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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Revolutionäre Strömungen in Rußland

"Deswegen ist die zielbewußte Aufgabe des selbstbewußten Proletariats
im gegenwärtigen Augenblick die möglichst breite Organisation der Arbeiter¬
massen ... Zu diesem Zwecke müssen alle Mittel der Klassenorganisation,
wie z. B. die Wahlen in die Kriegiudustriekomitees. Flüchtlingökomitees,
professionelle Verbände, Korperativkafsen, Arbeiterdelcgationen usw. aus¬
genutzt werden I

Man sieht hier mit einem Blicke die Verschiedenheit der Auffassung der
Okisten im Vergleich mit der Stellung der Plechanow und Genossen. Hier
wird klar verlangt, daß der Moment ausgenutzt werden muß, um die Regierung
zu stürzen, um die Revolution herbeizuführen, daß aber zu diesem Zwecke vor
allem eine große Organisation zu schaffen ist und unter Umständen aus
taktischen Gründen die Wünsche der Regierung in Bezug auf die Wahlen von
Arbeiterdeputierten für die Kriegsindustriekomitees erfüllt werden sollen. Da
die Organisation des O. K. in Rußland weite Verbreitung hat, so sind diesem
Standpunkt viele Anhänger gesichert, um so mehr als schon ein großer Teil
der russischen Sozialisten vor dem Aufrufe solchen Ideen huldigte.

Von diesem Gedankengang aus betrachtet erhalten wir größeres Licht über
zweierlei Vorgänge im russischen politischen Leben der Gegenwart. Einmal
gewinnen wir ein gewisses Verständnis für die Chowstowsche Politik des
Wiederzurückdämmens der gesellschaftlichen Selbstorganifation, für sein Bestreben
z. B. die Versorgung der Flüchtlinge in die eigene Hand zu nehmen, seinen
Kampf gegen die Kooporativgenossenschaften, gegen die Ausbreitung der Semstwo-
tätigkeit. Er betrachtet offenbar alle diese Organisationsbestrebungen als be¬
wußte Organisation der Gesellschaft für die große Abrechnung mit der Regierung
-- und will diese unbedingt hindern.

Zweitens erhalten wir den richtigen Gesichtspunkt für die Beurteilung der
Haltung der Arbeiter bei den Wahlen ihrer Vertreter zu den Kriegsindustrie¬
komitees in Petersburg und Moskau. --

In Petersburg, wo zuerst, wie wir wissen, die Arbeiter in überwiegender
Mehrzahl eine Teilnahme an den Wahlen abgelehnt haben, sind die Verhält¬
nisse nicht so einfach zu übersehen. Hier hatten von jeher nicht die Okisten
(Menschewiki) die Majorität, sondern die Anhänger des Bolschewik!, die in
dem sogenannten P. K., dem Petersburger Komitee, vereinigt waren. Das Zahlen¬
verhältnis der beiden Gruppen wird von sozialistischen Blättern als 1200 zu
200 angegeben, doch scheint hier die Majorität für die Bolschewik als viel
zu groß bemessen zu sein. Zwischen diesen beiden Gruppen steht eine dritte,
die der sogenannten Obedinjenzy oder Primirenzy, die für eine Einigung
zwischen allen Gruppen der Partei eintreten. Trotz der großen Anhängerschaft
der P. K. ist die Organisation wenig mächtig und nicht reich, zudem verfügen
die Menschewiki, die Okisten, über sehr viel Intelligenz, die bei den P. K.
vollständig fehlt. Bei den ersten Wahlen von Arbeiteroertretern für die
kriegswirtschaftlichen Komitees sprachen sich die Wahlmänner von 90000 Arbeitern


Revolutionäre Strömungen in Rußland

„Deswegen ist die zielbewußte Aufgabe des selbstbewußten Proletariats
im gegenwärtigen Augenblick die möglichst breite Organisation der Arbeiter¬
massen ... Zu diesem Zwecke müssen alle Mittel der Klassenorganisation,
wie z. B. die Wahlen in die Kriegiudustriekomitees. Flüchtlingökomitees,
professionelle Verbände, Korperativkafsen, Arbeiterdelcgationen usw. aus¬
genutzt werden I

Man sieht hier mit einem Blicke die Verschiedenheit der Auffassung der
Okisten im Vergleich mit der Stellung der Plechanow und Genossen. Hier
wird klar verlangt, daß der Moment ausgenutzt werden muß, um die Regierung
zu stürzen, um die Revolution herbeizuführen, daß aber zu diesem Zwecke vor
allem eine große Organisation zu schaffen ist und unter Umständen aus
taktischen Gründen die Wünsche der Regierung in Bezug auf die Wahlen von
Arbeiterdeputierten für die Kriegsindustriekomitees erfüllt werden sollen. Da
die Organisation des O. K. in Rußland weite Verbreitung hat, so sind diesem
Standpunkt viele Anhänger gesichert, um so mehr als schon ein großer Teil
der russischen Sozialisten vor dem Aufrufe solchen Ideen huldigte.

Von diesem Gedankengang aus betrachtet erhalten wir größeres Licht über
zweierlei Vorgänge im russischen politischen Leben der Gegenwart. Einmal
gewinnen wir ein gewisses Verständnis für die Chowstowsche Politik des
Wiederzurückdämmens der gesellschaftlichen Selbstorganifation, für sein Bestreben
z. B. die Versorgung der Flüchtlinge in die eigene Hand zu nehmen, seinen
Kampf gegen die Kooporativgenossenschaften, gegen die Ausbreitung der Semstwo-
tätigkeit. Er betrachtet offenbar alle diese Organisationsbestrebungen als be¬
wußte Organisation der Gesellschaft für die große Abrechnung mit der Regierung
— und will diese unbedingt hindern.

