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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Zum Kriegsausbruch

der Universität Bern preisgekrönt ist, beschränkt sich darauf, nur das wirklich
Entscheidende zu besprechen. Diese Aufgabe aber ist meisterhaft gelöst. Mit großen
Pinselstrichen sind die entscheidenden Farben dieses Gemäldes lebhaft vor uns
hingestellt. Der Autor lüftete nicht. Er trifft immer ins Schwarze und nennt
das Schwarze schwarz, das Weiße weiß. Hier gibt es keine Spintistererei
darüber, was Sir Edward Grey mit dem einen oder mit dem anderen Worte
gesagt haben könnte. Es wird sogar auf die Geschehnisse der einzelnen Tage
weniger Wert gelegt als darauf, die großen Zusammenhänge der Ereignisse zu
geben, ihren Sinn und ihre treibenden Kräfte aufzuzeigen, den Geist, der die
Verhandlungen durchwehte, zu kennzeichnen.

Der deutschen Diplomatie wird Unzulänglichkeit vorgeworfen, weil sie es
nicht verstanden habe, während der Krise den natürlichen Gegensatz zwischen
England und Rußland praktisch auszunutzen --, allerdings bleibt uns in
diesem einzigen Punkte der Verfasser den Beweis dafür schuldig, worin der
natürliche Gegensatz zwischen Rußland und England in jenen Tagen bestanden
hätte. Wir wissen aus dem oben Gesagten, daß der 29. Juli und vielleicht
auch der 30. die kritischen Tage gewesen sind. Die Haltung, die Großbritannien
in diesen Tagen Deutschland gegenüber einnahm, ermöglichte es der russischen
Regierung, nicht nur ihre Teilmobilmachung am 29. trotz der deutschen
Warnungen anzuordnen, sondern in der Nacht vom 30. zum 31. die Gesamt¬
mobilmachung zu verkünden, obwohl sie durch die Pourtalösschen Erklärungen
genau darüber unterrichtet war, daß dies den Krieg mit Deutschland bedeute.
Buchanan richtete am 31. Juli folgendes Telegramm an Grey:


"Seine Exzellenz (Ssasonow) drückte zum Schlüsse Seiner Majestät
Regierung den tiefgefühlten Dank aus für ihre Anstrengungen zur Rettung
der Lage. Es wäre zum großen Teil ihr Verdienst, wenn der Krieg
vermieden würde. Der Zar, die russische Regierung und das russische
Volk würden die feste Haltung Großbritanniens nie vergessen."

Rüchel bemerkt zu diesem Telegramm: "Diese Sache verdient es unter die Lupe
genommen zu werden. Am 31. Juli, an dem Tage, da Rußland seine all¬
gemeine Mobilisation durchführt und -- wie übrigens schon seit dem 24. Juli --
zum Kriege entschlossen ist, übermittelt Ssasonow der englischen Regierung den
.tiefgefühlten Dank' der russischen Nation und anerkennt damit, daß England
für die russischen Interessen gearbeitet, indem es ,eine feste Haltung' ein¬
genommen habe. In Osterreich erging der Befehl zur allgemeinen Mobilisation
am 1. August morgens; die Kriegserklärung an Rußland folgte erst am
5. August." --

Rüchel hebt also hier selbst das durchaus enge Zusammenarbeiten zwischen
England und Rußland hervor. Er zeigt, wie eigentlich seit dem Beginn der
Krise England eine durchaus einseitige Haltung eingenommen hat. Hatte sich
Grey früher einmal dahin geäußert, daß die englische Regierung, je nachdem
österreich'Ungarns Gründe gegen Serbien stark genug seien, in Belgrad zur


Zum Kriegsausbruch

der Universität Bern preisgekrönt ist, beschränkt sich darauf, nur das wirklich
Entscheidende zu besprechen. Diese Aufgabe aber ist meisterhaft gelöst. Mit großen
Pinselstrichen sind die entscheidenden Farben dieses Gemäldes lebhaft vor uns
hingestellt. Der Autor lüftete nicht. Er trifft immer ins Schwarze und nennt
das Schwarze schwarz, das Weiße weiß. Hier gibt es keine Spintistererei
darüber, was Sir Edward Grey mit dem einen oder mit dem anderen Worte
gesagt haben könnte. Es wird sogar auf die Geschehnisse der einzelnen Tage
weniger Wert gelegt als darauf, die großen Zusammenhänge der Ereignisse zu
geben, ihren Sinn und ihre treibenden Kräfte aufzuzeigen, den Geist, der die
Verhandlungen durchwehte, zu kennzeichnen.

Der deutschen Diplomatie wird Unzulänglichkeit vorgeworfen, weil sie es
nicht verstanden habe, während der Krise den natürlichen Gegensatz zwischen
England und Rußland praktisch auszunutzen —, allerdings bleibt uns in
diesem einzigen Punkte der Verfasser den Beweis dafür schuldig, worin der
natürliche Gegensatz zwischen Rußland und England in jenen Tagen bestanden
hätte. Wir wissen aus dem oben Gesagten, daß der 29. Juli und vielleicht
auch der 30. die kritischen Tage gewesen sind. Die Haltung, die Großbritannien
in diesen Tagen Deutschland gegenüber einnahm, ermöglichte es der russischen
Regierung, nicht nur ihre Teilmobilmachung am 29. trotz der deutschen
Warnungen anzuordnen, sondern in der Nacht vom 30. zum 31. die Gesamt¬
mobilmachung zu verkünden, obwohl sie durch die Pourtalösschen Erklärungen
genau darüber unterrichtet war, daß dies den Krieg mit Deutschland bedeute.
Buchanan richtete am 31. Juli folgendes Telegramm an Grey:


„Seine Exzellenz (Ssasonow) drückte zum Schlüsse Seiner Majestät
Regierung den tiefgefühlten Dank aus für ihre Anstrengungen zur Rettung
der Lage. Es wäre zum großen Teil ihr Verdienst, wenn der Krieg
vermieden würde. Der Zar, die russische Regierung und das russische
Volk würden die feste Haltung Großbritanniens nie vergessen."

Rüchel bemerkt zu diesem Telegramm: „Diese Sache verdient es unter die Lupe
genommen zu werden. Am 31. Juli, an dem Tage, da Rußland seine all¬
gemeine Mobilisation durchführt und — wie übrigens schon seit dem 24. Juli —
zum Kriege entschlossen ist, übermittelt Ssasonow der englischen Regierung den
.tiefgefühlten Dank' der russischen Nation und anerkennt damit, daß England
für die russischen Interessen gearbeitet, indem es ,eine feste Haltung' ein¬
genommen habe. In Osterreich erging der Befehl zur allgemeinen Mobilisation
am 1. August morgens; die Kriegserklärung an Rußland folgte erst am
5. August." —

Rüchel hebt also hier selbst das durchaus enge Zusammenarbeiten zwischen
England und Rußland hervor. Er zeigt, wie eigentlich seit dem Beginn der
Krise England eine durchaus einseitige Haltung eingenommen hat. Hatte sich
Grey früher einmal dahin geäußert, daß die englische Regierung, je nachdem
österreich'Ungarns Gründe gegen Serbien stark genug seien, in Belgrad zur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/16>, abgerufen am 01.09.2024.