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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Gewerbliche Kinderarbeit

gemeinten Bestimmungen auf dem Papiere, noch immer zu Tausenden dem
Moloch Kinderarbeit anheimfallen. Man lese nur einmal die Berichte der
Gewerbeinspektoren. Allenthalben zeigt die Praxis, daß, soweit die Schutz¬
bestimmungen gewerblicher Natur in Frage kommen, die Erfolge nur dort von
Erfolg begleitet sind, wo, wie zum Beispiel in Hessen und neuerdings in Köln,
Aachen und Marienwerder, die Schutznormen durch eine positive Fürsorgetätigkeit
an den Kindern unterstützt werden, die für die Geldopfer, die das Gesetz den
Eltern auferlegt, entschädigt. Gewiß haben wir heute nicht mehr die Zahlen
von 1893, durch welche laut amtlicher Erhebungen festgestellt wurde, daß von
632 283 Kindern, die erfaßt wurden, -- 57.64 Prozent in der Industrie tätig
waren. Doch als das Jahr 1904 uns den grundlegenden Ausbau unseres
gesetzlichen Kinderschutzes brachte, hat man schwerlich aisgenommen, daß man mit den
neuen Maßnahmen nach elf Jahren noch den heutigen Ergebnissen gegenüber¬
stehen würde. Als wir mit dem stärkeren Kinderschutz begannen, hatte man
mit einer Periode von Übertretungen gerechnet, ihre Ausdehnung und ihre
Stärke indessen unterschätzt.

Es ist menschlich natürlich, daß eine ständig mit pekuniären Sorgen
kämpfende Arbeiterschaft sich gegen eine Beschränkung der Ausnutzung der vor¬
handenen Kinderkräfte wehrt, und es ist selbstverständlich, daß die Unannehm¬
lichkeiten, die dem kapitalistischen Unternehmertum durch die Sperrung der
billigen Kinderarbeit bereitet werden, den Gesetzesbestimmungen schon von vorn¬
herein eine starke Gegnerschaft bringen. Tort aber, wo Einsicht und sorgende
Elternliebe den mannigfachen Bestimmungen Willigkeit entgegenbringt, wo man
der Kinderarbeit nach Möglichkeit meinten möchte, stellt sich dem rechten Wollen
das harte Muß der Not entgegen. Noch immer sind uns leider Schlesien,
Thüringen und ganze Teile Sachsens tramige Bestätigungen hierfür. Der
Kriegszustand aber, der so verheerende Wirkungen auf Tausende von Familien¬
haltungen ausgeübt hat, bringt dem Kinde eine doppelte Neubelastung seiner
schwachen Arbeitskraft. Eine Vermehrung der Kinderarbeit aus Gründen der Not
wird eine der vielen sozialschädigenden Folgen des gewaltigen Ringens der Völker
sein. Die Fälle werden sich erschreckend mehren, in denen Gewerbeinspektoren
bei ihren Inspektionen finden, daß vierjährige Kinder im Bette aufrecht stehen
und Wolle zupfen. Das Hauptübel der bis zu schädigenden Grenzen aus¬
gedehnten Kinderarbeit besteht in dem Unvermögen, die Kinderarbeit einer Kon¬
trolle zu unterwerfen. Die arbeitenden Kinder entgehen zu einem Viertel und
darüber hinaus dem Gesetzesschutze, denn ein großer Teil der Kinder wird von
der Kontrolle überhaupt nicht erfaßt, da sie außerhalb der festen Betriebsstätten
arbeiten. In Großstädten, gerade den Herden der Kinderarbeit, ist auch die
Kontrolle der fest beschäftigten Kinder schwer, da der häufige Wechsel des Ar¬
beitsplatzes es auch dem guten Willen oft unmöglich macht, die arbeitenden
Kinder überhaupt aufzufinden. Zu all diesen Gründen gesellt sich dann noch
die große Unübersichtlichkeit unserer gesetzlichen Kwderschutzbestimmungen, die


