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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Aus Emanuel Geibels Schülerzeit

Insbesondere hat sein Volk ein Recht darauf, eines solchen Mannes, seines
erklärten Lieblingssängers, ganzes Schaffen kennen zu lernen. Dieses wird uns
zunächst erschlossen durch sein köstliches Vermächtnis an sein Volk: die vom
Dichter selbst noch in seinen letzten Lebensjahren veranstaltete Gesamtausgabe
seiner Werke*), die in einer einzigarten Weise die stufenweise aufsteigende Ent¬
wicklung seines dichterischen Schaffens darstellt. Seinen Glauben aber, daß er
seinem Volke doch noch mehr zu bieten habe, hat er verraten durch den Wunsch,
es möge auch aus seinem dichterischen Nachlaß noch ein stattlicher Band Gedichte
mitgeteilt werden. Dies geschah 1896 als die "Gedichte aus dem Nachlaß"
erschienen. Außerdem aber liegt auch noch eine größere Anzahl von Gedichten,
die weder in diesen beiden Sammlungen noch auch in den Einzelausgaben ent¬
halten find, zerstreut in Einzeldrucken oder in Zeitschriften, Zeitungen und
Lebensbeschreibungen gedruckt vor, eine blühende Schar -- ich zählte bis
jetzt 225 --, wohl wert, einmal zusammengestellt zu werden.

Dabei wäre auch durchaus nicht ablehnend über die "Jugendgedichte"
wegzuheben! Er selbst hat sie nicht mißachtet und immer wieder einige in die
einzelnen Gedichtausgaben nachgeschoben. Ja es wird manches Auge gerade
den Anfängen eines sich entwickelnden wahrlich nicht alltäglichen Dichtertalents
teilnehmend sich zuwenden, das bei seinem ersten Auftreten in einer Zeit politischer
Überreizung zunächst freilich vorwiegend die warme Liebe der Frauenwelt fand,
bald aber von der hohen Achtung aller gebildeten Kreise getragen und auf
seinem Höhepunkt im Jahre 1870/71 vom begeisterten Beifallsruf der ganzen
Nation umbraust war.

So sei es denn heute, an des Dichters Ehrentag, gewagt, unserem Volke
einen weiteren Beitrag zu feiner Kenntnis zu bieten, dem Umfang nach größer
als bisher irgendeiner erschienen ist: er besteht in einem Briefe und neunzehn
Gedichten aus der Zeit, da er noch Schüler der obersten Klassen des Lübecker
Katharinen-Gymnasiums gewesen ist.

Emanuel Geibel hat in einer Zeit, da vielfach Primaner nichtpreußischer
Gymnasien solange die Schule besuchten, als sie ihnen etwas zu bieten hatte,
und dann oft, ohne eine Reifeprüfung bestanden zu haben -- sie war in
Lübeck nur von Stipendiaten abzulegen -- die Hochschule bezogen, elf Jahre lang
der genannten Anstalt angehört, von Ostern 1824 bis Ostern 1835. Bei seinem Ein¬
tritt nicht gerade groß von Gestalt, erreichte er auch später kaum Mittelgröße. Aber
ein derber, strammer, starker Junge war er, zu wildem Spiel, zu lustigen Streichen
stets aufgelegt! "Bis in das zwanzigste Jahr fast blieb ich ein Knabe", sagt
er selbst**), in "den umfriedeten Kreis von Haus und Schule beschlossen""**). Die
Klassen Prima bis Quarta umfaßten je zwei Jahrgänge; in Quinta übersprang
er eine Ordnung, blieb aber in der anderen ein halbes Jahr länger, und ebenso





") Emanuel Geibels gesammelte Werke in acht Bänden. Stuttgart, Cotta, 1383.
**) Spätherbstblätter, S. 231.
Gedicht aus dem Nachlaß, S. 231.
Aus Emanuel Geibels Schülerzeit

Insbesondere hat sein Volk ein Recht darauf, eines solchen Mannes, seines
erklärten Lieblingssängers, ganzes Schaffen kennen zu lernen. Dieses wird uns
zunächst erschlossen durch sein köstliches Vermächtnis an sein Volk: die vom
Dichter selbst noch in seinen letzten Lebensjahren veranstaltete Gesamtausgabe
seiner Werke*), die in einer einzigarten Weise die stufenweise aufsteigende Ent¬
wicklung seines dichterischen Schaffens darstellt. Seinen Glauben aber, daß er
seinem Volke doch noch mehr zu bieten habe, hat er verraten durch den Wunsch,
es möge auch aus seinem dichterischen Nachlaß noch ein stattlicher Band Gedichte
mitgeteilt werden. Dies geschah 1896 als die „Gedichte aus dem Nachlaß"
erschienen. Außerdem aber liegt auch noch eine größere Anzahl von Gedichten,
die weder in diesen beiden Sammlungen noch auch in den Einzelausgaben ent¬
halten find, zerstreut in Einzeldrucken oder in Zeitschriften, Zeitungen und
Lebensbeschreibungen gedruckt vor, eine blühende Schar — ich zählte bis
jetzt 225 —, wohl wert, einmal zusammengestellt zu werden.

Dabei wäre auch durchaus nicht ablehnend über die „Jugendgedichte"
wegzuheben! Er selbst hat sie nicht mißachtet und immer wieder einige in die
einzelnen Gedichtausgaben nachgeschoben. Ja es wird manches Auge gerade
den Anfängen eines sich entwickelnden wahrlich nicht alltäglichen Dichtertalents
teilnehmend sich zuwenden, das bei seinem ersten Auftreten in einer Zeit politischer
Überreizung zunächst freilich vorwiegend die warme Liebe der Frauenwelt fand,
bald aber von der hohen Achtung aller gebildeten Kreise getragen und auf
seinem Höhepunkt im Jahre 1870/71 vom begeisterten Beifallsruf der ganzen
Nation umbraust war.

