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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen

Hierzu kommen noch etwa zehn "Kirchenschulen", das heißt von der Kirche
erhaltene Elementarschulen, Schülerwerkstätten, Kindergärten.

Was steht diesem blühenden deutschen Schulwesen an lettischen und cöl-
nischen Schulen gegenüber? Bis zur Nusstfizierung der Ostseeprovinzen, bis 1887,
hatte jede Gemeinde ihre Volksschule, die den Kindern in keltischer und chemischer
Sprache die Elementarkenntnisse vermittelte. Sie wurde und wird "och heute
von der Gemeinde verwaltet. In Livland war und ist in jedem Kirchspiele
der Gemeindeschule eine höhere Volksschule, die sogenannte Kirchspielschule,
übergeordnet, wo der Unterricht gleichfalls in der Muttersprache stattfindet. Die
Lasten tragen Gutsbesitzer und Bauern nach Maßgabe des Reinertrags ihrer
Güter gemeinsam. Ebenso liegt die Verwaltung in den Händen zweier Selbst¬
verwaltungsbehörden -- seit der Nusstfizierung aber nur noch ac jure, nicht
6e facto --, zu der Bauern und Großgrundbesitzer gehören. Der Schulbesuch
war in der deutschen Zeit unentgeltlich und obligatorisch. Die Lehrer wurden
in Seminarien ausgebildet, die von der Ritterschaft begründet und erhalten worden
waren. Es gab zwei Volks-(Gemeinde-) Schullehrerseminarien in Livland. je
eins in Kurland und in Estland, außerdem ein Seminar für die Kirchspielschullehrer
in Livland. 1887 wurde in den oberen Abteilungen der Gemeindeschule und
den Kirchspielschulen auf Befehl der Regierung die russische Unterrichtssprache
eingeführt. Im Anfangsunterricht wurde die Muttersprache "je nach Erfordernis"
zugelassen, das heißt verschwand aus dem Unterricht ganz oder fast ganz. Die
Aufsicht über den Unterricht wurde russischen Volksschuldirektoren und "Inspektoren
übertragen. Nach der Revolution wurde durch das Zirkular des Lehrbezirks-
kumtors Lewschin vom 9. Oktober 1906 festgesetzt, daß in den Volksschulen
während der ersten zwei Lehrjahre der Unterricht in der Muttersprache statt¬
zufinden habe. Diese Vergünstigung wurde am 27. August 1913 durch den
Kurator Schtscherbakow wieder aufgehoben, sodaß fortan vom ersten Schultage
ab wieder in der den Kindern völlig fremden russischen Sprache "unterrichtet"
werden mußte.

Seit der Russifizierung befanden sich also Letten und Ehlen in gleicher
Notlage wie die Deutschen. Seit der Revolution hatten sie aber dasselbe Recht
wie diese, Privatschulen (ohne Rechte) mit der Muttersprache als Unterrichtssprache
Su gründen. Haben sie dies Recht wie die Deutschen ausgenutzt? Es ist schon
charakteristisch, daß man nur sehr schwer Daten darüber erhalten kann. Die
lettischen Kalender bringen nichts darüber und die Aufzählungen im "Lettischen
Jahrbuch der Bildungsvereine""') sind ungenau und unvollständig. Die durch
die Adreßbücher ergänzten Daten sind folgende:

Es gibt an Schulen mit keltischer Unterrichtssprache in Kurland und Livland:

13 Elementarschulen (11 in Riga, 1 in Wolmar, 1 in Mitnu),
7 Schulen "II. Ordnung" (1 Progymnasium in Riga; 3 vier-
klassige Handelsschüler in Rujen, Sander, Wolmar; 1 vier-


*) Latweeschu Jsglihtioas Beedribas Gada-Gmhmata V 19Z3 S. 96 ff.
Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen

Hierzu kommen noch etwa zehn „Kirchenschulen", das heißt von der Kirche
erhaltene Elementarschulen, Schülerwerkstätten, Kindergärten.

Was steht diesem blühenden deutschen Schulwesen an lettischen und cöl-
nischen Schulen gegenüber? Bis zur Nusstfizierung der Ostseeprovinzen, bis 1887,
hatte jede Gemeinde ihre Volksschule, die den Kindern in keltischer und chemischer
Sprache die Elementarkenntnisse vermittelte. Sie wurde und wird «och heute
von der Gemeinde verwaltet. In Livland war und ist in jedem Kirchspiele
der Gemeindeschule eine höhere Volksschule, die sogenannte Kirchspielschule,
übergeordnet, wo der Unterricht gleichfalls in der Muttersprache stattfindet. Die
Lasten tragen Gutsbesitzer und Bauern nach Maßgabe des Reinertrags ihrer
Güter gemeinsam. Ebenso liegt die Verwaltung in den Händen zweier Selbst¬
verwaltungsbehörden — seit der Nusstfizierung aber nur noch ac jure, nicht
6e facto —, zu der Bauern und Großgrundbesitzer gehören. Der Schulbesuch
war in der deutschen Zeit unentgeltlich und obligatorisch. Die Lehrer wurden
in Seminarien ausgebildet, die von der Ritterschaft begründet und erhalten worden
waren. Es gab zwei Volks-(Gemeinde-) Schullehrerseminarien in Livland. je
eins in Kurland und in Estland, außerdem ein Seminar für die Kirchspielschullehrer
in Livland. 1887 wurde in den oberen Abteilungen der Gemeindeschule und
den Kirchspielschulen auf Befehl der Regierung die russische Unterrichtssprache
eingeführt. Im Anfangsunterricht wurde die Muttersprache „je nach Erfordernis"
zugelassen, das heißt verschwand aus dem Unterricht ganz oder fast ganz. Die
Aufsicht über den Unterricht wurde russischen Volksschuldirektoren und «Inspektoren
übertragen. Nach der Revolution wurde durch das Zirkular des Lehrbezirks-
kumtors Lewschin vom 9. Oktober 1906 festgesetzt, daß in den Volksschulen
während der ersten zwei Lehrjahre der Unterricht in der Muttersprache statt¬
zufinden habe. Diese Vergünstigung wurde am 27. August 1913 durch den
Kurator Schtscherbakow wieder aufgehoben, sodaß fortan vom ersten Schultage
ab wieder in der den Kindern völlig fremden russischen Sprache „unterrichtet"
werden mußte.