Gewerbliche Kinderarbeit

gemeinten Bestimmungen auf dem Papiere, noch immer zu Tausenden dem
Moloch Kinderarbeit anheimfallen. Man lese nur einmal die Berichte der
Gewerbeinspektoren. Allenthalben zeigt die Praxis, daß, soweit die Schutz¬
bestimmungen gewerblicher Natur in Frage kommen, die Erfolge nur dort von
Erfolg begleitet sind, wo, wie zum Beispiel in Hessen und neuerdings in Köln,
Aachen und Marienwerder, die Schutznormen durch eine positive Fürsorgetätigkeit
an den Kindern unterstützt werden, die für die Geldopfer, die das Gesetz den
Eltern auferlegt, entschädigt. Gewiß haben wir heute nicht mehr die Zahlen
von 1893, durch welche laut amtlicher Erhebungen festgestellt wurde, daß von
632 283 Kindern, die erfaßt wurden, — 57.64 Prozent in der Industrie tätig
waren. Doch als das Jahr 1904 uns den grundlegenden Ausbau unseres
gesetzlichen Kinderschutzes brachte, hat man schwerlich aisgenommen, daß man mit den
neuen Maßnahmen nach elf Jahren noch den heutigen Ergebnissen gegenüber¬
stehen würde. Als wir mit dem stärkeren Kinderschutz begannen, hatte man
mit einer Periode von Übertretungen gerechnet, ihre Ausdehnung und ihre
Stärke indessen unterschätzt.

Es ist menschlich natürlich, daß eine ständig mit pekuniären Sorgen
kämpfende Arbeiterschaft sich gegen eine Beschränkung der Ausnutzung der vor¬
handenen Kinderkräfte wehrt, und es ist selbstverständlich, daß die Unannehm¬
lichkeiten, die dem kapitalistischen Unternehmertum durch die Sperrung der
billigen Kinderarbeit bereitet werden, den Gesetzesbestimmungen schon von vorn¬
herein eine starke Gegnerschaft bringen. Tort aber, wo Einsicht und sorgende
Elternliebe den mannigfachen Bestimmungen Willigkeit entgegenbringt, wo man
der Kinderarbeit nach Möglichkeit meinten möchte, stellt sich dem rechten Wollen
das harte Muß der Not entgegen. Noch immer sind uns leider Schlesien,
Thüringen und ganze Teile Sachsens tramige Bestätigungen hierfür. Der
Kriegszustand aber, der so verheerende Wirkungen auf Tausende von Familien¬
haltungen ausgeübt hat, bringt dem Kinde eine doppelte Neubelastung seiner
schwachen Arbeitskraft. Eine Vermehrung der Kinderarbeit aus Gründen der Not
wird eine der vielen sozialschädigenden Folgen des gewaltigen Ringens der Völker
sein. Die Fälle werden sich erschreckend mehren, in denen Gewerbeinspektoren
bei ihren Inspektionen finden, daß vierjährige Kinder im Bette aufrecht stehen
und Wolle zupfen. Das Hauptübel der bis zu schädigenden Grenzen aus¬
gedehnten Kinderarbeit besteht in dem Unvermögen, die Kinderarbeit einer Kon¬
trolle zu unterwerfen. Die arbeitenden Kinder entgehen zu einem Viertel und
darüber hinaus dem Gesetzesschutze, denn ein großer Teil der Kinder wird von
der Kontrolle überhaupt nicht erfaßt, da sie außerhalb der festen Betriebsstätten
arbeiten. In Großstädten, gerade den Herden der Kinderarbeit, ist auch die
Kontrolle der fest beschäftigten Kinder schwer, da der häufige Wechsel des Ar¬
beitsplatzes es auch dem guten Willen oft unmöglich macht, die arbeitenden
Kinder überhaupt aufzufinden. Zu all diesen Gründen gesellt sich dann noch
die große Unübersichtlichkeit unserer gesetzlichen Kwderschutzbestimmungen, die


