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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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immer und überall wieder ins Freie. Selbst bei den kriegführenden Parteien
ist er lebendig geblieben. Wenn Deutschland den Neutralen im Verfolg der
Verhandlungen über Schiffsversenkungen die Einsetzung von Schiedsgerichten
vorschlägt, wenn soeben England und seine überseeischen Besitzungen mit den
Vereinigten Staaten die Richterlisten für das schon früher verabredete ständige
Schiedsgericht austauschten, so sind diese Tatsachen sprechende Zeugen für die
Zähigkeit eines Gedankens, der im Frieden nicht sterben und nicht leben zu
können schien.

Denn wie war es doch auf den beiden Friedenskongressen im Haag, die
dem Weltkrieg vorausgingen? Ein allgemeiner Vertrag aller vertretenen
Staaten über ein Zwangsschiedsgericht und über einen Weltschiedsgerichtshof
war nicht zu erzielen. Es blieb beim "fakultativen" Schiedsgericht und beim
Zugeständnis: wenn ein Schiedsgericht von beiden streitenden Parteien gewünscht
werde, dann sollten die Richter aus der Liste des Haager Tribunals gewählt
werden, falls keine andere Zusammensetzung des Gerichtshofes beliebt würde.
Freiherr v. Marschall, der Vertreter des Deutschen Reiches auf der zweiten
Haager Friedenskonferenz, gab in knapper Form einem Gewährsmann des
"Petit Parisien" am 25. September 1907 die Gründe bekannt, die es Deutsch¬
land unmöglich machten, mit allen Staaten der Welt ohne Ausnahme in ein
Zwangsschiedsgerichts-Verhältnis zu treten. Die gesetzgebenden Körperschaften
und die politischen Zustände, sagte er, seien in den einzelnen Staaten zu
verschieden.

Die Voraussetzung für einen dauernden Schiedsgerichtsspruch zwischen zwei
Staaten ist zunächst, daß es zwischen ihnen für absehbare Zeit niemals zu
Konflikten kommen wird, die Ehre, Unabhängigkeit und Lebensnotwendigkeiten
berühren. Ein Staat, der von Nevanchesucht oder Raubgelüsten gegen uns
oder unsere Verbündeten erfüllt ist, bietet nicht die pupillarische Sicherheit, die
wir für nötig halten, wenn wir uns die dauernde Verpflichtung auferlegen
lassen sollen, auch nur Streitfragen zweiten Grades unbesehen einem Schieds¬
gericht zu überweisen. Eine weitere Bedingung ist annähernde Gleichheit der
Kulturhöhe. Ein Schiedsgerichtsvertrag auf Dauer mit einem Staat, dessen
politische Moral tiefer steht als unsere, wäre ein zweckloses Possenspiel und
eine Herabwürdigung unserer nationalen Ehre. Umgekehrt haben die Vereinigten
Staaten soeben die unter dem Präsidenten Taft begonnene Politik, mit England
zu einem Schiedsgerichtsbündnis zu kommen, unter Wilson durch die Ernennung
ständiger Schiedsrichter zu einem günstigen Abschluß gebracht. Die mittel¬
europäischen Verbündeten spüren die Wirkungen dieser amerikanisch-britischen
Interessengemeinschaft in ihrem heutigen Daseinskämpfe.

Der Weltkrieg hat aber auch die ganze Innigkeit und Verflechtung der
Militär-, wirtschafts- und verkehrspolitischen Interessen der mitteleuropäischen
Großmächte und ihrer Verbündeten im nahen Orient offenbart. Die kulturellen
Verschiedenheiten im neuen Vierbund sind bei allen Rasseeigentümlichkeiten und


immer und überall wieder ins Freie. Selbst bei den kriegführenden Parteien
ist er lebendig geblieben. Wenn Deutschland den Neutralen im Verfolg der
Verhandlungen über Schiffsversenkungen die Einsetzung von Schiedsgerichten
vorschlägt, wenn soeben England und seine überseeischen Besitzungen mit den
Vereinigten Staaten die Richterlisten für das schon früher verabredete ständige
Schiedsgericht austauschten, so sind diese Tatsachen sprechende Zeugen für die
Zähigkeit eines Gedankens, der im Frieden nicht sterben und nicht leben zu
können schien.

Denn wie war es doch auf den beiden Friedenskongressen im Haag, die
dem Weltkrieg vorausgingen? Ein allgemeiner Vertrag aller vertretenen
Staaten über ein Zwangsschiedsgericht und über einen Weltschiedsgerichtshof
war nicht zu erzielen. Es blieb beim „fakultativen" Schiedsgericht und beim
Zugeständnis: wenn ein Schiedsgericht von beiden streitenden Parteien gewünscht
werde, dann sollten die Richter aus der Liste des Haager Tribunals gewählt
werden, falls keine andere Zusammensetzung des Gerichtshofes beliebt würde.
Freiherr v. Marschall, der Vertreter des Deutschen Reiches auf der zweiten
Haager Friedenskonferenz, gab in knapper Form einem Gewährsmann des
„Petit Parisien" am 25. September 1907 die Gründe bekannt, die es Deutsch¬
land unmöglich machten, mit allen Staaten der Welt ohne Ausnahme in ein
Zwangsschiedsgerichts-Verhältnis zu treten. Die gesetzgebenden Körperschaften
und die politischen Zustände, sagte er, seien in den einzelnen Staaten zu
verschieden.

Die Voraussetzung für einen dauernden Schiedsgerichtsspruch zwischen zwei
Staaten ist zunächst, daß es zwischen ihnen für absehbare Zeit niemals zu
Konflikten kommen wird, die Ehre, Unabhängigkeit und Lebensnotwendigkeiten
berühren. Ein Staat, der von Nevanchesucht oder Raubgelüsten gegen uns
oder unsere Verbündeten erfüllt ist, bietet nicht die pupillarische Sicherheit, die
wir für nötig halten, wenn wir uns die dauernde Verpflichtung auferlegen
lassen sollen, auch nur Streitfragen zweiten Grades unbesehen einem Schieds¬
gericht zu überweisen. Eine weitere Bedingung ist annähernde Gleichheit der
Kulturhöhe. Ein Schiedsgerichtsvertrag auf Dauer mit einem Staat, dessen
politische Moral tiefer steht als unsere, wäre ein zweckloses Possenspiel und
eine Herabwürdigung unserer nationalen Ehre. Umgekehrt haben die Vereinigten
Staaten soeben die unter dem Präsidenten Taft begonnene Politik, mit England
zu einem Schiedsgerichtsbündnis zu kommen, unter Wilson durch die Ernennung
ständiger Schiedsrichter zu einem günstigen Abschluß gebracht. Die mittel¬
europäischen Verbündeten spüren die Wirkungen dieser amerikanisch-britischen
Interessengemeinschaft in ihrem heutigen Daseinskämpfe.

Der Weltkrieg hat aber auch die ganze Innigkeit und Verflechtung der
Militär-, wirtschafts- und verkehrspolitischen Interessen der mitteleuropäischen
Großmächte und ihrer Verbündeten im nahen Orient offenbart. Die kulturellen
Verschiedenheiten im neuen Vierbund sind bei allen Rasseeigentümlichkeiten und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/110>, abgerufen am 15.01.2025.