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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Pitirim

Kirchengemeinde auch wirklich etwas Durchgreifendes getan wird. Dazu ist das
Interesse der wirklich herrschenden Klassen an der Erhaltung des bestehenden
Zustandes zu groß. Und dann hat sich die russische Gesellschaft schon längst
daran gewöhnt, Reformversprechen ihrer Staatsmänner immer recht kühl auf¬
zunehmen. Die Erfahrung hat gelehrt, daß eine solche Auffassung nicht
irrig ist.

Das jetzige Projekt der Reform der orthodoxen Kirchengemeinde, das nicht
Fisch und nicht Fleisch ist, hat bereits seine Geschichte. Im Jahre 1914 hat
es der damalige Oberprokuralor des heiligen Synods, Sabier-Desjatowski, in
die Duma eingebracht. Sein weniger beamtenmäßiger Nachfolger Ssamarin
hatte es wohl im Gefühl seiner Mängel "zwecks Umarbeitung" zurückgezogen.
Der jetzige Oberprokureur Wolshin hält das Sablersche Projekt für durch¬
aus annehmbar und hat es nach dem Sturze Ssamarins zum zweitenmal
in die Duma eingebracht. An dem Sablerschen Projekt ist nur wenig geändert,
der Name "Sabier-Desjatowski" ist in "Wolshin". und "Petersburg" in
"Petrograd" verwandelt. Das ist alles. "Dieses Projekt weicht," wie Pitirim
in seinem Nowoje Wremjaartikel gesagt hat, "bei weitem ab von den ursprüng¬
lichen Richtlinien für die Erneuerung des Gemeindelebens; es schließt die
Gemeindemitglieder fast gänzlich von der Beteiligung an den Dingen aus,
welche die Gemeinde interessieren und beraubt sie vollkommen des Rechtes und
der Möglichkeit, ihre Stimme in den grundlegendsten Fragen des kirchlichen Lebens
hören zu lassen: dem Bestand des Klerus und der Verwendung des kirchlichen Ver-
mögens. Nach der übereinstimmenden Ansicht aller die heilige Kirche und ihre
Heimat liebenden, besonders kompetenten und leidenschaftslosesten Leute, wie
auch der Mitglieder der Reichsduma, dient dieses Projekt, das den Gemeinde¬
mitgliedern alle Rechte aus eine Beteiligung an den wichtigsten Momenten des
Gemeindelebens raubt, in keiner Weise der Wiedergeburt der russischen Heimat
und der Erneuerung des kirchlichen Lebens, sondern dem geraden Gegenteil."

Der Metropolit sieht den einzigen Ausweg in der Durchberatung des
Projekts durch die Reichsduma. Der spröd hinwiederum müsse den Ober¬
prokureur ermächtigen, das Projekt in der Kommission nicht voll und ganz zu
vertreten, sondern in die Verbesserungen, welche die Duma vornimmt, zu
willigen. Allerdings will auch Pitirim nicht allzu weit gehen und diesen
Verbesserungen bestimmte Schranken anweisen, und er scheint hinter den Kulissen
zu bremsen.

In den fortschrittlichen Kreisen, die an sich alle Reformbestrebungen
begrüßen, scheint man eine gewisse Skepsis gegen die Huld des Kirchenfürsten
nicht loswerden zu können. Nach dem planmäßigen Kampf gegen jegliche
Reformen unter der Oberprokuratur Sablers klingen die Erklärungen des Metro¬
politen ein wenig unerwartet. Man fragt sich nicht mit Unrecht, ob Pitirim
wirklich der ehrliche Makler zwischen Regierung und Duma ist, als welcher er
offenbar erscheinen möchte. Der direkte Hinweis auf die Reichsduma, die


Pitirim

Kirchengemeinde auch wirklich etwas Durchgreifendes getan wird. Dazu ist das
Interesse der wirklich herrschenden Klassen an der Erhaltung des bestehenden
Zustandes zu groß. Und dann hat sich die russische Gesellschaft schon längst
daran gewöhnt, Reformversprechen ihrer Staatsmänner immer recht kühl auf¬
zunehmen. Die Erfahrung hat gelehrt, daß eine solche Auffassung nicht
irrig ist.

Das jetzige Projekt der Reform der orthodoxen Kirchengemeinde, das nicht
Fisch und nicht Fleisch ist, hat bereits seine Geschichte. Im Jahre 1914 hat
es der damalige Oberprokuralor des heiligen Synods, Sabier-Desjatowski, in
die Duma eingebracht. Sein weniger beamtenmäßiger Nachfolger Ssamarin
hatte es wohl im Gefühl seiner Mängel „zwecks Umarbeitung" zurückgezogen.
Der jetzige Oberprokureur Wolshin hält das Sablersche Projekt für durch¬
aus annehmbar und hat es nach dem Sturze Ssamarins zum zweitenmal
in die Duma eingebracht. An dem Sablerschen Projekt ist nur wenig geändert,
der Name „Sabier-Desjatowski" ist in „Wolshin". und „Petersburg" in
„Petrograd" verwandelt. Das ist alles. „Dieses Projekt weicht," wie Pitirim
in seinem Nowoje Wremjaartikel gesagt hat, „bei weitem ab von den ursprüng¬
lichen Richtlinien für die Erneuerung des Gemeindelebens; es schließt die
Gemeindemitglieder fast gänzlich von der Beteiligung an den Dingen aus,
welche die Gemeinde interessieren und beraubt sie vollkommen des Rechtes und
der Möglichkeit, ihre Stimme in den grundlegendsten Fragen des kirchlichen Lebens
hören zu lassen: dem Bestand des Klerus und der Verwendung des kirchlichen Ver-
mögens. Nach der übereinstimmenden Ansicht aller die heilige Kirche und ihre
Heimat liebenden, besonders kompetenten und leidenschaftslosesten Leute, wie
auch der Mitglieder der Reichsduma, dient dieses Projekt, das den Gemeinde¬
mitgliedern alle Rechte aus eine Beteiligung an den wichtigsten Momenten des
Gemeindelebens raubt, in keiner Weise der Wiedergeburt der russischen Heimat
und der Erneuerung des kirchlichen Lebens, sondern dem geraden Gegenteil."

