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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Der heilige Berg

der schweren Geschütze, die das Herz erbeben machen, die Lust erschüttern, die
Eingeweide der Mutter Erde aufwühlen, so daß sie das Blut ihrer Kinder
trinkt?! Was bedeutet die Flotte des Mardonios, die 492 v. Chr. den um den
Athos tobenden Stürmen zum Opfer fiel; was bedeuten die tausend Dreiruderer,
denen fünfzehn Jahre später Xerxes einen sicheren Kanal durch die Halbinsel
graben ließ, gegen die Meeresriesen, die heute wie gefeit gegen Sturm und
Schicksal das ägäische Meer durchrauschen, um Hunderttausende von Kriegern
und Kriegsmaschinen ans Land zu speien? Kleine schlanke Jäger pirschen hinter
ihnen her, jagen ihnen den Torpedo in die Seite, und die Giganten versinken
in den lichtlosen Abgrund, aus dem es keine Wiederkehr mehr gibt.

Die Augen der Anachoreten weiten sich vor Entsetzen und das Blut erstarrt
in ihren Adern, wenn sie aus der heiligen, göttergleichen, himmelnahen Ruhe
ihres Heiligtums durch so grausige Gewalten aufgeschreckt werden.

Ehemals thronte auf der Bergesspitze der thrakische Zeus; heute erhebt sich
dort die Maria-Himmelfahrt-Kapelle. Unten in einem Tempel am Meeresufer,
dessen Stelle jetzt die Abtei des Philotheos einnimmt, feierten die alten Athoniten
ihre Volksfeste, von denen die Tradition noch lebendig geblieben ist. Schon
früh jedoch in der christlichen Zeit sollen Einsiedler auf dem waldreichen Eiland
Zuflucht vor den Irrungen und Wirrungen des Lebens gesucht und gefunden
haben. Die eigentlichen Klöster aber wurden erst im neunten Jahrhundert
erbaut.

Der Mönch Athanastus gab allen durch sein Kloster Muster und Regel.
Heute gibts deren zwanzig; das jüngste stammt aus dem Jahre 1542. Griechische
Kaiser, slawische Fürsten, fromme Gläubige wetteiferten mit Stiftungen. Das
erste kleine Kirchlein ward umgestaltet zum prächtigen Tempel, die gras¬
bedachten Hütten der ersten Einsiedler wichen steinernen Klausen mit Gärten,
Ackern und Obstpflanzungen.

Als die Türken den Balkan eroberten, unterwarfen sich die Mönche frei¬
willig. Dadurch erlangten sie gegen einen jährlichen Tribut völlige Freiheit in
der Verwaltung ihres Gemeinwesens. Kein Muselmann, außer dem Vertreter
der Pforte, durfte den Athos betreten. Selbst dann, als die Mönche den
griechischen Freiheitskampf unterstützten, büßten sie ihre Unabhängigkeit nicht
ein; so große Rücksicht mußten die Türken auf sie nehmen wegen des Ansehens,
das sie im ganzen Orient genossen.

Das Mönchsleben hat auf diesem Eiland Erscheinungsformen gezeitigt,
die sonst in der Christenheit unbekannt sind. Ursprünglich besaßen die Mönche
eine monarchische Verfassung und forderten das gemeinsame Leben nach der
Regel des si. Basilius (f 379). An der Spitze eines jeden Klosters stand ein
Abt, Hegumenos, die Hegumenoi aller Klöster aber bildeten in der Synais
unter dem Protos die oberste Behörde des Klosterstaates. Seit dem vierzehnten
Jahrhundert jedoch lockerte sich das gemeinsame Leben; die strenge Zucht ließ
nach und erlaubte den Mönchen persönliches Eigentum. Diejenigen, welche von


Der heilige Berg

der schweren Geschütze, die das Herz erbeben machen, die Lust erschüttern, die
Eingeweide der Mutter Erde aufwühlen, so daß sie das Blut ihrer Kinder
trinkt?! Was bedeutet die Flotte des Mardonios, die 492 v. Chr. den um den
Athos tobenden Stürmen zum Opfer fiel; was bedeuten die tausend Dreiruderer,
denen fünfzehn Jahre später Xerxes einen sicheren Kanal durch die Halbinsel
graben ließ, gegen die Meeresriesen, die heute wie gefeit gegen Sturm und
Schicksal das ägäische Meer durchrauschen, um Hunderttausende von Kriegern
und Kriegsmaschinen ans Land zu speien? Kleine schlanke Jäger pirschen hinter
ihnen her, jagen ihnen den Torpedo in die Seite, und die Giganten versinken
in den lichtlosen Abgrund, aus dem es keine Wiederkehr mehr gibt.

Die Augen der Anachoreten weiten sich vor Entsetzen und das Blut erstarrt
in ihren Adern, wenn sie aus der heiligen, göttergleichen, himmelnahen Ruhe
ihres Heiligtums durch so grausige Gewalten aufgeschreckt werden.

Ehemals thronte auf der Bergesspitze der thrakische Zeus; heute erhebt sich
dort die Maria-Himmelfahrt-Kapelle. Unten in einem Tempel am Meeresufer,
dessen Stelle jetzt die Abtei des Philotheos einnimmt, feierten die alten Athoniten
ihre Volksfeste, von denen die Tradition noch lebendig geblieben ist. Schon
früh jedoch in der christlichen Zeit sollen Einsiedler auf dem waldreichen Eiland
Zuflucht vor den Irrungen und Wirrungen des Lebens gesucht und gefunden
haben. Die eigentlichen Klöster aber wurden erst im neunten Jahrhundert
erbaut.

