Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Nationalkirchliche Phantasien eines Engländers

gegen grobe Verletzungen internationaler Gesetze, gegen scheußliche, zumeist an
katholischen Frauen und Kindern begangene Verbrechen zu protestieren. Ein
zwingender Schluß aus dieser Untätigkeit ist der, daß nicht die Furcht, sich zu
irren, nicht die Rücksicht auf eine mit Recht oder Unrecht angenommene Neu¬
tralität, sondern direktes Interesse an der Zukunft der germanischen Mächte,
besonders Österreichs, der wirkliche Grund für das Friedensgebet und andere
unfreundliche Zeichen war. Nichts, was der Papst von nun an tun kann,
um seine Gleichgültigkeit gegen den Aufschrei der leidenden Menschheit wieder
gutzumachen, nicht einmal in zwölfter Stunde, der Eifer für seine eigene
nationale Sache, kann den beklagenswerten Eindruck verwischen, den seine
Haltung hervorgebracht hat. Seine belgischen und französischen Glaubens¬
genossen werden wahrscheinlich schon in der nächsten Zeit Schritte ergreifen, um
sich von seiner Vormundschaft zu befreien. Wohin werden sie sich wenden?
Nun, der enge Zusammenschluß Frankreichs, Englands und Rußlands und die
zunehmende Wertschätzung der Einrichtungen des letzteren Landes werden sicherlich
auch der russischen Kirche und ihrem Glaubensbekenntnis höhere Bedeutung
verleihen.

Diese Kirche ist nicht neutral geblieben. Hätte sich die russische Kirche
hinter dem Schleier einer opportunistischen Neutralität verborgen, so wäre ein
unmittelbarer deutscher Triumph die notwendige Folge gewesen, denn der
russische Soldat verdankt seine Vaterlandsliebe und seinen Kreuzfahrergeist haupt¬
sächlich dieser Kirche. Die russische Kirche aber vereinigt, wie neuerdings Stephen
Graham, der Berichterstatter der "Times" in Petersburg, der kürzlich nach
England zurückkehrte, auch dem britischen Leser bewiesen hat, Nationalität mit
Katholizität. Sie übt darum einen bemerkenswerten Einfluß auf die große
Mehrheit der Untertanen des Zaren aus.

Die Emanzipation der slawischen Völker von der österreichisch-ungarischen
Herrschaft, unter der sie jetzt schmachten, wird deshalb für die katholische Pro¬
paganda in jenen Ländern ein schwerer Schlag sein. Das haben auch schon
einflußreiche römische Kreise gefürchtet und vorausgesehen. Transsnlvanien, die
Bukowina, Bosnien, die Herzegowina und Dalmatien werden sicherlich, für den
Fall einer österreichischen Niederlage, ein großes Wiederaufflammen der Be¬
geisterung für die Religion des Se. Chrysostomos erleben. Ein größeres
Serbien wird auch eine große Mehrheit griechisch-orthodoxer Serben umfassen,
und der Fall Konstantinopels und der Wiedereinzug des griechischen Patriarchen
in die Hagia Sophia wird die Wiederherstellung der griechisch-orthodoxen Kirche
vollenden und das 1453 durch die Einnahme Konstantinopels gestörte Gleich¬
gewicht der östlichen und westlichen Kirche wiederherstellen.

Im Verein mit der Unzufriedenheit, die die unwürdige Auslegung der
Neutralität seitens des Papstes mit Recht hervorgerufen hat, werden diese Er¬
eignisse auf die despotische Herrschaft der westlichen Kirche einwirken. Eine
Verwerfung des vatikanischen Konzils wäre der erste Schritt, um die römisch-


Nationalkirchliche Phantasien eines Engländers

gegen grobe Verletzungen internationaler Gesetze, gegen scheußliche, zumeist an
katholischen Frauen und Kindern begangene Verbrechen zu protestieren. Ein
zwingender Schluß aus dieser Untätigkeit ist der, daß nicht die Furcht, sich zu
irren, nicht die Rücksicht auf eine mit Recht oder Unrecht angenommene Neu¬
tralität, sondern direktes Interesse an der Zukunft der germanischen Mächte,
besonders Österreichs, der wirkliche Grund für das Friedensgebet und andere
unfreundliche Zeichen war. Nichts, was der Papst von nun an tun kann,
um seine Gleichgültigkeit gegen den Aufschrei der leidenden Menschheit wieder
gutzumachen, nicht einmal in zwölfter Stunde, der Eifer für seine eigene
nationale Sache, kann den beklagenswerten Eindruck verwischen, den seine
Haltung hervorgebracht hat. Seine belgischen und französischen Glaubens¬
genossen werden wahrscheinlich schon in der nächsten Zeit Schritte ergreifen, um
sich von seiner Vormundschaft zu befreien. Wohin werden sie sich wenden?
Nun, der enge Zusammenschluß Frankreichs, Englands und Rußlands und die
zunehmende Wertschätzung der Einrichtungen des letzteren Landes werden sicherlich
auch der russischen Kirche und ihrem Glaubensbekenntnis höhere Bedeutung
verleihen.

