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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Ein mitteleuropäisch-vorderasiatischer Schiedsgerichtsbund

innerpolitischen Eigenartigkeiten keineswegs größer oder auch nur so groß, wie
zwischen manchen Völkern, die im britischen, russischen oder französischen Welt¬
reich durch viel stärkere staatsrechtliche Bande enger mit einander verknüpft
sind. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen des Christentums
und dem Islam wird niemand leugnen wollen. Aber als gemeinsam ist bei
allen Völkern des Vierbundes die ritterliche Kampfweise des staatlichen Selbst¬
erhaltungstriebes bemerkbar geworden, und in innerpolitischer Hinsicht ist die
Ähnlichkeit des Verfasfungslebens dieser Monarchien mit gewählten Parlamenten
unverkennbar. Das Gebiet zwischen der Nord-Ostsee und dem Indischen Ozean
kann durch Kanäle zwischen den nach Norden strömenden deutschen Flüssen und
der ostwärts gerichteten Donau sowie durch die von der anatolischen Bahn
abzweigenden Linien nach dem Roten Meer und dem Persischen Golf zu einer
um das Ägäische und das Schwarze Meer gelagerten Verkehrseinheit zusammen¬
gefaßt werden. Das mitteleuropäisch-vorderasiatische Wirtschaftsgebiet reicht aus
der nördlich gemäßigten Zone hinein in die tropische und erzeugt alle Bedarfs¬
gegenstände des menschlichen Lebens.

Vor allem aber ist die Einigkeit der Gesinnung vorhanden, die Zusammen¬
gehörigkeit der Landmassen zwischen Nordsee und Irdischen Ozean anzuerkennen,
und des Willens, sie auch nach dem Kriegsende zu behaupten. Herr v. Bethmann-
Hollweg, Frhr. v. Pierer, Graf Andrassy, Ministerpräsident Radoslawow,
Haut Bey, sie alle gehen nach diesem Ziel einig. Hundert Zungen, tausend
Federn sind am Werke, nicht mehr, um die Notwendigkeit eines dauerhaften
Zusammenschlusses zu beweisen, sondern um die Form der Einigung zu erörtern.
Bismarck hinterließ uns in seinen "Gedanken und Erinnerungen" als politisches
Testament den Wunsch nach einer Verewigung des deutsch-österreichisch-ungarischen
Bündnisses durch Verfassungs-Jnartikulierung; sein Werk, so wie es heute, nach
dem Abfall Italiens vom Dreibunde, in Kampf und Not seine Lebenskraft be¬
wiesen hat, ist militärpolitisch durch den Anschluß Bulgariens und der Türkei
erweitert worden. Man erörtert den Gedanken einer Militärkonnention im
Vierbund. Man streitet, ob Zollunion oder Vorzugszölle mit Zwischenzollinien
praktisch vorzuziehen seien. Man ist sich jedenfalls in dem Gedanken einig,
daß sich die Vierbundsstaaten, bevor sie mit den Neutralen und dem heute noch
feindlichen Ausland Handelsverträge abschließen werden, vorher untereinander
über die Zukunft ihrer Handelsbeziehungen zu einander klar werden müssen.
Und niemand kann leugnen, daß die Notwendigkeit, die verkehrspolitische Einheit
Mitteleuropas und Vorderasiens wirksam zu machen, immer wiederkehrende
Verständigungen über den Ausbau der Wasser- und Schienenstraßen sowie die
Verhinderung einer die gegenseitigen Interessen der Vierbundstaaten schädigenden
Tarifpolitik gebietet. Das Gesetz der gemeinsamen Verteidigung gemeinsam
erworbener Errungenschaften untersagt die Wiederkehr auch der geringsten Un¬
einigkeit. So wird der Schiedsgerichtsbund für den Vierbund eine Waffe der
Selbsterhaltung.


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Ein mitteleuropäisch-vorderasiatischer Schiedsgerichtsbund

innerpolitischen Eigenartigkeiten keineswegs größer oder auch nur so groß, wie
zwischen manchen Völkern, die im britischen, russischen oder französischen Welt¬
reich durch viel stärkere staatsrechtliche Bande enger mit einander verknüpft
sind. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen des Christentums
und dem Islam wird niemand leugnen wollen. Aber als gemeinsam ist bei
allen Völkern des Vierbundes die ritterliche Kampfweise des staatlichen Selbst¬
erhaltungstriebes bemerkbar geworden, und in innerpolitischer Hinsicht ist die
Ähnlichkeit des Verfasfungslebens dieser Monarchien mit gewählten Parlamenten
unverkennbar. Das Gebiet zwischen der Nord-Ostsee und dem Indischen Ozean
kann durch Kanäle zwischen den nach Norden strömenden deutschen Flüssen und
der ostwärts gerichteten Donau sowie durch die von der anatolischen Bahn
abzweigenden Linien nach dem Roten Meer und dem Persischen Golf zu einer
um das Ägäische und das Schwarze Meer gelagerten Verkehrseinheit zusammen¬
gefaßt werden. Das mitteleuropäisch-vorderasiatische Wirtschaftsgebiet reicht aus
der nördlich gemäßigten Zone hinein in die tropische und erzeugt alle Bedarfs¬
gegenstände des menschlichen Lebens.

