Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.Schleiermacher als Patriot aufrafft. Ohne sein Volk vermag auch der König nichts. Wir beschimpfen Der Geist freudiger Vaterlandsliebe weht auch aus seinen Privatbriefcn. "Ich Schleiermacher als Patriot aufrafft. Ohne sein Volk vermag auch der König nichts. Wir beschimpfen Der Geist freudiger Vaterlandsliebe weht auch aus seinen Privatbriefcn. „Ich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0326" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329994"/> <fw type="header" place="top"> Schleiermacher als Patriot</fw><lb/> <p xml:id="ID_1068" prev="#ID_1067"> aufrafft. Ohne sein Volk vermag auch der König nichts. Wir beschimpfen<lb/> unsere Väter, wenn wir alles dem einen Mann zuschreiben möchten. Es gibt<lb/> eine verfehlte Anhänglichkeit an das, was vergangen ist, und gerade diese<lb/> Pietät ist eine Quelle unseres Unglücks geworden. „Hören sie Mosen und die<lb/> Propheten nicht, so werden sie nicht glauben, ob auch jemand von den Toien<lb/> aufstünde." Ans diesem Pessimismus, der nur in der Vergangenheit die Größe<lb/> sieht, ruft er sein Volk auf zu kräftigem Selbstvertrauen. Gerade die Tags<lb/> des Unglücks zeigen uns jetzt viel Großes und Gutes in unserem Volke, Und<lb/> das ist nicht über Nacht gewachsen. Es war da, aber wir achteten es nicht.<lb/> „Sind diese gegenwärtigen Zeiten der Prüfung schlechter, als die vorigen, wo<lb/> wir ungeprüft nur in der Einbildung größer waren? Oder müssen wir nicht<lb/> gestehen, daß, wie es zuvor einen Reichtum gab, der nur Schein war, so auch<lb/> jetzt einen Verlust, der nur Schein ist?" Reißt er der Feigheit unbarmherzig<lb/> die Maske der Pietät ab, so achtet er ebensowenig den Schein einer neu er¬<lb/> wachten Frömmigkeit, die nur ein Angstprodukt ist. Die Kirchen, die bis dahin<lb/> noch Platz genug hatten, sind jetzt übervoll. Aber der Prediger kann sich nicht<lb/> darüber freuen. Der geringere Zuspruch von gestern und ehegestern konnte als<lb/> Ausdruck größerer Wahrhaftigkeit gelten. Bei ehrlichen Leuten wurde der vor¬<lb/> gebliche Wert kirchlicher Übungen vielfach außer Geltung gesetzt und geleugnet.<lb/> Niemand durste diese deshalb verachten. Jetzt strömt alles Volk herbei. Aber<lb/> die weichliche Stimmung der Seelen und das im Grunde egoistische Trost¬<lb/> bedürfnis wird sich der tieferen Erfassung des Christentums wahrscheinlich eher<lb/> hinderlich erweisen. Ein Feind jedes Pharisäismus, auch des nationalen, lehnt<lb/> er allen falschen, ans Einbildung und Selbstüberschätzung stammenden Trost im<lb/> Elend rücksichtslos ab. Aber er glaubt an eine, durch die sittliche Welt¬<lb/> ordnung garantierte Misston des deutschen Volkes in der Geschichte. Unserem<lb/> Preußenland gehört diese Bestimmung, und über Preußen hinaus dem<lb/> gesamten Deutschland. Es ist der Ton, den wir Fichte in seinen Reden<lb/> an die deutsche Nation anschlagen hörten, der auch aus Schleiermachers<lb/> Predigten klingt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1069" next="#ID_1070"> Der Geist freudiger Vaterlandsliebe weht auch aus seinen Privatbriefcn. „Ich<lb/> freue mich auf den Krieg mit dem Tyrannen", heißt es in einem seiner Briefe<lb/> aus dem Jahre 1806. „Liebe Freundin", so schreibt er ein andermal, „wenn<lb/> dann Ihr König den Gedanken einer ernstlichen Verteidigung faßt, dann fassen<lb/> auch Sie rechten Mut und geben Sie alles hin, um alles zu gewinnen, und<lb/> rechnen Sie alles, was Ihnen erhalten ist, für Gewinn. Bedenken Sie, daß<lb/> kein einzelner bestehen, kein einzelner sich retten kann, daß doch unser aller Leben<lb/> eingewurzelt ist in deutscher Freiheit und deutscher Gesinnung, und diese gilt es.<lb/> Möchten Sie sich wohl irgend eine Gefahr, irgend ein Leiden ersparen für die<lb/> Gewißheit, unser künftiges Geschlecht einer niedrigen Sklaverei Preis gegeben<lb/> zu sehen, und ihm eingeimpft zu sehen die niedrige Gesinnung eines grund¬<lb/> verdorbenen Volkes? Glauben Sie mir, es steht bevor, früher oder später, ein</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0326]
