Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der neue Sohn des Himmels

weniger an das Wohl ihres Reiches gedacht, als an das ihrer eigenen Familie.
Sie ist aus dem Stamme Aehonala der Mandschus und dachte, den Sprossen
dieses Stammes die Macht zuzuwenden. Sie hatte klare Bahn gemacht, indem
sie Kwangsü aus dem Wege räumen ließ. Ihre Wahl führte den Enkel ihrer
leiblichen Schwester, den Sohn des Prinzen Tschun und der Tochter Aunglus
auf den Thron. Ein unmündiges Kind war damit der neue Sohn des Himmels.
Das Unglück wurde geradezu heraufbeschworen. Die Partei des Prinzen
Tsching und Auanschikais war kaltgestellt, denn der Vater des Kaisers war der
Halbbruder Kwangsüs, der seinerzeit gerade durch Auanschikais Verrat auf
dem Jnselpalast zu freudlosem Dasein interniert worden war. Der Vater des
Kaisers war zugleich Reichsverweser, er ist auch in Deutschland wohlbekannt.
Es ist der Sühneprinz Tschun, der im Jahre 1901 die Entschuldigungen für
die Ermordung des deutschen Gesandten von Kettler in Potsdam vorzubringen
hatte. In seinem kaum entzifferbaren Testament hatte der sterbende Kwangsü
seinem Bruder Tschun geboten: "Rache mich an Auanschikai!"

Für Peking gab es damals bange Monate des Wartens. Die Ein¬
geweihten wußten, daß durch die Neubesetzung der großen Staatsämter Juans
Stunde geschlagen hatte. Im Januar 1909 traf ihn der Bannstrahl der Un¬
gnade. Durch kaiserliches Edikt nahm der Reichsverweser ein Gesuch Uuans
um Entlassung aus allen seinen Ämtern an. Zugleich wurde er angewiesen,
sein "Beinleiden" in seinem Heimatsorte in der Provinz Honan auszukurieren.
Man warf ihn einfach, wie einen lästigen Nichtstuer, hinaus. Das war der
Dank des mandschurischen Kaiserhauses für Uuans viele dem Vaterlande ge¬
leisteten Dienste. Kein Hund hätte noch ein Stück Brot von ihm genommen,
kein Straßenkuli auch nur einen Kupferkäsch mehr für sein Leben gegeben. Auch
der alte Prinz Tsching schien ihn nicht retten zu können. Nur wenige Leute
von Uuans Leibgarde blieben ihrem Herrn treu. Juan floh nach Tientsin und
stieg dort unerkannt im Hotel der Fremden ab. Der Vizekönig sollte ihm
helfen, er war seine Kreatur. Der versagte sich ihm. Dankbarkeit ist in China
unbekannt. Der Chinese ist der schlimmste Opportunist und Materialist. Alles
schien verloren. Juan reifte nach Peking zurück. Er war ein gebrochener
Mann. Die Stadt war voller Gerüchte. Orientalische Großstädte haben in
ganz anderer Weise Augen und Ohren für die Geschehnisse des Tages, wie
unsere Städte. Niemand half dem Verlassenen. Niemand kannte ihn mehr.
An einem trüben Januarmorgen stand er fast allein auf dem Chienmen-Bahnhof
und bestieg einen nach Südwesten gehenden Extrazug, um in seine Heimat zu
reisen. Nur zwei Leute sahen ihn dort. Der eine war sein Freund Sunpautschi,
bis dahin Gesandter in Berlin, und ein deutscher Journalist, Dr. M. Krieger,
welcher durch Zufall Kenntnis von der Stunde der Abreise bekommen hatte.
Bis zur letzten Minute glaubte man allgemein, daß ein Attentat es gnädig
mit dem Gestürzten machen würde. Jedoch das Schicksal hatte Größeres mit
diesem Manne vor. Es verschonte ihn; er hatte Jahre Zeit, sich in seiner


