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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Der geschlossene Hcmdelsstaat Lichtes

viel Geld ins Land ziehen wollte, sind zutreffend gekennzeichnet. Aber die Hilfe
wird nicht von der freien Entfesselung der wirtschaftlichen Kräfte, von der gar
nicht die Rede ist, sondern vom sozialistischen Zwangsstaate erwartet. Ein solches
Werk, dessen Gedanken uns heute so wahlverwandt berühren, als wären die
Schlagworte während des Weltkrieges geschrieben, mußte zur Zeit seines Ent¬
stehens glatt auf den Boden fallen.

Wie konnte ein seiner Zeit so wesensfremdes Werk überhaupt entstehen?
Wohl entstand es wie jedes Gebilde eines Jdealstaates Mit dem Ansprüche,
aus der reinen Vernunft geschöpft zu sein, den Vernunftstaat schlechthin dar¬
zustellen. Doch die geschichtliche Bildung des 19. Jahrhunderts hat uns gelehrt,
daß es weder eine solche reine Vernunft noch Erzeugnisse einer solchen gibt.
Wie alles menschliche Denken zeitlich und örtlich gebunden ist, so erscheint auch
die Politik als Erfahrungswissenschaft, die auf geschichtlicher Überlieferung beruht
und bestimmten Bedürfnissen der Gegenwart entspringt. In diesem Sinne hat
der geschlossene Handelsstaat mit den Zuständen des Jahres 1800 schlechthin
nichts zu tun. Überlieferungen des Altertums und des Mittelalters haben auch
nicht mitgewirkt, der spartanische Stand des Lykurg, an den man allenfalls
denken könnte, von dessen Wirtschaftsleben wir aber viel zu wenig wissen, wird
nicht einmal mit einem Worte erwähnt. Es ist, als habe der Philosoph, der
eigenen Zeit entwurzelt, als Seher die Zukunft vorausgeschaut. Er konnte sich
in der Tat fühlen als ein Bürger derer, die da kommen werden.

Denn schon bald schien die Zeit erfüllt, da der Gedanke Fichtes in dem
Kontinentalsysteme Napoleons verwirklicht werden sollte. Schwerlich hat Napoleon
von dem Vertreter des deutschen Idealismus etwas gewußt. Aber die Taten
der praktischen Politik zeigten doch, daß die Gedanken des Philosophen nicht
so ganz weltfremd waren, wie sie schienen.

Das von Berlin aus am 21. November 1306 erlassene Dekret Napoleons
erklärte die britischen Inseln in Blockadezustand, untersagte allen Handel, Verkehr
und Briefwechsel mit ihnen, erklärte die in irgendeinem von den französischen
Truppen besetzten Lande befindlichen Untertanen für kriegsgefangen, alles Eigen¬
tum englischer Untertanen sowie alle aus England und seinen Kolonien kommenden
Waren für gute Prise und verbot allen Handel mit englischen Waren. England
antwortete mit einer Geheimratsverordnung vom 7. Januar 1807, wodurch allen
neutralen Schiffen das Einlaufen in einen französischen oder unter französischer
Kontrolle stehenden Hafen verboten wurde. Napoleon, der sich inzwischen in
den Besitz der Hansastädte gesetzt hatte, erließ darauf in Warschau ein Dekret
vom 25. Januar 1807. Darin war die Konfiskation sämtlicher in den Hansa¬
städten mit Beschlag belegten englischen Waren ausgesprochen. Die strenge
englische Blockade der Weser, Ems und Elbe und aller Häfen, in die englische
Schiffe nicht einlaufen durften, war die weitere Folge. Außerdem sollte jedes
mit einem französischen Passe ausgerüstete Schiff konfisziert, und nur den Neutralen
der Verkehr zwischen den feindlichen Kolonien und ihrem Vaterlande erlaubt


Der geschlossene Hcmdelsstaat Lichtes

viel Geld ins Land ziehen wollte, sind zutreffend gekennzeichnet. Aber die Hilfe
wird nicht von der freien Entfesselung der wirtschaftlichen Kräfte, von der gar
nicht die Rede ist, sondern vom sozialistischen Zwangsstaate erwartet. Ein solches
Werk, dessen Gedanken uns heute so wahlverwandt berühren, als wären die
Schlagworte während des Weltkrieges geschrieben, mußte zur Zeit seines Ent¬
stehens glatt auf den Boden fallen.

Wie konnte ein seiner Zeit so wesensfremdes Werk überhaupt entstehen?
Wohl entstand es wie jedes Gebilde eines Jdealstaates Mit dem Ansprüche,
aus der reinen Vernunft geschöpft zu sein, den Vernunftstaat schlechthin dar¬
zustellen. Doch die geschichtliche Bildung des 19. Jahrhunderts hat uns gelehrt,
daß es weder eine solche reine Vernunft noch Erzeugnisse einer solchen gibt.
Wie alles menschliche Denken zeitlich und örtlich gebunden ist, so erscheint auch
die Politik als Erfahrungswissenschaft, die auf geschichtlicher Überlieferung beruht
und bestimmten Bedürfnissen der Gegenwart entspringt. In diesem Sinne hat
der geschlossene Handelsstaat mit den Zuständen des Jahres 1800 schlechthin
nichts zu tun. Überlieferungen des Altertums und des Mittelalters haben auch
nicht mitgewirkt, der spartanische Stand des Lykurg, an den man allenfalls
denken könnte, von dessen Wirtschaftsleben wir aber viel zu wenig wissen, wird
nicht einmal mit einem Worte erwähnt. Es ist, als habe der Philosoph, der
eigenen Zeit entwurzelt, als Seher die Zukunft vorausgeschaut. Er konnte sich
in der Tat fühlen als ein Bürger derer, die da kommen werden.

Denn schon bald schien die Zeit erfüllt, da der Gedanke Fichtes in dem
Kontinentalsysteme Napoleons verwirklicht werden sollte. Schwerlich hat Napoleon
von dem Vertreter des deutschen Idealismus etwas gewußt. Aber die Taten
der praktischen Politik zeigten doch, daß die Gedanken des Philosophen nicht
so ganz weltfremd waren, wie sie schienen.

Das von Berlin aus am 21. November 1306 erlassene Dekret Napoleons
erklärte die britischen Inseln in Blockadezustand, untersagte allen Handel, Verkehr
und Briefwechsel mit ihnen, erklärte die in irgendeinem von den französischen
Truppen besetzten Lande befindlichen Untertanen für kriegsgefangen, alles Eigen¬
tum englischer Untertanen sowie alle aus England und seinen Kolonien kommenden
Waren für gute Prise und verbot allen Handel mit englischen Waren. England
antwortete mit einer Geheimratsverordnung vom 7. Januar 1807, wodurch allen
neutralen Schiffen das Einlaufen in einen französischen oder unter französischer
Kontrolle stehenden Hafen verboten wurde. Napoleon, der sich inzwischen in
den Besitz der Hansastädte gesetzt hatte, erließ darauf in Warschau ein Dekret
vom 25. Januar 1807. Darin war die Konfiskation sämtlicher in den Hansa¬
städten mit Beschlag belegten englischen Waren ausgesprochen. Die strenge
englische Blockade der Weser, Ems und Elbe und aller Häfen, in die englische
Schiffe nicht einlaufen durften, war die weitere Folge. Außerdem sollte jedes
mit einem französischen Passe ausgerüstete Schiff konfisziert, und nur den Neutralen
der Verkehr zwischen den feindlichen Kolonien und ihrem Vaterlande erlaubt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/345>, abgerufen am 15.01.2025.