend solchen Leuten im Wege stehen. Die Zeiten sind vorbei,
da ein Autodidakt ohne Reifeprüfung und Hochschulbildung "Karriere macht";
heute ist alles sorgsam geregelt, daß ja keiner die Schranken überschreite, die
ihnr durch seine "Papiere", die Zeugnisse und Nachweise mit den Stempel¬
marken, aufgerichtet sind. Früher wählte sich das Genie sein Arbeitsfeld, zu
dem es Begabung und Arbeitsfreude zogen, nach freiem Willen. Heute hat
das ausgebildete Berechtigungswesen Stacheldrahtverhaue zwischen den einzelnen
Ständen und Berufen aufgerichtet, daß es so gut wie unmöglich ist, sie zu
durchbrechen; und gelangt je einer durch eine Lücke in einen anderen Pferch,
so wird er von den Eingesessenen mit allen Mitteln wieder hinausgeschoben.
Bei uns spielen das Einjährige, die Reifeprüfung und das Fachexamen auf
der Hochschule dieselbe Rolle, wie die chinesischen Staatsprüfungen der Man¬
darinen. Wer bei uns etwas können und leisten will, muß die amtlichen
Bescheinigungen darüber besitzen, daß er vor Jahr und Tag einmal dies und
jenes, was mit der Sache selbst garnichts zu tun hat, wußte. Jetzt braucht er
es zwar nicht mehr zu wissen, aber nach den bestehenden Vorschriften muß er
es einmal gewußt haben; denn das heutige Können ist nur dann berechtigt,
wenn ihm ein früheres Wissen vorausgegangen ist.

Unter diesen Umständen hat schon mancher tüchtige Deutsche, der den


Die Auslese der Begabten

nachweisen können, daß solche Abhängigkeit nicht besteht, dürfen sie aber auf
vererbte Werte, deren Erkennen sehr schwer ist, nicht verzichten. Wer endlich
dem Staate die Pflicht der Zwangsauslese zuschiebt, muß vorher die andere
Frage entscheiden, ob denn die ganze Nation nicht ein viel höheres Interesse
am Stamme einer aufstrebenden Familie, als am Aufstieg eines Einzelwesens
hat. Was das Einzelwesen nicht erreicht, ist vielleicht dem nächsten Geschlechte
vorbehalten; und ein Stamm, der unter Schwierigkeiten den Aufstieg erreicht,
birgt größere Werte für den Staat in sich, als der mühelose Erwerb des
künstlich geförderten Einzelwesens.

Die Theorie von der Zwangsauslese Begabter aufstellen und sie gleich¬
zeitig für absurd halten, ist dasselbe. Die Auslese kann nur ein Aufsuchen zum
Zwecke des unverbindlicher Hinweisens und ein wohlwollendes Beraten der
Eltern sein, die nicht selbst die Fähigkeiten ihrer Kinder erkennen und nicht die
Mittel haben, ihre tüchtigen Kinder sachgemäß ausbilden zu lassen. Spartanische
Erziehungstheorien dagegen passen nicht in eine Welt, der die persönliche Frei¬
heit ein Axiom ist. Eine organisierte Fürsorge für die Begabten und Tüchtigen
darf auch gar nicht mit dem Kindesalter Halt machen. Sie muß die Begabten
noch in späterem Lebensalter beobachten, leiten und fördern, damit sie nicht
untergehen und für die Allgemeinheit nutzlos leben. Sie soll dahin arbeiten,
jederzeit auch allen den begabten und strebsamen Menschen, die das Schicksal
gezwungen hat, ihren Weg anders zu suchen, als es der normale staatliche
Bildungsgang vorschreibt, das Vorwärtskommen zu ermöglichen und zu erleichtern.
Hier gilt es wieder, Vorurteile zu beseitigen und Grenzmauern zu durchbrechen,
die überall hemmend solchen Leuten im Wege stehen. Die Zeiten sind vorbei,
da ein Autodidakt ohne Reifeprüfung und Hochschulbildung „Karriere macht";
heute ist alles sorgsam geregelt, daß ja keiner die Schranken überschreite, die
ihnr durch seine „Papiere", die Zeugnisse und Nachweise mit den Stempel¬
marken, aufgerichtet sind. Früher wählte sich das Genie sein Arbeitsfeld, zu
dem es Begabung und Arbeitsfreude zogen, nach freiem Willen. Heute hat
das ausgebildete Berechtigungswesen Stacheldrahtverhaue zwischen den einzelnen
Ständen und Berufen aufgerichtet, daß es so gut wie unmöglich ist, sie zu
durchbrechen; und gelangt je einer durch eine Lücke in einen anderen Pferch,
so wird er von den Eingesessenen mit allen Mitteln wieder hinausgeschoben.
Bei uns spielen das Einjährige, die Reifeprüfung und das Fachexamen auf
der Hochschule dieselbe Rolle, wie die chinesischen Staatsprüfungen der Man¬
darinen. Wer bei uns etwas können und leisten will, muß die amtlichen
Bescheinigungen darüber besitzen, daß er vor Jahr und Tag einmal dies und
jenes, was mit der Sache selbst garnichts zu tun hat, wußte. Jetzt braucht er
es zwar nicht mehr zu wissen, aber nach den bestehenden Vorschriften muß er
es einmal gewußt haben; denn das heutige Können ist nur dann berechtigt,
wenn ihm ein früheres Wissen vorausgegangen ist.

