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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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pitirim

diesen beiden Kirchenfürsten wie er schon einmal, und zwar im Jahre 1896
anläßlich der Krönungsfeierlichkeiten zwischen dem damaligen Petersburger
Metropoliten Paladius und dem Kiewer Metropoliten Johannes ausgetragen
wurde. -- Das "Mißverständnis" wurde damals zugunsten des Petersburger
Kirchenfürsten entschieden. Der jetzige Kiewer Metropolit scheint stärker zu sein.
Alles, was man über seine Persönlichkeit weiß, zeigt ihn uns als moralisch und
geistig gleich hochstehend. Von gut unterrichteter Seite wird versichert, daß
gerade er den Kampf gegen den Alkohol in Rußland aufgenommen hat, und
daß die Initiative des Zaren vor dem Kriege zur Abschaffung des Monopols
auf ihn zurückzuführen ist. Auch er war für Fortschritt in Kirche und Schule,
wollte aber diesen Fortschritt unter gleichzeitiger Unterstützung alles Autoritativen
durchsetzen. So kommt es, daß gerade Wladimir in vielen gutgesinnten Kreisen
in Rußland große Stützen hat. Aber es sollen schon Anzeichen dafür vor¬
handen sein, daß auch er im Kampf mit Pitirim nicht die Oberhand behalten
wird. Man spricht bereits davon, daß der Kiewer Metropolit zum "nicht-
präsidierenden Mitglied des heiligen Synods" ernannt werden -- d. h.: daß
er in seine Eparchie verabschiedet werden wird.

Was wollen nun Pitirim und seine Kreise mit der "Reform der Kirchen¬
gemeinde", vorausgesetzt, daß sie sie überhaupt wirklich wollen?

Die orthodoxe Kirchengemeinde im alten Rußland unterschied sich in ihrer
inneren Organisation und ihrem Charakter nach bedeutend von der jetzigen.

"In unseren Tagen" -- schreibt der "Kökökök" -- "ist die Gemeinde ledig¬
lich eine territoriale Einheit, die sich um ein bestimmtes Gotteshaus schart.
Das allgemeine kirchliche Leben ist äußerst unentwickelt und die ganze Teil¬
nahme der Gemeindemitglieder an dem Gemeindeleben bleibt auf die Wahl
des Kirchenältesten (Starosta) und die Besoldung der Kirchenwächter beschränkt.
Die Tätigkeit der Gemeinde in Fürsorgeangelegenheiten und Brüderschaften ist
eine rein passive (Hergabe von Spenden). Mit anderen Worten: Wenn der
Geistliche die Autorität und Liebe seiner Gemeinde genießt, dann existieren
diese Fürsorgeorganisationen und Brüderschaften und man unterstützt sie durch
Spenden und Opfer, im anderen Falle hingegen bestehen sie nur auf dem
Papier, weil die vorgesetzte Kirchenbehörde die Einrichtung befiehlt und die
Nichtbefolgung dieses Befehls üble Folgen für den Vorsteher der Gemeinde
nach sich zieht."

Die Klagen des Blattes über den Verfall des Kirchenlebens enthalten nichts
Neues, und weil die Not der Kirche in den wirklich religiös interessierten
Kreisen schon lange gefühlt wird, hat es gegeben und gibt es noch Strömungen
innerhalb der Kirche und namentlich eine Bewegung unter der niederen Geist'
lichkeit. die auf Loslösung der Kirche vom Staate und Wiederherstellung des
Patriarchats, wie überhaupt auf Evangelisierung abzielt. Alle Reform¬
bestrebungen sind aber bisher am Widerstande des Staates gescheitert, und es
ist kaum anzunehmen, daß bei der jetzt geplanten Reform der orthodoxen


pitirim

diesen beiden Kirchenfürsten wie er schon einmal, und zwar im Jahre 1896
anläßlich der Krönungsfeierlichkeiten zwischen dem damaligen Petersburger
Metropoliten Paladius und dem Kiewer Metropoliten Johannes ausgetragen
wurde. — Das „Mißverständnis" wurde damals zugunsten des Petersburger
Kirchenfürsten entschieden. Der jetzige Kiewer Metropolit scheint stärker zu sein.
Alles, was man über seine Persönlichkeit weiß, zeigt ihn uns als moralisch und
geistig gleich hochstehend. Von gut unterrichteter Seite wird versichert, daß
gerade er den Kampf gegen den Alkohol in Rußland aufgenommen hat, und
daß die Initiative des Zaren vor dem Kriege zur Abschaffung des Monopols
auf ihn zurückzuführen ist. Auch er war für Fortschritt in Kirche und Schule,
wollte aber diesen Fortschritt unter gleichzeitiger Unterstützung alles Autoritativen
durchsetzen. So kommt es, daß gerade Wladimir in vielen gutgesinnten Kreisen
in Rußland große Stützen hat. Aber es sollen schon Anzeichen dafür vor¬
handen sein, daß auch er im Kampf mit Pitirim nicht die Oberhand behalten
wird. Man spricht bereits davon, daß der Kiewer Metropolit zum „nicht-
präsidierenden Mitglied des heiligen Synods" ernannt werden — d. h.: daß
er in seine Eparchie verabschiedet werden wird.

Was wollen nun Pitirim und seine Kreise mit der „Reform der Kirchen¬
gemeinde", vorausgesetzt, daß sie sie überhaupt wirklich wollen?

Die orthodoxe Kirchengemeinde im alten Rußland unterschied sich in ihrer
inneren Organisation und ihrem Charakter nach bedeutend von der jetzigen.

„In unseren Tagen" — schreibt der „Kökökök" — „ist die Gemeinde ledig¬
lich eine territoriale Einheit, die sich um ein bestimmtes Gotteshaus schart.
Das allgemeine kirchliche Leben ist äußerst unentwickelt und die ganze Teil¬
nahme der Gemeindemitglieder an dem Gemeindeleben bleibt auf die Wahl
des Kirchenältesten (Starosta) und die Besoldung der Kirchenwächter beschränkt.
Die Tätigkeit der Gemeinde in Fürsorgeangelegenheiten und Brüderschaften ist
eine rein passive (Hergabe von Spenden). Mit anderen Worten: Wenn der
Geistliche die Autorität und Liebe seiner Gemeinde genießt, dann existieren
diese Fürsorgeorganisationen und Brüderschaften und man unterstützt sie durch
Spenden und Opfer, im anderen Falle hingegen bestehen sie nur auf dem
Papier, weil die vorgesetzte Kirchenbehörde die Einrichtung befiehlt und die
Nichtbefolgung dieses Befehls üble Folgen für den Vorsteher der Gemeinde
nach sich zieht."

Die Klagen des Blattes über den Verfall des Kirchenlebens enthalten nichts
Neues, und weil die Not der Kirche in den wirklich religiös interessierten
Kreisen schon lange gefühlt wird, hat es gegeben und gibt es noch Strömungen
innerhalb der Kirche und namentlich eine Bewegung unter der niederen Geist'
lichkeit. die auf Loslösung der Kirche vom Staate und Wiederherstellung des
Patriarchats, wie überhaupt auf Evangelisierung abzielt. Alle Reform¬
bestrebungen sind aber bisher am Widerstande des Staates gescheitert, und es
ist kaum anzunehmen, daß bei der jetzt geplanten Reform der orthodoxen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/400>, abgerufen am 15.01.2025.