Zweitens erhalten wir den richtigen Gesichtspunkt für die Beurteilung der
Haltung der Arbeiter bei den Wahlen ihrer Vertreter zu den Kriegsindustrie¬
komitees in Petersburg und Moskau. —

In Petersburg, wo zuerst, wie wir wissen, die Arbeiter in überwiegender
Mehrzahl eine Teilnahme an den Wahlen abgelehnt haben, sind die Verhält¬
nisse nicht so einfach zu übersehen. Hier hatten von jeher nicht die Okisten
(Menschewiki) die Majorität, sondern die Anhänger des Bolschewik!, die in
dem sogenannten P. K., dem Petersburger Komitee, vereinigt waren. Das Zahlen¬
verhältnis der beiden Gruppen wird von sozialistischen Blättern als 1200 zu
200 angegeben, doch scheint hier die Majorität für die Bolschewik als viel
zu groß bemessen zu sein. Zwischen diesen beiden Gruppen steht eine dritte,
die der sogenannten Obedinjenzy oder Primirenzy, die für eine Einigung
zwischen allen Gruppen der Partei eintreten. Trotz der großen Anhängerschaft
der P. K. ist die Organisation wenig mächtig und nicht reich, zudem verfügen
die Menschewiki, die Okisten, über sehr viel Intelligenz, die bei den P. K.
vollständig fehlt. Bei den ersten Wahlen von Arbeiteroertretern für die
kriegswirtschaftlichen Komitees sprachen sich die Wahlmänner von 90000 Arbeitern


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[0022] Revolutionäre Strömungen in Rußland „Deswegen ist die zielbewußte Aufgabe des selbstbewußten Proletariats im gegenwärtigen Augenblick die möglichst breite Organisation der Arbeiter¬ massen ... Zu diesem Zwecke müssen alle Mittel der Klassenorganisation, wie z. B. die Wahlen in die Kriegiudustriekomitees. Flüchtlingökomitees, professionelle Verbände, Korperativkafsen, Arbeiterdelcgationen usw. aus¬ genutzt werden I Man sieht hier mit einem Blicke die Verschiedenheit der Auffassung der Okisten im Vergleich mit der Stellung der Plechanow und Genossen. Hier wird klar verlangt, daß der Moment ausgenutzt werden muß, um die Regierung zu stürzen, um die Revolution herbeizuführen, daß aber zu diesem Zwecke vor allem eine große Organisation zu schaffen ist und unter Umständen aus taktischen Gründen die Wünsche der Regierung in Bezug auf die Wahlen von Arbeiterdeputierten für die Kriegsindustriekomitees erfüllt werden sollen. Da die Organisation des O. K. in Rußland weite Verbreitung hat, so sind diesem Standpunkt viele Anhänger gesichert, um so mehr als schon ein großer Teil der russischen Sozialisten vor dem Aufrufe solchen Ideen huldigte. Von diesem Gedankengang aus betrachtet erhalten wir größeres Licht über zweierlei Vorgänge im russischen politischen Leben der Gegenwart. Einmal gewinnen wir ein gewisses Verständnis für die Chowstowsche Politik des Wiederzurückdämmens der gesellschaftlichen Selbstorganifation, für sein Bestreben z. B. die Versorgung der Flüchtlinge in die eigene Hand zu nehmen, seinen Kampf gegen die Kooporativgenossenschaften, gegen die Ausbreitung der Semstwo- tätigkeit. Er betrachtet offenbar alle diese Organisationsbestrebungen als be¬ wußte Organisation der Gesellschaft für die große Abrechnung mit der Regierung — und will diese unbedingt hindern. Zweitens erhalten wir den richtigen Gesichtspunkt für die Beurteilung der Haltung der Arbeiter bei den Wahlen ihrer Vertreter zu den Kriegsindustrie¬ komitees in Petersburg und Moskau. — In Petersburg, wo zuerst, wie wir wissen, die Arbeiter in überwiegender Mehrzahl eine Teilnahme an den Wahlen abgelehnt haben, sind die Verhält¬ nisse nicht so einfach zu übersehen. Hier hatten von jeher nicht die Okisten (Menschewiki) die Majorität, sondern die Anhänger des Bolschewik!, die in dem sogenannten P. K., dem Petersburger Komitee, vereinigt waren. Das Zahlen¬ verhältnis der beiden Gruppen wird von sozialistischen Blättern als 1200 zu 200 angegeben, doch scheint hier die Majorität für die Bolschewik als viel zu groß bemessen zu sein. Zwischen diesen beiden Gruppen steht eine dritte, die der sogenannten Obedinjenzy oder Primirenzy, die für eine Einigung zwischen allen Gruppen der Partei eintreten. Trotz der großen Anhängerschaft der P. K. ist die Organisation wenig mächtig und nicht reich, zudem verfügen die Menschewiki, die Okisten, über sehr viel Intelligenz, die bei den P. K. vollständig fehlt. Bei den ersten Wahlen von Arbeiteroertretern für die kriegswirtschaftlichen Komitees sprachen sich die Wahlmänner von 90000 Arbeitern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/22>, abgerufen am 15.01.2025.