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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen

sind. Von der Bedeutung der deutschen Korporationen macht man sich, an
reichsdeutsche Verhältnisse gewöhnt, nur schwer eine Vorstellung. Schon rein
quantitativ sind sie den deutschen Korps überlegen: die Curonia z.B. hat zu
Zeiten über hundert Korpsburschen, "Landsleute", gehabt. Das hundertjährige
Jubiläum desselben Korps 1908 hatte in Kurland fast den Charakter einer
allgemeinen Landesfeier. Von Wichtigkeit sind die Korps einerseits deshalb,
weil sich hier die Männer. Adelige und Bürgerliche, bevor sie in den Landes¬
dienst hinaustreten, gründlich kennen lernen, die alten baltischen Traditionen in
sich aufnehmen, einer strengen Disziplin in diesem Sinne unterworfen werden
und sich hier ein in Deutschland nicht annähernd ähnliches sich solidarisch fühlen
allen Dorpater Burschen einimpft, das sie ins Leben mit hinausnehmen. Der
Kern, um den sich die ganze Korpserziehung gruppiert, ist der halb gesell¬
schaftliche, halb ethische "Honorigkeits"-begriff, ein Ehrbegriff, der alle Lebens¬
äußerungen umfaßt. Er ist es auch, auf dem eine andere eigentlich dörvtische
Schöpfung ruht: der sogenannte "Literatenstand". Die "studierten" Bürger¬
lichen Deutschlands bilden keinen Stand, sondern nur eine Klasse, die, sofern
sie überhaupt Gemeinsames hat, gemeinsame wirtschaftliche und geistige Interessen
hat. Im übrigen kümmert sich der Pastor nicht um den Juristen, der Jurist
nicht um den Oberlehrer. Im Baltikum bilden die Pastoren, Juristen, Ober-
lehrer, Architekten, Universitätsprofessoren einen Stand, eine Erweiterung
der Familie, mit allen Merkmalen eines solchen: gemeinsame Traditionen,
Anschauungen und gesellschaftliche Ansprüche, Standesdisziplin, Satisfaktions¬
zwang und Solidaritätsgefühl. Es wäre ein Leichtes gewesen diesem
Stand, wie kurz vor Ausbruch des Krieges im Interesse der "Mobil¬
machung" im Nationalitätenkampf geplant wurde, auch juristisch das
Gepräge einer Standschaft zu geben. Dabei handelt es sich nicht um eine
Kaste, die keinen Komo moon8 duldet. Im Gegenteil immerzu wachsen aus
Handwerker- und Kaufmannskreisen in den Literatenstand neue Glieder hinein,
die sich dann allerdings den Standestraditionen unterwerfen müssen.

Wir haben diese Dinge hier so ausführlich behandelt, weil sie es einer¬
seits erklären, wie sich das Deutschtum im Baltikum im Gegensatz zu dem
Deutschtum etwa in Moskau so rein erhalten hat, und andrerseits eine Ge¬
währ für die Zukunft bilden könnten. Das Standesgefühl des deutschen Adels
und das des Literatenstandes, zwischen denen mannigfache Beziehungen hin-
und herlaufen, haben sich als eine mächtige Waffe im Nationalitätenkampfe
erwiesen.

Von ähnlicher, wenn auch nicht gleich großer Bedeutung für die Existenz
des baltischen Deutschtums ist die zweite Hochschule gewesen, das rigische
Polytechnikum. Es ist 1862 eröffnet worden, ist eine Anstalt mit allen staat¬
lichen Rechten, wird aber von der Stadt Riga, der rigischen und der revalschen
Kaufmannschaft und den vier Ritterschaften (Estland, Livland, Osel, Kurland)
erhalten und von deren Delegierten, also nur Deutschen, verwaltet. Gelesen


Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen

sind. Von der Bedeutung der deutschen Korporationen macht man sich, an
reichsdeutsche Verhältnisse gewöhnt, nur schwer eine Vorstellung. Schon rein
quantitativ sind sie den deutschen Korps überlegen: die Curonia z.B. hat zu
Zeiten über hundert Korpsburschen, „Landsleute", gehabt. Das hundertjährige
Jubiläum desselben Korps 1908 hatte in Kurland fast den Charakter einer
allgemeinen Landesfeier. Von Wichtigkeit sind die Korps einerseits deshalb,
weil sich hier die Männer. Adelige und Bürgerliche, bevor sie in den Landes¬
dienst hinaustreten, gründlich kennen lernen, die alten baltischen Traditionen in
sich aufnehmen, einer strengen Disziplin in diesem Sinne unterworfen werden
und sich hier ein in Deutschland nicht annähernd ähnliches sich solidarisch fühlen
allen Dorpater Burschen einimpft, das sie ins Leben mit hinausnehmen. Der
Kern, um den sich die ganze Korpserziehung gruppiert, ist der halb gesell¬
schaftliche, halb ethische „Honorigkeits"-begriff, ein Ehrbegriff, der alle Lebens¬
äußerungen umfaßt. Er ist es auch, auf dem eine andere eigentlich dörvtische
Schöpfung ruht: der sogenannte „Literatenstand". Die „studierten" Bürger¬
lichen Deutschlands bilden keinen Stand, sondern nur eine Klasse, die, sofern
sie überhaupt Gemeinsames hat, gemeinsame wirtschaftliche und geistige Interessen
hat. Im übrigen kümmert sich der Pastor nicht um den Juristen, der Jurist
nicht um den Oberlehrer. Im Baltikum bilden die Pastoren, Juristen, Ober-
lehrer, Architekten, Universitätsprofessoren einen Stand, eine Erweiterung
der Familie, mit allen Merkmalen eines solchen: gemeinsame Traditionen,
Anschauungen und gesellschaftliche Ansprüche, Standesdisziplin, Satisfaktions¬
zwang und Solidaritätsgefühl. Es wäre ein Leichtes gewesen diesem
Stand, wie kurz vor Ausbruch des Krieges im Interesse der „Mobil¬
machung" im Nationalitätenkampf geplant wurde, auch juristisch das
Gepräge einer Standschaft zu geben. Dabei handelt es sich nicht um eine
Kaste, die keinen Komo moon8 duldet. Im Gegenteil immerzu wachsen aus
Handwerker- und Kaufmannskreisen in den Literatenstand neue Glieder hinein,
die sich dann allerdings den Standestraditionen unterwerfen müssen.