Diese Kirche ist nicht neutral geblieben. Hätte sich die russische Kirche
hinter dem Schleier einer opportunistischen Neutralität verborgen, so wäre ein
unmittelbarer deutscher Triumph die notwendige Folge gewesen, denn der
russische Soldat verdankt seine Vaterlandsliebe und seinen Kreuzfahrergeist haupt¬
sächlich dieser Kirche. Die russische Kirche aber vereinigt, wie neuerdings Stephen
Graham, der Berichterstatter der „Times" in Petersburg, der kürzlich nach
England zurückkehrte, auch dem britischen Leser bewiesen hat, Nationalität mit
Katholizität. Sie übt darum einen bemerkenswerten Einfluß auf die große
Mehrheit der Untertanen des Zaren aus.

Die Emanzipation der slawischen Völker von der österreichisch-ungarischen
Herrschaft, unter der sie jetzt schmachten, wird deshalb für die katholische Pro¬
paganda in jenen Ländern ein schwerer Schlag sein. Das haben auch schon
einflußreiche römische Kreise gefürchtet und vorausgesehen. Transsnlvanien, die
Bukowina, Bosnien, die Herzegowina und Dalmatien werden sicherlich, für den
Fall einer österreichischen Niederlage, ein großes Wiederaufflammen der Be¬
geisterung für die Religion des Se. Chrysostomos erleben. Ein größeres
Serbien wird auch eine große Mehrheit griechisch-orthodoxer Serben umfassen,
und der Fall Konstantinopels und der Wiedereinzug des griechischen Patriarchen
in die Hagia Sophia wird die Wiederherstellung der griechisch-orthodoxen Kirche
vollenden und das 1453 durch die Einnahme Konstantinopels gestörte Gleich¬
gewicht der östlichen und westlichen Kirche wiederherstellen.