Der neue Sohn des Himmels

weniger an das Wohl ihres Reiches gedacht, als an das ihrer eigenen Familie.
Sie ist aus dem Stamme Aehonala der Mandschus und dachte, den Sprossen
dieses Stammes die Macht zuzuwenden. Sie hatte klare Bahn gemacht, indem
sie Kwangsü aus dem Wege räumen ließ. Ihre Wahl führte den Enkel ihrer
leiblichen Schwester, den Sohn des Prinzen Tschun und der Tochter Aunglus
auf den Thron. Ein unmündiges Kind war damit der neue Sohn des Himmels.
Das Unglück wurde geradezu heraufbeschworen. Die Partei des Prinzen
Tsching und Auanschikais war kaltgestellt, denn der Vater des Kaisers war der
Halbbruder Kwangsüs, der seinerzeit gerade durch Auanschikais Verrat auf
dem Jnselpalast zu freudlosem Dasein interniert worden war. Der Vater des
Kaisers war zugleich Reichsverweser, er ist auch in Deutschland wohlbekannt.
Es ist der Sühneprinz Tschun, der im Jahre 1901 die Entschuldigungen für
die Ermordung des deutschen Gesandten von Kettler in Potsdam vorzubringen
hatte. In seinem kaum entzifferbaren Testament hatte der sterbende Kwangsü
seinem Bruder Tschun geboten: „Rache mich an Auanschikai!"

Für Peking gab es damals bange Monate des Wartens. Die Ein¬
geweihten wußten, daß durch die Neubesetzung der großen Staatsämter Juans
Stunde geschlagen hatte. Im Januar 1909 traf ihn der Bannstrahl der Un¬
gnade. Durch kaiserliches Edikt nahm der Reichsverweser ein Gesuch Uuans
um Entlassung aus allen seinen Ämtern an. Zugleich wurde er angewiesen,
sein „Beinleiden" in seinem Heimatsorte in der Provinz Honan auszukurieren.
Man warf ihn einfach, wie einen lästigen Nichtstuer, hinaus. Das war der
Dank des mandschurischen Kaiserhauses für Uuans viele dem Vaterlande ge¬
leisteten Dienste. Kein Hund hätte noch ein Stück Brot von ihm genommen,
kein Straßenkuli auch nur einen Kupferkäsch mehr für sein Leben gegeben. Auch
der alte Prinz Tsching schien ihn nicht retten zu können. Nur wenige Leute
von Uuans Leibgarde blieben ihrem Herrn treu. Juan floh nach Tientsin und
stieg dort unerkannt im Hotel der Fremden ab. Der Vizekönig sollte ihm
helfen, er war seine Kreatur. Der versagte sich ihm. Dankbarkeit ist in China
unbekannt. Der Chinese ist der schlimmste Opportunist und Materialist. Alles
schien verloren. Juan reifte nach Peking zurück. Er war ein gebrochener
Mann. Die Stadt war voller Gerüchte. Orientalische Großstädte haben in
ganz anderer Weise Augen und Ohren für die Geschehnisse des Tages, wie
unsere Städte. Niemand half dem Verlassenen. Niemand kannte ihn mehr.
An einem trüben Januarmorgen stand er fast allein auf dem Chienmen-Bahnhof
und bestieg einen nach Südwesten gehenden Extrazug, um in seine Heimat zu
reisen. Nur zwei Leute sahen ihn dort. Der eine war sein Freund Sunpautschi,
bis dahin Gesandter in Berlin, und ein deutscher Journalist, Dr. M. Krieger,
welcher durch Zufall Kenntnis von der Stunde der Abreise bekommen hatte.
Bis zur letzten Minute glaubte man allgemein, daß ein Attentat es gnädig
mit dem Gestürzten machen würde. Jedoch das Schicksal hatte Größeres mit
diesem Manne vor. Es verschonte ihn; er hatte Jahre Zeit, sich in seiner


