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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Lriedenszeit

reißen zu können. Der jetzige Krieg beweist aber, daß in der kurzen Friedens-.
zeit, welche der neuen Regierung beschert war, Erstaunliches geleistet worden
ist, uni den Staat gegen weitere Eingriffe widerstandsfähig zu machen.

Die wichtigsten Merkmale der jüngsten französischen Geschichte sind der
dem Anschein nach endgültige Übergang zur republikanischen Staatsform und
der Rückgang der Volksvermehrung. Der einstweilige Sieg der Republik über
die Monarchie dürfte aber weniger darauf zurückzuführen sein, daß die Be-
völkerung so ausgesprochen republikanisch gesinnt ist, als in dem Mangel von
geeigneten monarchischen Prätendenten seinen Grund haben, die auch nur so
viel Geschick und Begabung aufweisen könnten wie Louis Philipp oder Napoleon III.
Das Fehlen einer kräftigen zum Diktator geeigneten Persönlichkeit ließ die
monarchistischen Putschversuche immer harmloser im Sande verlaufen; es sei
hier nur an den letzten bekannt gewordenen von Deroulöde erinnert, der zur
Zeit des Drenfus.Prozesses dem Pferde des Generals Rogier, als er von der Parade
heimkehrte, mit dem Ruf in die Zügel fiel: I' Lh8se, 5 I' Li^hos"! Die
republikanischen Minister verstanden es auch in ihrer großen Mehrheit so gut,
die chauvinistischen Neigungen der Bevölkerung zu befriedigen, daß nicht er¬
sichtlich ist, was ein Diktator hier mehr hätte ausrichten können. Das Urteil
über die dritte Republik bis 1914 läßt sich dahin zusammenfassen, daß sie zum
mindesten ebenso chauvinistisch, korrupt und unsozial wie das zweite Kaiserreich
war. Ein Bestechungsskandal ist dem anderen gefolgt. Es gibt in Frankreich
weder eine Arbeiterversicherung noch eine Einkommensteuer, und die Minister
Poincarö und Delcasseö steuerten ebenso leichtsinnig auf den Krieg hin wie
einst Gramont und Ollivier.*) Das Stagnieren der Bevölkerung bewirkte in der
zweiten Hälfte der vergangenen Epoche einen starken Rückgang der Be¬
deutung Frankreichs als selbständige Großmacht. Zwar konnte es an Stelle
seines im 18. Jahrhundert großenteils an England verloren gegangenen Kolonial¬
reichs ein neues großes schaffen. Doch geschah dies weniger aus eigener Kraft,
als infolge der allgemeinen politischen Lage. Anfangs begünstigte Deutschland
Frankreichs Vorgehen, den algerischen Besitz weiter auszudehnen, um es von
der Revancheidee abzulenken. Später unterstützte England es in seiner nord¬
afrikanischen Politik, um Deutschland von Marokko auszuschließen. Frankreich



-) Vergl. hierzu das treffende Urteil des deutschen Sozialdemokraten Heine, der be¬
kennt, "daß in dem republikanischen Frankreich die Herrschaft des Reichtums größer und
die soziale Fürsorge geringer, die Rechtssicherheit nicht um eine Spur besser, die Politische
Moral in der öffentlichen Meinung und dem Treiben der Fraktionen noch wesentlich schlechter
sei als im monarchischen Deutschland. Auch könne sich der überzeugteste theoretische Republikaner
nicht verhehlen, daß in der demokratischen Republik Frankreich der Wille des Präsidenten
und einiger anderer mit Nußland verschworener Politiker es gewesen sei, was das im
ganzen friedliebende Volk Wider seinen Wunsch in die Charybdis dieses Krieges hineingerissen
habe." (Wolfgang Heine, die Sozialdemokratie im neuen Deutschland, Südd. Monatshefte
Bd. XII, 1. S. 864.)
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Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Lriedenszeit

reißen zu können. Der jetzige Krieg beweist aber, daß in der kurzen Friedens-.
zeit, welche der neuen Regierung beschert war, Erstaunliches geleistet worden
ist, uni den Staat gegen weitere Eingriffe widerstandsfähig zu machen.

Die wichtigsten Merkmale der jüngsten französischen Geschichte sind der
dem Anschein nach endgültige Übergang zur republikanischen Staatsform und
der Rückgang der Volksvermehrung. Der einstweilige Sieg der Republik über
die Monarchie dürfte aber weniger darauf zurückzuführen sein, daß die Be-
völkerung so ausgesprochen republikanisch gesinnt ist, als in dem Mangel von
geeigneten monarchischen Prätendenten seinen Grund haben, die auch nur so
viel Geschick und Begabung aufweisen könnten wie Louis Philipp oder Napoleon III.
Das Fehlen einer kräftigen zum Diktator geeigneten Persönlichkeit ließ die
monarchistischen Putschversuche immer harmloser im Sande verlaufen; es sei
hier nur an den letzten bekannt gewordenen von Deroulöde erinnert, der zur
Zeit des Drenfus.Prozesses dem Pferde des Generals Rogier, als er von der Parade
heimkehrte, mit dem Ruf in die Zügel fiel: I' Lh8se, 5 I' Li^hos"! Die
republikanischen Minister verstanden es auch in ihrer großen Mehrheit so gut,
die chauvinistischen Neigungen der Bevölkerung zu befriedigen, daß nicht er¬
sichtlich ist, was ein Diktator hier mehr hätte ausrichten können. Das Urteil
über die dritte Republik bis 1914 läßt sich dahin zusammenfassen, daß sie zum
mindesten ebenso chauvinistisch, korrupt und unsozial wie das zweite Kaiserreich
war. Ein Bestechungsskandal ist dem anderen gefolgt. Es gibt in Frankreich
weder eine Arbeiterversicherung noch eine Einkommensteuer, und die Minister
Poincarö und Delcasseö steuerten ebenso leichtsinnig auf den Krieg hin wie
einst Gramont und Ollivier.*) Das Stagnieren der Bevölkerung bewirkte in der
zweiten Hälfte der vergangenen Epoche einen starken Rückgang der Be¬
deutung Frankreichs als selbständige Großmacht. Zwar konnte es an Stelle
seines im 18. Jahrhundert großenteils an England verloren gegangenen Kolonial¬
reichs ein neues großes schaffen. Doch geschah dies weniger aus eigener Kraft,
als infolge der allgemeinen politischen Lage. Anfangs begünstigte Deutschland
Frankreichs Vorgehen, den algerischen Besitz weiter auszudehnen, um es von
der Revancheidee abzulenken. Später unterstützte England es in seiner nord¬
afrikanischen Politik, um Deutschland von Marokko auszuschließen. Frankreich