Der Metropolit sieht den einzigen Ausweg in der Durchberatung des
Projekts durch die Reichsduma. Der spröd hinwiederum müsse den Ober¬
prokureur ermächtigen, das Projekt in der Kommission nicht voll und ganz zu
vertreten, sondern in die Verbesserungen, welche die Duma vornimmt, zu
willigen. Allerdings will auch Pitirim nicht allzu weit gehen und diesen
Verbesserungen bestimmte Schranken anweisen, und er scheint hinter den Kulissen
zu bremsen.

In den fortschrittlichen Kreisen, die an sich alle Reformbestrebungen
begrüßen, scheint man eine gewisse Skepsis gegen die Huld des Kirchenfürsten
nicht loswerden zu können. Nach dem planmäßigen Kampf gegen jegliche
Reformen unter der Oberprokuratur Sablers klingen die Erklärungen des Metro¬
politen ein wenig unerwartet. Man fragt sich nicht mit Unrecht, ob Pitirim
wirklich der ehrliche Makler zwischen Regierung und Duma ist, als welcher er
offenbar erscheinen möchte. Der direkte Hinweis auf die Reichsduma, die


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[0401] Pitirim Kirchengemeinde auch wirklich etwas Durchgreifendes getan wird. Dazu ist das Interesse der wirklich herrschenden Klassen an der Erhaltung des bestehenden Zustandes zu groß. Und dann hat sich die russische Gesellschaft schon längst daran gewöhnt, Reformversprechen ihrer Staatsmänner immer recht kühl auf¬ zunehmen. Die Erfahrung hat gelehrt, daß eine solche Auffassung nicht irrig ist. Das jetzige Projekt der Reform der orthodoxen Kirchengemeinde, das nicht Fisch und nicht Fleisch ist, hat bereits seine Geschichte. Im Jahre 1914 hat es der damalige Oberprokuralor des heiligen Synods, Sabier-Desjatowski, in die Duma eingebracht. Sein weniger beamtenmäßiger Nachfolger Ssamarin hatte es wohl im Gefühl seiner Mängel „zwecks Umarbeitung" zurückgezogen. Der jetzige Oberprokureur Wolshin hält das Sablersche Projekt für durch¬ aus annehmbar und hat es nach dem Sturze Ssamarins zum zweitenmal in die Duma eingebracht. An dem Sablerschen Projekt ist nur wenig geändert, der Name „Sabier-Desjatowski" ist in „Wolshin". und „Petersburg" in „Petrograd" verwandelt. Das ist alles. „Dieses Projekt weicht," wie Pitirim in seinem Nowoje Wremjaartikel gesagt hat, „bei weitem ab von den ursprüng¬ lichen Richtlinien für die Erneuerung des Gemeindelebens; es schließt die Gemeindemitglieder fast gänzlich von der Beteiligung an den Dingen aus, welche die Gemeinde interessieren und beraubt sie vollkommen des Rechtes und der Möglichkeit, ihre Stimme in den grundlegendsten Fragen des kirchlichen Lebens hören zu lassen: dem Bestand des Klerus und der Verwendung des kirchlichen Ver- mögens. Nach der übereinstimmenden Ansicht aller die heilige Kirche und ihre Heimat liebenden, besonders kompetenten und leidenschaftslosesten Leute, wie auch der Mitglieder der Reichsduma, dient dieses Projekt, das den Gemeinde¬ mitgliedern alle Rechte aus eine Beteiligung an den wichtigsten Momenten des Gemeindelebens raubt, in keiner Weise der Wiedergeburt der russischen Heimat und der Erneuerung des kirchlichen Lebens, sondern dem geraden Gegenteil." Der Metropolit sieht den einzigen Ausweg in der Durchberatung des Projekts durch die Reichsduma. Der spröd hinwiederum müsse den Ober¬ prokureur ermächtigen, das Projekt in der Kommission nicht voll und ganz zu vertreten, sondern in die Verbesserungen, welche die Duma vornimmt, zu willigen. Allerdings will auch Pitirim nicht allzu weit gehen und diesen Verbesserungen bestimmte Schranken anweisen, und er scheint hinter den Kulissen zu bremsen. In den fortschrittlichen Kreisen, die an sich alle Reformbestrebungen begrüßen, scheint man eine gewisse Skepsis gegen die Huld des Kirchenfürsten nicht loswerden zu können. Nach dem planmäßigen Kampf gegen jegliche Reformen unter der Oberprokuratur Sablers klingen die Erklärungen des Metro¬ politen ein wenig unerwartet. Man fragt sich nicht mit Unrecht, ob Pitirim wirklich der ehrliche Makler zwischen Regierung und Duma ist, als welcher er offenbar erscheinen möchte. Der direkte Hinweis auf die Reichsduma, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/401>, abgerufen am 15.01.2025.