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0158" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329824"/>
          <fw type="header" place="top"> Der neue Sohn des Himmels</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_481" prev="#ID_480"> weniger an das Wohl ihres Reiches gedacht, als an das ihrer eigenen Familie.<lb/>
Sie ist aus dem Stamme Aehonala der Mandschus und dachte, den Sprossen<lb/>
dieses Stammes die Macht zuzuwenden. Sie hatte klare Bahn gemacht, indem<lb/>
sie Kwangsü aus dem Wege räumen ließ. Ihre Wahl führte den Enkel ihrer<lb/>
leiblichen Schwester, den Sohn des Prinzen Tschun und der Tochter Aunglus<lb/>
auf den Thron. Ein unmündiges Kind war damit der neue Sohn des Himmels.<lb/>
Das Unglück wurde geradezu heraufbeschworen. Die Partei des Prinzen<lb/>
Tsching und Auanschikais war kaltgestellt, denn der Vater des Kaisers war der<lb/>
Halbbruder Kwangsüs, der seinerzeit gerade durch Auanschikais Verrat auf<lb/>
dem Jnselpalast zu freudlosem Dasein interniert worden war. Der Vater des<lb/>
Kaisers war zugleich Reichsverweser, er ist auch in Deutschland wohlbekannt.<lb/>
Es ist der Sühneprinz Tschun, der im Jahre 1901 die Entschuldigungen für<lb/>
die Ermordung des deutschen Gesandten von Kettler in Potsdam vorzubringen<lb/>
hatte. In seinem kaum entzifferbaren Testament hatte der sterbende Kwangsü<lb/>
seinem Bruder Tschun geboten: &#x201E;Rache mich an Auanschikai!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_482" next="#ID_483"> Für Peking gab es damals bange Monate des Wartens. Die Ein¬<lb/>
geweihten wußten, daß durch die Neubesetzung der großen Staatsämter Juans<lb/>
Stunde geschlagen hatte. Im Januar 1909 traf ihn der Bannstrahl der Un¬<lb/>
gnade. Durch kaiserliches Edikt nahm der Reichsverweser ein Gesuch Uuans<lb/>
um Entlassung aus allen seinen Ämtern an. Zugleich wurde er angewiesen,<lb/>
sein &#x201E;Beinleiden" in seinem Heimatsorte in der Provinz Honan auszukurieren.<lb/>
Man warf ihn einfach, wie einen lästigen Nichtstuer, hinaus. Das war der<lb/>
Dank des mandschurischen Kaiserhauses für Uuans viele dem Vaterlande ge¬<lb/>
leisteten Dienste. Kein Hund hätte noch ein Stück Brot von ihm genommen,<lb/>
kein Straßenkuli auch nur einen Kupferkäsch mehr für sein Leben gegeben. Auch<lb/>
der alte Prinz Tsching schien ihn nicht retten zu können. Nur wenige Leute<lb/>
von Uuans Leibgarde blieben ihrem Herrn treu. Juan floh nach Tientsin und<lb/>
stieg dort unerkannt im Hotel der Fremden ab. Der Vizekönig sollte ihm<lb/>
helfen, er war seine Kreatur. Der versagte sich ihm. Dankbarkeit ist in China<lb/>
unbekannt. Der Chinese ist der schlimmste Opportunist und Materialist. Alles<lb/>
schien verloren. Juan reifte nach Peking zurück. Er war ein gebrochener<lb/>
Mann. Die Stadt war voller Gerüchte. Orientalische Großstädte haben in<lb/>
ganz anderer Weise Augen und Ohren für die Geschehnisse des Tages, wie<lb/>
unsere Städte. Niemand half dem Verlassenen. Niemand kannte ihn mehr.<lb/>
An einem trüben Januarmorgen stand er fast allein auf dem Chienmen-Bahnhof<lb/>
und bestieg einen nach Südwesten gehenden Extrazug, um in seine Heimat zu<lb/>
reisen. Nur zwei Leute sahen ihn dort. Der eine war sein Freund Sunpautschi,<lb/>
bis dahin Gesandter in Berlin, und ein deutscher Journalist, Dr. M. Krieger,<lb/>
welcher durch Zufall Kenntnis von der Stunde der Abreise bekommen hatte.<lb/>
Bis zur letzten Minute glaubte man allgemein, daß ein Attentat es gnädig<lb/>
