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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Bulgarien nach fünfzig Jahren

die sechs weiß gekleideten und weiß beflügelter Kinder eintreten, das deutsche
Mädchen unter dem Christbaum umringen und aus ihrer und der Bulgarin
Händen die Gaben empfangen, die sie den Anwesenden mit einem deutschen
Weihnachtsgruß zutrugen. Jeder bekam eine Liebesgabe, auch der, dem die
Post nichts aus der Heimat gebracht hatte. Als die Kleinen, sich an den
Händen haltend, darauf unter dem Baum, von Fräulein Gretchen geleitet,
"O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit" sangen, während
das Harmonium mit leisem Klänge die hellen Stimmen unterstützte, da ging
ein gleiches menschliches Empfinden über jedes Antlitz, das heilige Bewußtsein,
eins zu sein in edler Menschlichkeit.

Die kleinen Sänger, verschiedenen Nationalitäten, verschiedenen Sprach¬
gebieten angehörend, wußten ihre Zungen dem deutschen Text mit bewunderungs¬
würdiger Geschicklichkeit anzupassen. Nachdem sie geendet, und jedes in die
Arme der Mutter flog, wurden die englischen, die dänischen, die französischen
Eltern nicht müde, die deutschen Worte noch einmal und noch einmal von den
Lippen des Lieblings zu vernehmen. Dann versammlte Grete die Schar um
sich und goß ein Füllhorn weihnachtlicher Freuden und Überraschungen über
sie aus.

Einige Stunden später hatte sich der Kreis etwas gelichtet. Schon waltete
der Traum über den Bettchen der kleinen Weihnachtsengel, und die früher
Ruhe Bedürftigen hatten die Stille ihres Zimmers aufgesucht. Italienische
Harfen- und Lautenspieler waren gekommen und nach vollbrachtem Vortrag
beschenkt wieder gegangen. Noch knisterten leise und melodisch die Lichter in
den Zweigen, und die Zurückgebliebenen hatten sich enger um die Tanne
gruppiert.

"Warum gerade die deutsche Weihnachtsfeier überall? Jemand sprach
es aus, was allen heut schon durch den Sinn gegangen war. "Weil sie die
liebenswürdigste ist, dünkt mich," sagte der bulgarische Doktor. Er stand mit
seinem Glase in der Hand vor Fräulein Gretchen, lächelte sie dankbar be¬
wundernd an und setzte noch hinzu: "Und unsere deutsche Festordnerin hat
uns allen einmal wieder in kleinem Rahmen aä oculus demonstriert, wie
man durch Organisation die schwierigsten Aufgaben spielend löst. ..."

"Herr Doktor, Sie scherzen," unterbrach abwehrend das junge Mädchen,
"was habe ich getan? Ich? schwierige und gar schwierigste Aufgaben gelöst?
Wahrlich, nichts anderes habe ich getan, als das liebe, liebe Weihnachtsfest
mit meinen Mitmenschen und Freunden gemeinsam genossen, so wie wirs da¬
heim von Mütterchen schon als Kinder gelernt haben. Die Idee, Herr Doktor,
die alles bezwingende Idee des Christfestes, die ist das schaffende, das allbe¬
zwingende das erfolgsichere."

"Gewiß, die Idee liegt für Alle da, im Schoße der Kultur ruht sie, aber
sie lebendig, für andere faßbar machen, dazu bedarf es eben dessen, was die
Deutschen so fest und sicher macht, so sicher und geschlossen vorwärts komme"


Bulgarien nach fünfzig Jahren

die sechs weiß gekleideten und weiß beflügelter Kinder eintreten, das deutsche
Mädchen unter dem Christbaum umringen und aus ihrer und der Bulgarin
Händen die Gaben empfangen, die sie den Anwesenden mit einem deutschen
Weihnachtsgruß zutrugen. Jeder bekam eine Liebesgabe, auch der, dem die
Post nichts aus der Heimat gebracht hatte. Als die Kleinen, sich an den
Händen haltend, darauf unter dem Baum, von Fräulein Gretchen geleitet,
„O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit" sangen, während
das Harmonium mit leisem Klänge die hellen Stimmen unterstützte, da ging
ein gleiches menschliches Empfinden über jedes Antlitz, das heilige Bewußtsein,
eins zu sein in edler Menschlichkeit.

Die kleinen Sänger, verschiedenen Nationalitäten, verschiedenen Sprach¬
gebieten angehörend, wußten ihre Zungen dem deutschen Text mit bewunderungs¬
würdiger Geschicklichkeit anzupassen. Nachdem sie geendet, und jedes in die
Arme der Mutter flog, wurden die englischen, die dänischen, die französischen
Eltern nicht müde, die deutschen Worte noch einmal und noch einmal von den
Lippen des Lieblings zu vernehmen. Dann versammlte Grete die Schar um
sich und goß ein Füllhorn weihnachtlicher Freuden und Überraschungen über
sie aus.