-) Vergl. hierzu das treffende Urteil des deutschen Sozialdemokraten Heine, der be¬
kennt, „daß in dem republikanischen Frankreich die Herrschaft des Reichtums größer und
die soziale Fürsorge geringer, die Rechtssicherheit nicht um eine Spur besser, die Politische
Moral in der öffentlichen Meinung und dem Treiben der Fraktionen noch wesentlich schlechter
sei als im monarchischen Deutschland. Auch könne sich der überzeugteste theoretische Republikaner
nicht verhehlen, daß in der demokratischen Republik Frankreich der Wille des Präsidenten
und einiger anderer mit Nußland verschworener Politiker es gewesen sei, was das im
ganzen friedliebende Volk Wider seinen Wunsch in die Charybdis dieses Krieges hineingerissen
habe." (Wolfgang Heine, die Sozialdemokratie im neuen Deutschland, Südd. Monatshefte
Bd. XII, 1. S. 864.)
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[0031] Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Lriedenszeit reißen zu können. Der jetzige Krieg beweist aber, daß in der kurzen Friedens-. zeit, welche der neuen Regierung beschert war, Erstaunliches geleistet worden ist, uni den Staat gegen weitere Eingriffe widerstandsfähig zu machen. Die wichtigsten Merkmale der jüngsten französischen Geschichte sind der dem Anschein nach endgültige Übergang zur republikanischen Staatsform und der Rückgang der Volksvermehrung. Der einstweilige Sieg der Republik über die Monarchie dürfte aber weniger darauf zurückzuführen sein, daß die Be- völkerung so ausgesprochen republikanisch gesinnt ist, als in dem Mangel von geeigneten monarchischen Prätendenten seinen Grund haben, die auch nur so viel Geschick und Begabung aufweisen könnten wie Louis Philipp oder Napoleon III. Das Fehlen einer kräftigen zum Diktator geeigneten Persönlichkeit ließ die monarchistischen Putschversuche immer harmloser im Sande verlaufen; es sei hier nur an den letzten bekannt gewordenen von Deroulöde erinnert, der zur Zeit des Drenfus.Prozesses dem Pferde des Generals Rogier, als er von der Parade heimkehrte, mit dem Ruf in die Zügel fiel: I' Lh8se, 5 I' Li^hos"! Die republikanischen Minister verstanden es auch in ihrer großen Mehrheit so gut, die chauvinistischen Neigungen der Bevölkerung zu befriedigen, daß nicht er¬ sichtlich ist, was ein Diktator hier mehr hätte ausrichten können. Das Urteil über die dritte Republik bis 1914 läßt sich dahin zusammenfassen, daß sie zum mindesten ebenso chauvinistisch, korrupt und unsozial wie das zweite Kaiserreich war. Ein Bestechungsskandal ist dem anderen gefolgt. Es gibt in Frankreich weder eine Arbeiterversicherung noch eine Einkommensteuer, und die Minister Poincarö und Delcasseö steuerten ebenso leichtsinnig auf den Krieg hin wie einst Gramont und Ollivier.*) Das Stagnieren der Bevölkerung bewirkte in der zweiten Hälfte der vergangenen Epoche einen starken Rückgang der Be¬ deutung Frankreichs als selbständige Großmacht. Zwar konnte es an Stelle seines im 18. Jahrhundert großenteils an England verloren gegangenen Kolonial¬ reichs ein neues großes schaffen. Doch geschah dies weniger aus eigener Kraft, als infolge der allgemeinen politischen Lage. Anfangs begünstigte Deutschland Frankreichs Vorgehen, den algerischen Besitz weiter auszudehnen, um es von der Revancheidee abzulenken. Später unterstützte England es in seiner nord¬ afrikanischen Politik, um Deutschland von Marokko auszuschließen. Frankreich -) Vergl. hierzu das treffende Urteil des deutschen Sozialdemokraten Heine, der be¬ kennt, „daß in dem republikanischen Frankreich die Herrschaft des Reichtums größer und die soziale Fürsorge geringer, die Rechtssicherheit nicht um eine Spur besser, die Politische Moral in der öffentlichen Meinung und dem Treiben der Fraktionen noch wesentlich schlechter sei als im monarchischen Deutschland. Auch könne sich der überzeugteste theoretische Republikaner nicht verhehlen, daß in der demokratischen Republik Frankreich der Wille des Präsidenten und einiger anderer mit Nußland verschworener Politiker es gewesen sei, was das im ganzen friedliebende Volk Wider seinen Wunsch in die Charybdis dieses Krieges hineingerissen habe." (Wolfgang Heine, die Sozialdemokratie im neuen Deutschland, Südd. Monatshefte Bd. XII, 1. S. 864.) 2*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/31>, abgerufen am 15.01.2025.