Unter diesen Umständen hat schon mancher tüchtige Deutsche, der den


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[0184] Die Auslese der Begabten nachweisen können, daß solche Abhängigkeit nicht besteht, dürfen sie aber auf vererbte Werte, deren Erkennen sehr schwer ist, nicht verzichten. Wer endlich dem Staate die Pflicht der Zwangsauslese zuschiebt, muß vorher die andere Frage entscheiden, ob denn die ganze Nation nicht ein viel höheres Interesse am Stamme einer aufstrebenden Familie, als am Aufstieg eines Einzelwesens hat. Was das Einzelwesen nicht erreicht, ist vielleicht dem nächsten Geschlechte vorbehalten; und ein Stamm, der unter Schwierigkeiten den Aufstieg erreicht, birgt größere Werte für den Staat in sich, als der mühelose Erwerb des künstlich geförderten Einzelwesens. Die Theorie von der Zwangsauslese Begabter aufstellen und sie gleich¬ zeitig für absurd halten, ist dasselbe. Die Auslese kann nur ein Aufsuchen zum Zwecke des unverbindlicher Hinweisens und ein wohlwollendes Beraten der Eltern sein, die nicht selbst die Fähigkeiten ihrer Kinder erkennen und nicht die Mittel haben, ihre tüchtigen Kinder sachgemäß ausbilden zu lassen. Spartanische Erziehungstheorien dagegen passen nicht in eine Welt, der die persönliche Frei¬ heit ein Axiom ist. Eine organisierte Fürsorge für die Begabten und Tüchtigen darf auch gar nicht mit dem Kindesalter Halt machen. Sie muß die Begabten noch in späterem Lebensalter beobachten, leiten und fördern, damit sie nicht untergehen und für die Allgemeinheit nutzlos leben. Sie soll dahin arbeiten, jederzeit auch allen den begabten und strebsamen Menschen, die das Schicksal gezwungen hat, ihren Weg anders zu suchen, als es der normale staatliche Bildungsgang vorschreibt, das Vorwärtskommen zu ermöglichen und zu erleichtern. Hier gilt es wieder, Vorurteile zu beseitigen und Grenzmauern zu durchbrechen, die überall hemmend solchen Leuten im Wege stehen. Die Zeiten sind vorbei, da ein Autodidakt ohne Reifeprüfung und Hochschulbildung „Karriere macht"; heute ist alles sorgsam geregelt, daß ja keiner die Schranken überschreite, die ihnr durch seine „Papiere", die Zeugnisse und Nachweise mit den Stempel¬ marken, aufgerichtet sind. Früher wählte sich das Genie sein Arbeitsfeld, zu dem es Begabung und Arbeitsfreude zogen, nach freiem Willen. Heute hat das ausgebildete Berechtigungswesen Stacheldrahtverhaue zwischen den einzelnen Ständen und Berufen aufgerichtet, daß es so gut wie unmöglich ist, sie zu durchbrechen; und gelangt je einer durch eine Lücke in einen anderen Pferch, so wird er von den Eingesessenen mit allen Mitteln wieder hinausgeschoben. Bei uns spielen das Einjährige, die Reifeprüfung und das Fachexamen auf der Hochschule dieselbe Rolle, wie die chinesischen Staatsprüfungen der Man¬ darinen. Wer bei uns etwas können und leisten will, muß die amtlichen Bescheinigungen darüber besitzen, daß er vor Jahr und Tag einmal dies und jenes, was mit der Sache selbst garnichts zu tun hat, wußte. Jetzt braucht er es zwar nicht mehr zu wissen, aber nach den bestehenden Vorschriften muß er es einmal gewußt haben; denn das heutige Können ist nur dann berechtigt, wenn ihm ein früheres Wissen vorausgegangen ist. Unter diesen Umständen hat schon mancher tüchtige Deutsche, der den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/184>, abgerufen am 01.09.2024.