Vor allem aber ist die Einigkeit der Gesinnung vorhanden, die Zusammen¬
gehörigkeit der Landmassen zwischen Nordsee und Irdischen Ozean anzuerkennen,
und des Willens, sie auch nach dem Kriegsende zu behaupten. Herr v. Bethmann-
Hollweg, Frhr. v. Pierer, Graf Andrassy, Ministerpräsident Radoslawow,
Haut Bey, sie alle gehen nach diesem Ziel einig. Hundert Zungen, tausend
Federn sind am Werke, nicht mehr, um die Notwendigkeit eines dauerhaften
Zusammenschlusses zu beweisen, sondern um die Form der Einigung zu erörtern.
Bismarck hinterließ uns in seinen „Gedanken und Erinnerungen" als politisches
Testament den Wunsch nach einer Verewigung des deutsch-österreichisch-ungarischen
Bündnisses durch Verfassungs-Jnartikulierung; sein Werk, so wie es heute, nach
dem Abfall Italiens vom Dreibunde, in Kampf und Not seine Lebenskraft be¬
wiesen hat, ist militärpolitisch durch den Anschluß Bulgariens und der Türkei
erweitert worden. Man erörtert den Gedanken einer Militärkonnention im
Vierbund. Man streitet, ob Zollunion oder Vorzugszölle mit Zwischenzollinien
praktisch vorzuziehen seien. Man ist sich jedenfalls in dem Gedanken einig,
daß sich die Vierbundsstaaten, bevor sie mit den Neutralen und dem heute noch
feindlichen Ausland Handelsverträge abschließen werden, vorher untereinander
über die Zukunft ihrer Handelsbeziehungen zu einander klar werden müssen.
Und niemand kann leugnen, daß die Notwendigkeit, die verkehrspolitische Einheit
Mitteleuropas und Vorderasiens wirksam zu machen, immer wiederkehrende
Verständigungen über den Ausbau der Wasser- und Schienenstraßen sowie die
Verhinderung einer die gegenseitigen Interessen der Vierbundstaaten schädigenden
Tarifpolitik gebietet. Das Gesetz der gemeinsamen Verteidigung gemeinsam
erworbener Errungenschaften untersagt die Wiederkehr auch der geringsten Un¬
einigkeit. So wird der Schiedsgerichtsbund für den Vierbund eine Waffe der
Selbsterhaltung.


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[0111] Ein mitteleuropäisch-vorderasiatischer Schiedsgerichtsbund innerpolitischen Eigenartigkeiten keineswegs größer oder auch nur so groß, wie zwischen manchen Völkern, die im britischen, russischen oder französischen Welt¬ reich durch viel stärkere staatsrechtliche Bande enger mit einander verknüpft sind. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen des Christentums und dem Islam wird niemand leugnen wollen. Aber als gemeinsam ist bei allen Völkern des Vierbundes die ritterliche Kampfweise des staatlichen Selbst¬ erhaltungstriebes bemerkbar geworden, und in innerpolitischer Hinsicht ist die Ähnlichkeit des Verfasfungslebens dieser Monarchien mit gewählten Parlamenten unverkennbar. Das Gebiet zwischen der Nord-Ostsee und dem Indischen Ozean kann durch Kanäle zwischen den nach Norden strömenden deutschen Flüssen und der ostwärts gerichteten Donau sowie durch die von der anatolischen Bahn abzweigenden Linien nach dem Roten Meer und dem Persischen Golf zu einer um das Ägäische und das Schwarze Meer gelagerten Verkehrseinheit zusammen¬ gefaßt werden. Das mitteleuropäisch-vorderasiatische Wirtschaftsgebiet reicht aus der nördlich gemäßigten Zone hinein in die tropische und erzeugt alle Bedarfs¬ gegenstände des menschlichen Lebens. Vor allem aber ist die Einigkeit der Gesinnung vorhanden, die Zusammen¬ gehörigkeit der Landmassen zwischen Nordsee und Irdischen Ozean anzuerkennen, und des Willens, sie auch nach dem Kriegsende zu behaupten. Herr v. Bethmann- Hollweg, Frhr. v. Pierer, Graf Andrassy, Ministerpräsident Radoslawow, Haut Bey, sie alle gehen nach diesem Ziel einig. Hundert Zungen, tausend Federn sind am Werke, nicht mehr, um die Notwendigkeit eines dauerhaften Zusammenschlusses zu beweisen, sondern um die Form der Einigung zu erörtern. Bismarck hinterließ uns in seinen „Gedanken und Erinnerungen" als politisches Testament den Wunsch nach einer Verewigung des deutsch-österreichisch-ungarischen Bündnisses durch Verfassungs-Jnartikulierung; sein Werk, so wie es heute, nach dem Abfall Italiens vom Dreibunde, in Kampf und Not seine Lebenskraft be¬ wiesen hat, ist militärpolitisch durch den Anschluß Bulgariens und der Türkei erweitert worden. Man erörtert den Gedanken einer Militärkonnention im Vierbund. Man streitet, ob Zollunion oder Vorzugszölle mit Zwischenzollinien praktisch vorzuziehen seien. Man ist sich jedenfalls in dem Gedanken einig, daß sich die Vierbundsstaaten, bevor sie mit den Neutralen und dem heute noch feindlichen Ausland Handelsverträge abschließen werden, vorher untereinander über die Zukunft ihrer Handelsbeziehungen zu einander klar werden müssen. Und niemand kann leugnen, daß die Notwendigkeit, die verkehrspolitische Einheit Mitteleuropas und Vorderasiens wirksam zu machen, immer wiederkehrende Verständigungen über den Ausbau der Wasser- und Schienenstraßen sowie die Verhinderung einer die gegenseitigen Interessen der Vierbundstaaten schädigenden Tarifpolitik gebietet. Das Gesetz der gemeinsamen Verteidigung gemeinsam erworbener Errungenschaften untersagt die Wiederkehr auch der geringsten Un¬ einigkeit. So wird der Schiedsgerichtsbund für den Vierbund eine Waffe der Selbsterhaltung. 7»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/111>, abgerufen am 15.01.2025.