Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.Die Dienstpflicht in England die Armeefrage nach dem vollständigen Zusammenbruch der militärischen Or¬ Welche Nachteile diese improvisierte Armee haben möge -- am meisten Die Dienstpflicht in England die Armeefrage nach dem vollständigen Zusammenbruch der militärischen Or¬ Welche Nachteile diese improvisierte Armee haben möge — am meisten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0154" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329820"/> <fw type="header" place="top"> Die Dienstpflicht in England</fw><lb/> <p xml:id="ID_472" prev="#ID_471"> die Armeefrage nach dem vollständigen Zusammenbruch der militärischen Or¬<lb/> ganisation im Burenkriege gelöst hatte. Zwar hatte der verstorbene Lord Roberts<lb/> zehn Jahre lang die Notwendigkeit eines großen Landheeres gepredigt, aber er<lb/> fand kein Gehör. Zweifellos bestand ein starker innerer Widerspruch zwischen<lb/> dieser britischen Wehrverfassung und einer britischen Kontinentalpolitik, wie sie<lb/> durch die halbamtlichen Abmachungen der englischen mit den belgischen und<lb/> später mit den französischen Militärbehörden angebahnt war. Aber zugleich<lb/> bestand in der damaligen Politik des liberalen Kabinetts eine Tendenz, sich aus<lb/> der Politik des europäischen Kontinents herauszuziehen, und obendrein standen<lb/> der Verwirklichung von Lord Roberts Ideen im Frieden ungleich größere<lb/> Schwierigkeiten gegenüber, als später während des Krieges. Jener Widerspruch<lb/> zwischen Wehrverfassung und Politik wurde akut, als England durch seine Kriegs¬<lb/> erklärung die Wiederaufnahme seiner Kontinentalpolitik aufs schärfste betonte.<lb/> Die Wehrverfassung mußte also vollständig geändert werden. Das Expeditions¬<lb/> korps war nach den ersten Kämpfen in Frankreich nur noch ein Bruchteil seiner<lb/> früheren Stärke. Hier setzte nun Lord Kitcheners Organisation ein, und auch<lb/> der Gegner darf sein Werk nicht verkleinern wollen. Er hat die heutige britische<lb/> Armee geschaffen, und zwar unter den allergrößten Schwierigkeiten, denn es<lb/> fehlte an allem, an Waffen, Munition, Kasernen, Uniformen, und vor allem<lb/> an Offizieren. Sein Werbesystem hatte einen großen numerischen Erfolg, und<lb/> bis in die letzte Zeit ist England mit seinem freiwilligen System ausgekommen.<lb/> Der Appell an den Patriotismus verfehlte seine Wirkung nicht, wenn auch<lb/> freilich vielfach mit den allergröbsten Mitteln gearbeitet werden mußte. Aber<lb/> die heutige britische Armee ist nach ihrer sozialen Zusammensetzung in demselben<lb/> Sinne eine nationale Armee wie die des übrigen Europa, während bisher ihr<lb/> nationaler Charakter nur durch das Offizierkorps verkörpert war, wie in der<lb/> Armee Friedrichs des Großen. Die Engländer brauchten selbst einige Zeit, um<lb/> sich diese Umwandelung zu vergegenwärtigen; anfänglich erregte es großes Auf¬<lb/> sehen, wenn ein gewöhnlicher „Tommy" in einem vornehmen Restaurant oder<lb/> Hotel erschien. Sowohl die oberen als die unteren Klassen haben dem Werberufe<lb/> in großen Scharen Folge geleistet, dagegen scheint von den Mittelklassen ein ver¬<lb/> hältnismäßig größerer Teil sich „gedrückt" zu haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_473" next="#ID_474"> Welche Nachteile diese improvisierte Armee haben möge — am meisten<lb/> soll das neue Offizierkorps zu wünschen übrig lassen, was aber bis zu einem<lb/> gewissen Grade durch den Stellungskrieg weniger fühlbar wird — die Organi¬<lb/> sation Kitcheners ist geglückt, und sie ist seit einer Anzahl von Monaten im<lb/> wesentlichen fertig. Bezweckt nun die neue Dienstpflichtbill eine weitere Ver¬<lb/> mehrung der Effektivstärke? Und ist eine solche überhaupt noch möglich? Für<lb/> England bestehen gewisse Grenzen, über die hinaus es sein Heer nicht gut ver¬<lb/> mehren kann. England hat sich selbst und seine Verbündeten mit Kriegsmaterial<lb/> zu versorgen, es hat den Krieg der gesamten Koalition zu finanzieren, und es<lb/> muß seine Staatsfinanzen durch seine Ausfuhrindustrie solvent erhalten. Es</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0154]