mit dem Gestürzten machen würde. Jedoch das Schicksal hatte Größeres mit<lb/>
diesem Manne vor.  Es verschonte ihn; er hatte Jahre Zeit, sich in seiner</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0158] Der neue Sohn des Himmels weniger an das Wohl ihres Reiches gedacht, als an das ihrer eigenen Familie. Sie ist aus dem Stamme Aehonala der Mandschus und dachte, den Sprossen dieses Stammes die Macht zuzuwenden. Sie hatte klare Bahn gemacht, indem sie Kwangsü aus dem Wege räumen ließ. Ihre Wahl führte den Enkel ihrer leiblichen Schwester, den Sohn des Prinzen Tschun und der Tochter Aunglus auf den Thron. Ein unmündiges Kind war damit der neue Sohn des Himmels. Das Unglück wurde geradezu heraufbeschworen. Die Partei des Prinzen Tsching und Auanschikais war kaltgestellt, denn der Vater des Kaisers war der Halbbruder Kwangsüs, der seinerzeit gerade durch Auanschikais Verrat auf dem Jnselpalast zu freudlosem Dasein interniert worden war. Der Vater des Kaisers war zugleich Reichsverweser, er ist auch in Deutschland wohlbekannt. Es ist der Sühneprinz Tschun, der im Jahre 1901 die Entschuldigungen für die Ermordung des deutschen Gesandten von Kettler in Potsdam vorzubringen hatte. In seinem kaum entzifferbaren Testament hatte der sterbende Kwangsü seinem Bruder Tschun geboten: „Rache mich an Auanschikai!" Für Peking gab es damals bange Monate des Wartens. Die Ein¬ geweihten wußten, daß durch die Neubesetzung der großen Staatsämter Juans Stunde geschlagen hatte. Im Januar 1909 traf ihn der Bannstrahl der Un¬ gnade. Durch kaiserliches Edikt nahm der Reichsverweser ein Gesuch Uuans um Entlassung aus allen seinen Ämtern an. Zugleich wurde er angewiesen, sein „Beinleiden" in seinem Heimatsorte in der Provinz Honan auszukurieren. Man warf ihn einfach, wie einen lästigen Nichtstuer, hinaus. Das war der Dank des mandschurischen Kaiserhauses für Uuans viele dem Vaterlande ge¬ leisteten Dienste. Kein Hund hätte noch ein Stück Brot von ihm genommen, kein Straßenkuli auch nur einen Kupferkäsch mehr für sein Leben gegeben. Auch der alte Prinz Tsching schien ihn nicht retten zu können. Nur wenige Leute von Uuans Leibgarde blieben ihrem Herrn treu. Juan floh nach Tientsin und stieg dort unerkannt im Hotel der Fremden ab. Der Vizekönig sollte ihm helfen, er war seine Kreatur. Der versagte sich ihm. Dankbarkeit ist in China unbekannt. Der Chinese ist der schlimmste Opportunist und Materialist. Alles schien verloren. Juan reifte nach Peking zurück. Er war ein gebrochener Mann. Die Stadt war voller Gerüchte. Orientalische Großstädte haben in ganz anderer Weise Augen und Ohren für die Geschehnisse des Tages, wie unsere Städte. Niemand half dem Verlassenen. Niemand kannte ihn mehr. An einem trüben Januarmorgen stand er fast allein auf dem Chienmen-Bahnhof und bestieg einen nach Südwesten gehenden Extrazug, um in seine Heimat zu reisen. Nur zwei Leute sahen ihn dort. Der eine war sein Freund Sunpautschi, bis dahin Gesandter in Berlin, und ein deutscher Journalist, Dr. M. Krieger, welcher durch Zufall Kenntnis von der Stunde der Abreise bekommen hatte. Bis zur letzten Minute glaubte man allgemein, daß ein Attentat es gnädig mit dem Gestürzten machen würde. Jedoch das Schicksal hatte Größeres mit diesem Manne vor. Es verschonte ihn; er hatte Jahre Zeit, sich in seiner

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/158
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/158>, abgerufen am 15.01.2025.