So sei es denn heute, an des Dichters Ehrentag, gewagt, unserem Volke
einen weiteren Beitrag zu feiner Kenntnis zu bieten, dem Umfang nach größer
als bisher irgendeiner erschienen ist: er besteht in einem Briefe und neunzehn
Gedichten aus der Zeit, da er noch Schüler der obersten Klassen des Lübecker
Katharinen-Gymnasiums gewesen ist.

Emanuel Geibel hat in einer Zeit, da vielfach Primaner nichtpreußischer
Gymnasien solange die Schule besuchten, als sie ihnen etwas zu bieten hatte,
und dann oft, ohne eine Reifeprüfung bestanden zu haben — sie war in
Lübeck nur von Stipendiaten abzulegen — die Hochschule bezogen, elf Jahre lang
der genannten Anstalt angehört, von Ostern 1824 bis Ostern 1835. Bei seinem Ein¬
tritt nicht gerade groß von Gestalt, erreichte er auch später kaum Mittelgröße. Aber
ein derber, strammer, starker Junge war er, zu wildem Spiel, zu lustigen Streichen
stets aufgelegt! „Bis in das zwanzigste Jahr fast blieb ich ein Knabe", sagt
er selbst**), in „den umfriedeten Kreis von Haus und Schule beschlossen""**). Die
Klassen Prima bis Quarta umfaßten je zwei Jahrgänge; in Quinta übersprang
er eine Ordnung, blieb aber in der anderen ein halbes Jahr länger, und ebenso





") Emanuel Geibels gesammelte Werke in acht Bänden. Stuttgart, Cotta, 1383.
**) Spätherbstblätter, S. 231.
Gedicht aus dem Nachlaß, S. 231.
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[0058] Aus Emanuel Geibels Schülerzeit Insbesondere hat sein Volk ein Recht darauf, eines solchen Mannes, seines erklärten Lieblingssängers, ganzes Schaffen kennen zu lernen. Dieses wird uns zunächst erschlossen durch sein köstliches Vermächtnis an sein Volk: die vom Dichter selbst noch in seinen letzten Lebensjahren veranstaltete Gesamtausgabe seiner Werke*), die in einer einzigarten Weise die stufenweise aufsteigende Ent¬ wicklung seines dichterischen Schaffens darstellt. Seinen Glauben aber, daß er seinem Volke doch noch mehr zu bieten habe, hat er verraten durch den Wunsch, es möge auch aus seinem dichterischen Nachlaß noch ein stattlicher Band Gedichte mitgeteilt werden. Dies geschah 1896 als die „Gedichte aus dem Nachlaß" erschienen. Außerdem aber liegt auch noch eine größere Anzahl von Gedichten, die weder in diesen beiden Sammlungen noch auch in den Einzelausgaben ent¬ halten find, zerstreut in Einzeldrucken oder in Zeitschriften, Zeitungen und Lebensbeschreibungen gedruckt vor, eine blühende Schar — ich zählte bis jetzt 225 —, wohl wert, einmal zusammengestellt zu werden. Dabei wäre auch durchaus nicht ablehnend über die „Jugendgedichte" wegzuheben! Er selbst hat sie nicht mißachtet und immer wieder einige in die einzelnen Gedichtausgaben nachgeschoben. Ja es wird manches Auge gerade den Anfängen eines sich entwickelnden wahrlich nicht alltäglichen Dichtertalents teilnehmend sich zuwenden, das bei seinem ersten Auftreten in einer Zeit politischer Überreizung zunächst freilich vorwiegend die warme Liebe der Frauenwelt fand, bald aber von der hohen Achtung aller gebildeten Kreise getragen und auf seinem Höhepunkt im Jahre 1870/71 vom begeisterten Beifallsruf der ganzen Nation umbraust war. So sei es denn heute, an des Dichters Ehrentag, gewagt, unserem Volke einen weiteren Beitrag zu feiner Kenntnis zu bieten, dem Umfang nach größer als bisher irgendeiner erschienen ist: er besteht in einem Briefe und neunzehn Gedichten aus der Zeit, da er noch Schüler der obersten Klassen des Lübecker Katharinen-Gymnasiums gewesen ist. Emanuel Geibel hat in einer Zeit, da vielfach Primaner nichtpreußischer Gymnasien solange die Schule besuchten, als sie ihnen etwas zu bieten hatte, und dann oft, ohne eine Reifeprüfung bestanden zu haben — sie war in Lübeck nur von Stipendiaten abzulegen — die Hochschule bezogen, elf Jahre lang der genannten Anstalt angehört, von Ostern 1824 bis Ostern 1835. Bei seinem Ein¬ tritt nicht gerade groß von Gestalt, erreichte er auch später kaum Mittelgröße. Aber ein derber, strammer, starker Junge war er, zu wildem Spiel, zu lustigen Streichen stets aufgelegt! „Bis in das zwanzigste Jahr fast blieb ich ein Knabe", sagt er selbst**), in „den umfriedeten Kreis von Haus und Schule beschlossen""**). Die Klassen Prima bis Quarta umfaßten je zwei Jahrgänge; in Quinta übersprang er eine Ordnung, blieb aber in der anderen ein halbes Jahr länger, und ebenso ") Emanuel Geibels gesammelte Werke in acht Bänden. Stuttgart, Cotta, 1383. **) Spätherbstblätter, S. 231. Gedicht aus dem Nachlaß, S. 231.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/58>, abgerufen am 22.07.2024.