Der Mönch Athanastus gab allen durch sein Kloster Muster und Regel.
Heute gibts deren zwanzig; das jüngste stammt aus dem Jahre 1542. Griechische
Kaiser, slawische Fürsten, fromme Gläubige wetteiferten mit Stiftungen. Das
erste kleine Kirchlein ward umgestaltet zum prächtigen Tempel, die gras¬
bedachten Hütten der ersten Einsiedler wichen steinernen Klausen mit Gärten,
Ackern und Obstpflanzungen.

Als die Türken den Balkan eroberten, unterwarfen sich die Mönche frei¬
willig. Dadurch erlangten sie gegen einen jährlichen Tribut völlige Freiheit in
der Verwaltung ihres Gemeinwesens. Kein Muselmann, außer dem Vertreter
der Pforte, durfte den Athos betreten. Selbst dann, als die Mönche den
griechischen Freiheitskampf unterstützten, büßten sie ihre Unabhängigkeit nicht
ein; so große Rücksicht mußten die Türken auf sie nehmen wegen des Ansehens,
das sie im ganzen Orient genossen.

Das Mönchsleben hat auf diesem Eiland Erscheinungsformen gezeitigt,
die sonst in der Christenheit unbekannt sind. Ursprünglich besaßen die Mönche
eine monarchische Verfassung und forderten das gemeinsame Leben nach der
Regel des si. Basilius (f 379). An der Spitze eines jeden Klosters stand ein
Abt, Hegumenos, die Hegumenoi aller Klöster aber bildeten in der Synais
unter dem Protos die oberste Behörde des Klosterstaates. Seit dem vierzehnten
Jahrhundert jedoch lockerte sich das gemeinsame Leben; die strenge Zucht ließ
nach und erlaubte den Mönchen persönliches Eigentum. Diejenigen, welche von


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[0106] Der heilige Berg der schweren Geschütze, die das Herz erbeben machen, die Lust erschüttern, die Eingeweide der Mutter Erde aufwühlen, so daß sie das Blut ihrer Kinder trinkt?! Was bedeutet die Flotte des Mardonios, die 492 v. Chr. den um den Athos tobenden Stürmen zum Opfer fiel; was bedeuten die tausend Dreiruderer, denen fünfzehn Jahre später Xerxes einen sicheren Kanal durch die Halbinsel graben ließ, gegen die Meeresriesen, die heute wie gefeit gegen Sturm und Schicksal das ägäische Meer durchrauschen, um Hunderttausende von Kriegern und Kriegsmaschinen ans Land zu speien? Kleine schlanke Jäger pirschen hinter ihnen her, jagen ihnen den Torpedo in die Seite, und die Giganten versinken in den lichtlosen Abgrund, aus dem es keine Wiederkehr mehr gibt. Die Augen der Anachoreten weiten sich vor Entsetzen und das Blut erstarrt in ihren Adern, wenn sie aus der heiligen, göttergleichen, himmelnahen Ruhe ihres Heiligtums durch so grausige Gewalten aufgeschreckt werden. Ehemals thronte auf der Bergesspitze der thrakische Zeus; heute erhebt sich dort die Maria-Himmelfahrt-Kapelle. Unten in einem Tempel am Meeresufer, dessen Stelle jetzt die Abtei des Philotheos einnimmt, feierten die alten Athoniten ihre Volksfeste, von denen die Tradition noch lebendig geblieben ist. Schon früh jedoch in der christlichen Zeit sollen Einsiedler auf dem waldreichen Eiland Zuflucht vor den Irrungen und Wirrungen des Lebens gesucht und gefunden haben. Die eigentlichen Klöster aber wurden erst im neunten Jahrhundert erbaut. Der Mönch Athanastus gab allen durch sein Kloster Muster und Regel. Heute gibts deren zwanzig; das jüngste stammt aus dem Jahre 1542. Griechische Kaiser, slawische Fürsten, fromme Gläubige wetteiferten mit Stiftungen. Das erste kleine Kirchlein ward umgestaltet zum prächtigen Tempel, die gras¬ bedachten Hütten der ersten Einsiedler wichen steinernen Klausen mit Gärten, Ackern und Obstpflanzungen. Als die Türken den Balkan eroberten, unterwarfen sich die Mönche frei¬ willig. Dadurch erlangten sie gegen einen jährlichen Tribut völlige Freiheit in der Verwaltung ihres Gemeinwesens. Kein Muselmann, außer dem Vertreter der Pforte, durfte den Athos betreten. Selbst dann, als die Mönche den griechischen Freiheitskampf unterstützten, büßten sie ihre Unabhängigkeit nicht ein; so große Rücksicht mußten die Türken auf sie nehmen wegen des Ansehens, das sie im ganzen Orient genossen. Das Mönchsleben hat auf diesem Eiland Erscheinungsformen gezeitigt, die sonst in der Christenheit unbekannt sind. Ursprünglich besaßen die Mönche eine monarchische Verfassung und forderten das gemeinsame Leben nach der Regel des si. Basilius (f 379). An der Spitze eines jeden Klosters stand ein Abt, Hegumenos, die Hegumenoi aller Klöster aber bildeten in der Synais unter dem Protos die oberste Behörde des Klosterstaates. Seit dem vierzehnten Jahrhundert jedoch lockerte sich das gemeinsame Leben; die strenge Zucht ließ nach und erlaubte den Mönchen persönliches Eigentum. Diejenigen, welche von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/106>, abgerufen am 15.01.2025.