Im Verein mit der Unzufriedenheit, die die unwürdige Auslegung der
Neutralität seitens des Papstes mit Recht hervorgerufen hat, werden diese Er¬
eignisse auf die despotische Herrschaft der westlichen Kirche einwirken. Eine
Verwerfung des vatikanischen Konzils wäre der erste Schritt, um die römisch-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0078" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329744"/>
          <fw type="header" place="top"> Nationalkirchliche Phantasien eines Engländers</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_196" prev="#ID_195"> gegen grobe Verletzungen internationaler Gesetze, gegen scheußliche, zumeist an<lb/>
katholischen Frauen und Kindern begangene Verbrechen zu protestieren. Ein<lb/>
zwingender Schluß aus dieser Untätigkeit ist der, daß nicht die Furcht, sich zu<lb/>
irren, nicht die Rücksicht auf eine mit Recht oder Unrecht angenommene Neu¬<lb/>
tralität, sondern direktes Interesse an der Zukunft der germanischen Mächte,<lb/>
besonders Österreichs, der wirkliche Grund für das Friedensgebet und andere<lb/>
unfreundliche Zeichen war. Nichts, was der Papst von nun an tun kann,<lb/>
um seine Gleichgültigkeit gegen den Aufschrei der leidenden Menschheit wieder<lb/>
gutzumachen, nicht einmal in zwölfter Stunde, der Eifer für seine eigene<lb/>
nationale Sache, kann den beklagenswerten Eindruck verwischen, den seine<lb/>
Haltung hervorgebracht hat. Seine belgischen und französischen Glaubens¬<lb/>
genossen werden wahrscheinlich schon in der nächsten Zeit Schritte ergreifen, um<lb/>
sich von seiner Vormundschaft zu befreien. Wohin werden sie sich wenden?<lb/>
Nun, der enge Zusammenschluß Frankreichs, Englands und Rußlands und die<lb/>
zunehmende Wertschätzung der Einrichtungen des letzteren Landes werden sicherlich<lb/>
auch der russischen Kirche und ihrem Glaubensbekenntnis höhere Bedeutung<lb/>
verleihen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_197"> Diese Kirche ist nicht neutral geblieben. Hätte sich die russische Kirche<lb/>
hinter dem Schleier einer opportunistischen Neutralität verborgen, so wäre ein<lb/>
unmittelbarer deutscher Triumph die notwendige Folge gewesen, denn der<lb/>
russische Soldat verdankt seine Vaterlandsliebe und seinen Kreuzfahrergeist haupt¬<lb/>
sächlich dieser Kirche. Die russische Kirche aber vereinigt, wie neuerdings Stephen<lb/>
Graham, der Berichterstatter der &#x201E;Times" in Petersburg, der kürzlich nach<lb/>
England zurückkehrte, auch dem britischen Leser bewiesen hat, Nationalität mit<lb/>
Katholizität. Sie übt darum einen bemerkenswerten Einfluß auf die große<lb/>
Mehrheit der Untertanen des Zaren aus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_198"> Die Emanzipation der slawischen Völker von der österreichisch-ungarischen<lb/>
Herrschaft, unter der sie jetzt schmachten, wird deshalb für die katholische Pro¬<lb/>
paganda in jenen Ländern ein schwerer Schlag sein. Das haben auch schon<lb/>
einflußreiche römische Kreise gefürchtet und vorausgesehen. Transsnlvanien, die<lb/>
Bukowina, Bosnien, die Herzegowina und Dalmatien werden sicherlich, für den<lb/>
Fall einer österreichischen Niederlage, ein großes Wiederaufflammen der Be¬<lb/>
geisterung für die Religion des Se. Chrysostomos erleben. Ein größeres<lb/>
Serbien wird auch eine große Mehrheit griechisch-orthodoxer Serben umfassen,<lb/>
und der Fall Konstantinopels und der Wiedereinzug des griechischen Patriarchen<lb/>
in die Hagia Sophia wird die Wiederherstellung der griechisch-orthodoxen Kirche<lb/>
vollenden und das 1453 durch die Einnahme Konstantinopels gestörte Gleich¬<lb/>
gewicht der östlichen und westlichen Kirche wiederherstellen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_199" next="#ID_200"> Im Verein mit der Unzufriedenheit, die die unwürdige Auslegung der<lb/>
Neutralität seitens des Papstes mit Recht hervorgerufen hat, werden diese Er¬<lb/>
eignisse auf die despotische Herrschaft der westlichen Kirche einwirken. Eine<lb/>
Verwerfung des vatikanischen Konzils wäre der erste Schritt, um die römisch-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0078] Nationalkirchliche Phantasien eines Engländers gegen grobe Verletzungen internationaler Gesetze, gegen scheußliche, zumeist an katholischen Frauen und Kindern begangene Verbrechen zu protestieren. Ein zwingender Schluß aus dieser Untätigkeit ist der, daß nicht die Furcht, sich zu irren, nicht die Rücksicht auf eine mit Recht oder Unrecht angenommene Neu¬ tralität, sondern direktes Interesse an der Zukunft der germanischen Mächte, besonders Österreichs, der wirkliche Grund für das Friedensgebet und andere unfreundliche Zeichen war. Nichts, was der Papst von nun an tun kann, um seine Gleichgültigkeit gegen den Aufschrei der leidenden Menschheit wieder gutzumachen, nicht einmal in zwölfter Stunde, der Eifer für seine eigene nationale Sache, kann den beklagenswerten Eindruck verwischen, den seine Haltung hervorgebracht hat. Seine belgischen und französischen Glaubens¬ genossen werden wahrscheinlich schon in der nächsten Zeit Schritte ergreifen, um sich von seiner Vormundschaft zu befreien. Wohin werden sie sich wenden? Nun, der enge Zusammenschluß Frankreichs, Englands und Rußlands und die zunehmende Wertschätzung der Einrichtungen des letzteren Landes werden sicherlich auch der russischen Kirche und ihrem Glaubensbekenntnis höhere Bedeutung verleihen. Diese Kirche ist nicht neutral geblieben. Hätte sich die russische Kirche hinter dem Schleier einer opportunistischen Neutralität verborgen, so wäre ein unmittelbarer deutscher Triumph die notwendige Folge gewesen, denn der russische Soldat verdankt seine Vaterlandsliebe und seinen Kreuzfahrergeist haupt¬ sächlich dieser Kirche. Die russische Kirche aber vereinigt, wie neuerdings Stephen Graham, der Berichterstatter der „Times" in Petersburg, der kürzlich nach England zurückkehrte, auch dem britischen Leser bewiesen hat, Nationalität mit Katholizität. Sie übt darum einen bemerkenswerten Einfluß auf die große Mehrheit der Untertanen des Zaren aus. Die Emanzipation der slawischen Völker von der österreichisch-ungarischen Herrschaft, unter der sie jetzt schmachten, wird deshalb für die katholische Pro¬ paganda in jenen Ländern ein schwerer Schlag sein. Das haben auch schon einflußreiche römische Kreise gefürchtet und vorausgesehen. Transsnlvanien, die Bukowina, Bosnien, die Herzegowina und Dalmatien werden sicherlich, für den Fall einer österreichischen Niederlage, ein großes Wiederaufflammen der Be¬ geisterung für die Religion des Se. Chrysostomos erleben. Ein größeres Serbien wird auch eine große Mehrheit griechisch-orthodoxer Serben umfassen, und der Fall Konstantinopels und der Wiedereinzug des griechischen Patriarchen in die Hagia Sophia wird die Wiederherstellung der griechisch-orthodoxen Kirche vollenden und das 1453 durch die Einnahme Konstantinopels gestörte Gleich¬ gewicht der östlichen und westlichen Kirche wiederherstellen. Im Verein mit der Unzufriedenheit, die die unwürdige Auslegung der Neutralität seitens des Papstes mit Recht hervorgerufen hat, werden diese Er¬ eignisse auf die despotische Herrschaft der westlichen Kirche einwirken. Eine Verwerfung des vatikanischen Konzils wäre der erste Schritt, um die römisch-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/78
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/78>, abgerufen am 15.01.2025.