Seit der Russifizierung befanden sich also Letten und Ehlen in gleicher
Notlage wie die Deutschen. Seit der Revolution hatten sie aber dasselbe Recht
wie diese, Privatschulen (ohne Rechte) mit der Muttersprache als Unterrichtssprache
Su gründen. Haben sie dies Recht wie die Deutschen ausgenutzt? Es ist schon
charakteristisch, daß man nur sehr schwer Daten darüber erhalten kann. Die
lettischen Kalender bringen nichts darüber und die Aufzählungen im „Lettischen
Jahrbuch der Bildungsvereine""') sind ungenau und unvollständig. Die durch
die Adreßbücher ergänzten Daten sind folgende:

Es gibt an Schulen mit keltischer Unterrichtssprache in Kurland und Livland:

13 Elementarschulen (11 in Riga, 1 in Wolmar, 1 in Mitnu),
7 Schulen „II. Ordnung" (1 Progymnasium in Riga; 3 vier-
klassige Handelsschüler in Rujen, Sander, Wolmar; 1 vier-


*) Latweeschu Jsglihtioas Beedribas Gada-Gmhmata V 19Z3 S. 96 ff.
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[0309] Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen Hierzu kommen noch etwa zehn „Kirchenschulen", das heißt von der Kirche erhaltene Elementarschulen, Schülerwerkstätten, Kindergärten. Was steht diesem blühenden deutschen Schulwesen an lettischen und cöl- nischen Schulen gegenüber? Bis zur Nusstfizierung der Ostseeprovinzen, bis 1887, hatte jede Gemeinde ihre Volksschule, die den Kindern in keltischer und chemischer Sprache die Elementarkenntnisse vermittelte. Sie wurde und wird «och heute von der Gemeinde verwaltet. In Livland war und ist in jedem Kirchspiele der Gemeindeschule eine höhere Volksschule, die sogenannte Kirchspielschule, übergeordnet, wo der Unterricht gleichfalls in der Muttersprache stattfindet. Die Lasten tragen Gutsbesitzer und Bauern nach Maßgabe des Reinertrags ihrer Güter gemeinsam. Ebenso liegt die Verwaltung in den Händen zweier Selbst¬ verwaltungsbehörden — seit der Nusstfizierung aber nur noch ac jure, nicht 6e facto —, zu der Bauern und Großgrundbesitzer gehören. Der Schulbesuch war in der deutschen Zeit unentgeltlich und obligatorisch. Die Lehrer wurden in Seminarien ausgebildet, die von der Ritterschaft begründet und erhalten worden waren. Es gab zwei Volks-(Gemeinde-) Schullehrerseminarien in Livland. je eins in Kurland und in Estland, außerdem ein Seminar für die Kirchspielschullehrer in Livland. 1887 wurde in den oberen Abteilungen der Gemeindeschule und den Kirchspielschulen auf Befehl der Regierung die russische Unterrichtssprache eingeführt. Im Anfangsunterricht wurde die Muttersprache „je nach Erfordernis" zugelassen, das heißt verschwand aus dem Unterricht ganz oder fast ganz. Die Aufsicht über den Unterricht wurde russischen Volksschuldirektoren und «Inspektoren übertragen. Nach der Revolution wurde durch das Zirkular des Lehrbezirks- kumtors Lewschin vom 9. Oktober 1906 festgesetzt, daß in den Volksschulen während der ersten zwei Lehrjahre der Unterricht in der Muttersprache statt¬ zufinden habe. Diese Vergünstigung wurde am 27. August 1913 durch den Kurator Schtscherbakow wieder aufgehoben, sodaß fortan vom ersten Schultage ab wieder in der den Kindern völlig fremden russischen Sprache „unterrichtet" werden mußte. Seit der Russifizierung befanden sich also Letten und Ehlen in gleicher Notlage wie die Deutschen. Seit der Revolution hatten sie aber dasselbe Recht wie diese, Privatschulen (ohne Rechte) mit der Muttersprache als Unterrichtssprache Su gründen. Haben sie dies Recht wie die Deutschen ausgenutzt? Es ist schon charakteristisch, daß man nur sehr schwer Daten darüber erhalten kann. Die lettischen Kalender bringen nichts darüber und die Aufzählungen im „Lettischen Jahrbuch der Bildungsvereine""') sind ungenau und unvollständig. Die durch die Adreßbücher ergänzten Daten sind folgende: Es gibt an Schulen mit keltischer Unterrichtssprache in Kurland und Livland: 13 Elementarschulen (11 in Riga, 1 in Wolmar, 1 in Mitnu), 7 Schulen „II. Ordnung" (1 Progymnasium in Riga; 3 vier- klassige Handelsschüler in Rujen, Sander, Wolmar; 1 vier- *) Latweeschu Jsglihtioas Beedribas Gada-Gmhmata V 19Z3 S. 96 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/309>, abgerufen am 03.07.2024.