Wir haben diese Dinge hier so ausführlich behandelt, weil sie es einer¬
seits erklären, wie sich das Deutschtum im Baltikum im Gegensatz zu dem
Deutschtum etwa in Moskau so rein erhalten hat, und andrerseits eine Ge¬
währ für die Zukunft bilden könnten. Das Standesgefühl des deutschen Adels
und das des Literatenstandes, zwischen denen mannigfache Beziehungen hin-
und herlaufen, haben sich als eine mächtige Waffe im Nationalitätenkampfe
erwiesen.

Von ähnlicher, wenn auch nicht gleich großer Bedeutung für die Existenz
des baltischen Deutschtums ist die zweite Hochschule gewesen, das rigische
Polytechnikum. Es ist 1862 eröffnet worden, ist eine Anstalt mit allen staat¬
lichen Rechten, wird aber von der Stadt Riga, der rigischen und der revalschen
Kaufmannschaft und den vier Ritterschaften (Estland, Livland, Osel, Kurland)
erhalten und von deren Delegierten, also nur Deutschen, verwaltet. Gelesen


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[0305] Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen sind. Von der Bedeutung der deutschen Korporationen macht man sich, an reichsdeutsche Verhältnisse gewöhnt, nur schwer eine Vorstellung. Schon rein quantitativ sind sie den deutschen Korps überlegen: die Curonia z.B. hat zu Zeiten über hundert Korpsburschen, „Landsleute", gehabt. Das hundertjährige Jubiläum desselben Korps 1908 hatte in Kurland fast den Charakter einer allgemeinen Landesfeier. Von Wichtigkeit sind die Korps einerseits deshalb, weil sich hier die Männer. Adelige und Bürgerliche, bevor sie in den Landes¬ dienst hinaustreten, gründlich kennen lernen, die alten baltischen Traditionen in sich aufnehmen, einer strengen Disziplin in diesem Sinne unterworfen werden und sich hier ein in Deutschland nicht annähernd ähnliches sich solidarisch fühlen allen Dorpater Burschen einimpft, das sie ins Leben mit hinausnehmen. Der Kern, um den sich die ganze Korpserziehung gruppiert, ist der halb gesell¬ schaftliche, halb ethische „Honorigkeits"-begriff, ein Ehrbegriff, der alle Lebens¬ äußerungen umfaßt. Er ist es auch, auf dem eine andere eigentlich dörvtische Schöpfung ruht: der sogenannte „Literatenstand". Die „studierten" Bürger¬ lichen Deutschlands bilden keinen Stand, sondern nur eine Klasse, die, sofern sie überhaupt Gemeinsames hat, gemeinsame wirtschaftliche und geistige Interessen hat. Im übrigen kümmert sich der Pastor nicht um den Juristen, der Jurist nicht um den Oberlehrer. Im Baltikum bilden die Pastoren, Juristen, Ober- lehrer, Architekten, Universitätsprofessoren einen Stand, eine Erweiterung der Familie, mit allen Merkmalen eines solchen: gemeinsame Traditionen, Anschauungen und gesellschaftliche Ansprüche, Standesdisziplin, Satisfaktions¬ zwang und Solidaritätsgefühl. Es wäre ein Leichtes gewesen diesem Stand, wie kurz vor Ausbruch des Krieges im Interesse der „Mobil¬ machung" im Nationalitätenkampf geplant wurde, auch juristisch das Gepräge einer Standschaft zu geben. Dabei handelt es sich nicht um eine Kaste, die keinen Komo moon8 duldet. Im Gegenteil immerzu wachsen aus Handwerker- und Kaufmannskreisen in den Literatenstand neue Glieder hinein, die sich dann allerdings den Standestraditionen unterwerfen müssen. Wir haben diese Dinge hier so ausführlich behandelt, weil sie es einer¬ seits erklären, wie sich das Deutschtum im Baltikum im Gegensatz zu dem Deutschtum etwa in Moskau so rein erhalten hat, und andrerseits eine Ge¬ währ für die Zukunft bilden könnten. Das Standesgefühl des deutschen Adels und das des Literatenstandes, zwischen denen mannigfache Beziehungen hin- und herlaufen, haben sich als eine mächtige Waffe im Nationalitätenkampfe erwiesen. Von ähnlicher, wenn auch nicht gleich großer Bedeutung für die Existenz des baltischen Deutschtums ist die zweite Hochschule gewesen, das rigische Polytechnikum. Es ist 1862 eröffnet worden, ist eine Anstalt mit allen staat¬ lichen Rechten, wird aber von der Stadt Riga, der rigischen und der revalschen Kaufmannschaft und den vier Ritterschaften (Estland, Livland, Osel, Kurland) erhalten und von deren Delegierten, also nur Deutschen, verwaltet. Gelesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/305>, abgerufen am 27.12.2024.