Einige Stunden später hatte sich der Kreis etwas gelichtet. Schon waltete
der Traum über den Bettchen der kleinen Weihnachtsengel, und die früher
Ruhe Bedürftigen hatten die Stille ihres Zimmers aufgesucht. Italienische
Harfen- und Lautenspieler waren gekommen und nach vollbrachtem Vortrag
beschenkt wieder gegangen. Noch knisterten leise und melodisch die Lichter in
den Zweigen, und die Zurückgebliebenen hatten sich enger um die Tanne
gruppiert.

„Warum gerade die deutsche Weihnachtsfeier überall? Jemand sprach
es aus, was allen heut schon durch den Sinn gegangen war. „Weil sie die
liebenswürdigste ist, dünkt mich," sagte der bulgarische Doktor. Er stand mit
seinem Glase in der Hand vor Fräulein Gretchen, lächelte sie dankbar be¬
wundernd an und setzte noch hinzu: „Und unsere deutsche Festordnerin hat
uns allen einmal wieder in kleinem Rahmen aä oculus demonstriert, wie
man durch Organisation die schwierigsten Aufgaben spielend löst. ..."

„Herr Doktor, Sie scherzen," unterbrach abwehrend das junge Mädchen,
„was habe ich getan? Ich? schwierige und gar schwierigste Aufgaben gelöst?
Wahrlich, nichts anderes habe ich getan, als das liebe, liebe Weihnachtsfest
mit meinen Mitmenschen und Freunden gemeinsam genossen, so wie wirs da¬
heim von Mütterchen schon als Kinder gelernt haben. Die Idee, Herr Doktor,
die alles bezwingende Idee des Christfestes, die ist das schaffende, das allbe¬
zwingende das erfolgsichere."

„Gewiß, die Idee liegt für Alle da, im Schoße der Kultur ruht sie, aber
sie lebendig, für andere faßbar machen, dazu bedarf es eben dessen, was die
Deutschen so fest und sicher macht, so sicher und geschlossen vorwärts komme«


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[0384] Bulgarien nach fünfzig Jahren die sechs weiß gekleideten und weiß beflügelter Kinder eintreten, das deutsche Mädchen unter dem Christbaum umringen und aus ihrer und der Bulgarin Händen die Gaben empfangen, die sie den Anwesenden mit einem deutschen Weihnachtsgruß zutrugen. Jeder bekam eine Liebesgabe, auch der, dem die Post nichts aus der Heimat gebracht hatte. Als die Kleinen, sich an den Händen haltend, darauf unter dem Baum, von Fräulein Gretchen geleitet, „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit" sangen, während das Harmonium mit leisem Klänge die hellen Stimmen unterstützte, da ging ein gleiches menschliches Empfinden über jedes Antlitz, das heilige Bewußtsein, eins zu sein in edler Menschlichkeit. Die kleinen Sänger, verschiedenen Nationalitäten, verschiedenen Sprach¬ gebieten angehörend, wußten ihre Zungen dem deutschen Text mit bewunderungs¬ würdiger Geschicklichkeit anzupassen. Nachdem sie geendet, und jedes in die Arme der Mutter flog, wurden die englischen, die dänischen, die französischen Eltern nicht müde, die deutschen Worte noch einmal und noch einmal von den Lippen des Lieblings zu vernehmen. Dann versammlte Grete die Schar um sich und goß ein Füllhorn weihnachtlicher Freuden und Überraschungen über sie aus. Einige Stunden später hatte sich der Kreis etwas gelichtet. Schon waltete der Traum über den Bettchen der kleinen Weihnachtsengel, und die früher Ruhe Bedürftigen hatten die Stille ihres Zimmers aufgesucht. Italienische Harfen- und Lautenspieler waren gekommen und nach vollbrachtem Vortrag beschenkt wieder gegangen. Noch knisterten leise und melodisch die Lichter in den Zweigen, und die Zurückgebliebenen hatten sich enger um die Tanne gruppiert. „Warum gerade die deutsche Weihnachtsfeier überall? Jemand sprach es aus, was allen heut schon durch den Sinn gegangen war. „Weil sie die liebenswürdigste ist, dünkt mich," sagte der bulgarische Doktor. Er stand mit seinem Glase in der Hand vor Fräulein Gretchen, lächelte sie dankbar be¬ wundernd an und setzte noch hinzu: „Und unsere deutsche Festordnerin hat uns allen einmal wieder in kleinem Rahmen aä oculus demonstriert, wie man durch Organisation die schwierigsten Aufgaben spielend löst. ..." „Herr Doktor, Sie scherzen," unterbrach abwehrend das junge Mädchen, „was habe ich getan? Ich? schwierige und gar schwierigste Aufgaben gelöst? Wahrlich, nichts anderes habe ich getan, als das liebe, liebe Weihnachtsfest mit meinen Mitmenschen und Freunden gemeinsam genossen, so wie wirs da¬ heim von Mütterchen schon als Kinder gelernt haben. Die Idee, Herr Doktor, die alles bezwingende Idee des Christfestes, die ist das schaffende, das allbe¬ zwingende das erfolgsichere." „Gewiß, die Idee liegt für Alle da, im Schoße der Kultur ruht sie, aber sie lebendig, für andere faßbar machen, dazu bedarf es eben dessen, was die Deutschen so fest und sicher macht, so sicher und geschlossen vorwärts komme«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/384>, abgerufen am 22.07.2024.