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[0225] Gewerbliche Kinderarbeit gemeinten Bestimmungen auf dem Papiere, noch immer zu Tausenden dem Moloch Kinderarbeit anheimfallen. Man lese nur einmal die Berichte der Gewerbeinspektoren. Allenthalben zeigt die Praxis, daß, soweit die Schutz¬ bestimmungen gewerblicher Natur in Frage kommen, die Erfolge nur dort von Erfolg begleitet sind, wo, wie zum Beispiel in Hessen und neuerdings in Köln, Aachen und Marienwerder, die Schutznormen durch eine positive Fürsorgetätigkeit an den Kindern unterstützt werden, die für die Geldopfer, die das Gesetz den Eltern auferlegt, entschädigt. Gewiß haben wir heute nicht mehr die Zahlen von 1893, durch welche laut amtlicher Erhebungen festgestellt wurde, daß von 632 283 Kindern, die erfaßt wurden, — 57.64 Prozent in der Industrie tätig waren. Doch als das Jahr 1904 uns den grundlegenden Ausbau unseres gesetzlichen Kinderschutzes brachte, hat man schwerlich aisgenommen, daß man mit den neuen Maßnahmen nach elf Jahren noch den heutigen Ergebnissen gegenüber¬ stehen würde. Als wir mit dem stärkeren Kinderschutz begannen, hatte man mit einer Periode von Übertretungen gerechnet, ihre Ausdehnung und ihre Stärke indessen unterschätzt. Es ist menschlich natürlich, daß eine ständig mit pekuniären Sorgen kämpfende Arbeiterschaft sich gegen eine Beschränkung der Ausnutzung der vor¬ handenen Kinderkräfte wehrt, und es ist selbstverständlich, daß die Unannehm¬ lichkeiten, die dem kapitalistischen Unternehmertum durch die Sperrung der billigen Kinderarbeit bereitet werden, den Gesetzesbestimmungen schon von vorn¬ herein eine starke Gegnerschaft bringen. Tort aber, wo Einsicht und sorgende Elternliebe den mannigfachen Bestimmungen Willigkeit entgegenbringt, wo man der Kinderarbeit nach Möglichkeit meinten möchte, stellt sich dem rechten Wollen das harte Muß der Not entgegen. Noch immer sind uns leider Schlesien, Thüringen und ganze Teile Sachsens tramige Bestätigungen hierfür. Der Kriegszustand aber, der so verheerende Wirkungen auf Tausende von Familien¬ haltungen ausgeübt hat, bringt dem Kinde eine doppelte Neubelastung seiner schwachen Arbeitskraft. Eine Vermehrung der Kinderarbeit aus Gründen der Not wird eine der vielen sozialschädigenden Folgen des gewaltigen Ringens der Völker sein. Die Fälle werden sich erschreckend mehren, in denen Gewerbeinspektoren bei ihren Inspektionen finden, daß vierjährige Kinder im Bette aufrecht stehen und Wolle zupfen. Das Hauptübel der bis zu schädigenden Grenzen aus¬ gedehnten Kinderarbeit besteht in dem Unvermögen, die Kinderarbeit einer Kon¬ trolle zu unterwerfen. Die arbeitenden Kinder entgehen zu einem Viertel und darüber hinaus dem Gesetzesschutze, denn ein großer Teil der Kinder wird von der Kontrolle überhaupt nicht erfaßt, da sie außerhalb der festen Betriebsstätten arbeiten. In Großstädten, gerade den Herden der Kinderarbeit, ist auch die Kontrolle der fest beschäftigten Kinder schwer, da der häufige Wechsel des Ar¬ beitsplatzes es auch dem guten Willen oft unmöglich macht, die arbeitenden Kinder überhaupt aufzufinden. Zu all diesen Gründen gesellt sich dann noch die große Unübersichtlichkeit unserer gesetzlichen Kwderschutzbestimmungen, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/225>, abgerufen am 15.01.2025.