Die Dienstpflicht in England
die Armeefrage nach dem vollständigen Zusammenbruch der militärischen Or¬
ganisation im Burenkriege gelöst hatte. Zwar hatte der verstorbene Lord Roberts
zehn Jahre lang die Notwendigkeit eines großen Landheeres gepredigt, aber er
fand kein Gehör. Zweifellos bestand ein starker innerer Widerspruch zwischen
dieser britischen Wehrverfassung und einer britischen Kontinentalpolitik, wie sie
durch die halbamtlichen Abmachungen der englischen mit den belgischen und
später mit den französischen Militärbehörden angebahnt war. Aber zugleich
bestand in der damaligen Politik des liberalen Kabinetts eine Tendenz, sich aus
der Politik des europäischen Kontinents herauszuziehen, und obendrein standen
der Verwirklichung von Lord Roberts Ideen im Frieden ungleich größere
Schwierigkeiten gegenüber, als später während des Krieges. Jener Widerspruch
zwischen Wehrverfassung und Politik wurde akut, als England durch seine Kriegs¬
erklärung die Wiederaufnahme seiner Kontinentalpolitik aufs schärfste betonte.
Die Wehrverfassung mußte also vollständig geändert werden. Das Expeditions¬
korps war nach den ersten Kämpfen in Frankreich nur noch ein Bruchteil seiner
früheren Stärke. Hier setzte nun Lord Kitcheners Organisation ein, und auch
der Gegner darf sein Werk nicht verkleinern wollen. Er hat die heutige britische
Armee geschaffen, und zwar unter den allergrößten Schwierigkeiten, denn es
fehlte an allem, an Waffen, Munition, Kasernen, Uniformen, und vor allem
an Offizieren. Sein Werbesystem hatte einen großen numerischen Erfolg, und
bis in die letzte Zeit ist England mit seinem freiwilligen System ausgekommen.
Der Appell an den Patriotismus verfehlte seine Wirkung nicht, wenn auch
freilich vielfach mit den allergröbsten Mitteln gearbeitet werden mußte. Aber
die heutige britische Armee ist nach ihrer sozialen Zusammensetzung in demselben
Sinne eine nationale Armee wie die des übrigen Europa, während bisher ihr
nationaler Charakter nur durch das Offizierkorps verkörpert war, wie in der
Armee Friedrichs des Großen. Die Engländer brauchten selbst einige Zeit, um
sich diese Umwandelung zu vergegenwärtigen; anfänglich erregte es großes Auf¬
sehen, wenn ein gewöhnlicher „Tommy" in einem vornehmen Restaurant oder
Hotel erschien. Sowohl die oberen als die unteren Klassen haben dem Werberufe
in großen Scharen Folge geleistet, dagegen scheint von den Mittelklassen ein ver¬
hältnismäßig größerer Teil sich „gedrückt" zu haben.
Welche Nachteile diese improvisierte Armee haben möge — am meisten
soll das neue Offizierkorps zu wünschen übrig lassen, was aber bis zu einem
gewissen Grade durch den Stellungskrieg weniger fühlbar wird — die Organi¬
sation Kitcheners ist geglückt, und sie ist seit einer Anzahl von Monaten im
wesentlichen fertig. Bezweckt nun die neue Dienstpflichtbill eine weitere Ver¬
mehrung der Effektivstärke? Und ist eine solche überhaupt noch möglich? Für
England bestehen gewisse Grenzen, über die hinaus es sein Heer nicht gut ver¬
mehren kann. England hat sich selbst und seine Verbündeten mit Kriegsmaterial
zu versorgen, es hat den Krieg der gesamten Koalition zu finanzieren, und es
muß seine Staatsfinanzen durch seine Ausfuhrindustrie solvent erhalten. Es
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