Schleiermacher als Patriot
aufrafft. Ohne sein Volk vermag auch der König nichts. Wir beschimpfen
unsere Väter, wenn wir alles dem einen Mann zuschreiben möchten. Es gibt
eine verfehlte Anhänglichkeit an das, was vergangen ist, und gerade diese
Pietät ist eine Quelle unseres Unglücks geworden. „Hören sie Mosen und die
Propheten nicht, so werden sie nicht glauben, ob auch jemand von den Toien
aufstünde." Ans diesem Pessimismus, der nur in der Vergangenheit die Größe
sieht, ruft er sein Volk auf zu kräftigem Selbstvertrauen. Gerade die Tags
des Unglücks zeigen uns jetzt viel Großes und Gutes in unserem Volke, Und
das ist nicht über Nacht gewachsen. Es war da, aber wir achteten es nicht.
„Sind diese gegenwärtigen Zeiten der Prüfung schlechter, als die vorigen, wo
wir ungeprüft nur in der Einbildung größer waren? Oder müssen wir nicht
gestehen, daß, wie es zuvor einen Reichtum gab, der nur Schein war, so auch
jetzt einen Verlust, der nur Schein ist?" Reißt er der Feigheit unbarmherzig
die Maske der Pietät ab, so achtet er ebensowenig den Schein einer neu er¬
wachten Frömmigkeit, die nur ein Angstprodukt ist. Die Kirchen, die bis dahin
noch Platz genug hatten, sind jetzt übervoll. Aber der Prediger kann sich nicht
darüber freuen. Der geringere Zuspruch von gestern und ehegestern konnte als
Ausdruck größerer Wahrhaftigkeit gelten. Bei ehrlichen Leuten wurde der vor¬
gebliche Wert kirchlicher Übungen vielfach außer Geltung gesetzt und geleugnet.
Niemand durste diese deshalb verachten. Jetzt strömt alles Volk herbei. Aber
die weichliche Stimmung der Seelen und das im Grunde egoistische Trost¬
bedürfnis wird sich der tieferen Erfassung des Christentums wahrscheinlich eher
hinderlich erweisen. Ein Feind jedes Pharisäismus, auch des nationalen, lehnt
er allen falschen, ans Einbildung und Selbstüberschätzung stammenden Trost im
Elend rücksichtslos ab. Aber er glaubt an eine, durch die sittliche Welt¬
ordnung garantierte Misston des deutschen Volkes in der Geschichte. Unserem
Preußenland gehört diese Bestimmung, und über Preußen hinaus dem
gesamten Deutschland. Es ist der Ton, den wir Fichte in seinen Reden
an die deutsche Nation anschlagen hörten, der auch aus Schleiermachers
Predigten klingt.
Der Geist freudiger Vaterlandsliebe weht auch aus seinen Privatbriefcn. „Ich
freue mich auf den Krieg mit dem Tyrannen", heißt es in einem seiner Briefe
aus dem Jahre 1806. „Liebe Freundin", so schreibt er ein andermal, „wenn
dann Ihr König den Gedanken einer ernstlichen Verteidigung faßt, dann fassen
auch Sie rechten Mut und geben Sie alles hin, um alles zu gewinnen, und
rechnen Sie alles, was Ihnen erhalten ist, für Gewinn. Bedenken Sie, daß
kein einzelner bestehen, kein einzelner sich retten kann, daß doch unser aller Leben
eingewurzelt ist in deutscher Freiheit und deutscher Gesinnung, und diese gilt es.
Möchten Sie sich wohl irgend eine Gefahr, irgend ein Leiden ersparen für die
Gewißheit, unser künftiges Geschlecht einer niedrigen Sklaverei Preis gegeben
zu sehen, und ihm eingeimpft zu sehen die niedrige Gesinnung eines grund¬
verdorbenen Volkes? Glauben Sie mir, es steht bevor, früher oder später, ein
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