Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen

werte mit dem Fernrohr dem Laufe der Sternbewegimg folgte, lenkte Dorpat
die Augen von ganz Europa auf sich. 1893 wurde die Universität russifiziert
und in Jurjew unbenannt. An die Stelle der deutschen Professoren traten
größtenteils russische. Um den wissenschaftlichen Ruf der Universität war es
geschehen. Ihre Bedeutung für das baltische Deutschtum büßte sie auch jetzt
nicht völlig ein. Einmal konnte die theologische Fakultät aus praktischen
Gründen nicht russifiziert werden. An ihr lehren bis heute sieben Dozenten
in deutscher Sprache. Durch sie konnten unter theologischen Deckmantel
philosophische Kollegs eingeschmuggelt werden. Von der Ritterschaft bezahlte
privati8sima sorgten für eine deutsche historische Bildung. Außerdem blieben
der medizinischen Fakultät ein paar Deutsche erhalten. Vor allem aber waren
es die deutschen Studentenkorporationen, die weiter bestanden und für die
Pflege der alten Tradition von Bedeutung waren. Es sind Korps mit aus¬
geprägt landsmannschaftlichem Charakter. Sie haben vieles Altertümliche, das
auf den reichsdeutschen Universitäten längst verloren ist, bewahrt und selbst¬
ständig weiterentwickelt. Bewahrt ist zum Beispiel der Gedanke einer allge¬
meinen Burschenschaft: die Korps bilden einen Ausschuß, den Chargierten-
konvent, der an der Spitze des Burschenstaates steht. Auch die "Wilden" ver¬
pflichten sich auf den herrschenden Ehrenkodex, "garantieren den Komment".
Sie gelten dann als "Bursche". Zwischen allen Burschen, einerlei ob aktiv
oder nicht, herrscht der Duzkomment. Für inkommentmäßige Beleidigungen
oder Ausschreitungen kommt der Bursche vor das allgemeine Burschengericht.
Die eigentliche Waffe ist neben der Pistole der Schläger. Gefochten wird aber
nur Schläger glacö, das heißt in der heute in Deutschland üblichen Säbelauslage
mit freier Mensur, das heißt es wird auf einem Kreise voltiert. Die interne
Mensur, zwischen Gliedern ein und desselben Korps, ist gestattet; die Be--
stimmungsmensur ist unbekannt geblieben. Das Dörptsche "Bnrschenliederbuch"
ist im wesentlichen ein Auszug des Lahrer Kommersbuches. "Reisestipendien"
der Korps sorgen dafür, daß ihre Glieder an reichsdeutsche Universitäten
kommen. Daß diesen Korps ein fortschrittlicher Geist innewohnt, beweist die
Lösung eines Problems, mit dem man sich in Deutschland bisher vergebens
abgemüht hat: die Antiduellantenfrage ist dort seit etwa 50 Jahren gelöst.
Duellanten und Antiduellanten gehören zu den Corps, Streitigkeiten unter¬
liegen einem ehrengerichtlichen Verfahren, das von der Universität her ins
Philisterleben gedrungen ist und nach dem überall im Lande verfahren wird.
Die Verknöcherung in Äußerlichkeit und Formelkram, wie sie vielfach in reichs¬
deutschen Korps herrscht, ist Dorpat fremd geblieben.

Die deutschen Korps sind die Curonia, Estonia. Livonia. Fraternitas
Nigensts, Neobaltia und neuerdings die Teutonia (Söhne südrussischer Kolonisten).
Eine lettische Korporation, die Lettoma. gehörte bis zur Revolution zum
Chargiertenkonvent. Seit 1905 sind noch lettische und chemische Korps hinzu¬
gekommen, die dem Chargiertenkonvent nicht angehören und ohne Bedeutung


Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen

werte mit dem Fernrohr dem Laufe der Sternbewegimg folgte, lenkte Dorpat
die Augen von ganz Europa auf sich. 1893 wurde die Universität russifiziert
und in Jurjew unbenannt. An die Stelle der deutschen Professoren traten
größtenteils russische. Um den wissenschaftlichen Ruf der Universität war es
geschehen. Ihre Bedeutung für das baltische Deutschtum büßte sie auch jetzt
nicht völlig ein. Einmal konnte die theologische Fakultät aus praktischen
Gründen nicht russifiziert werden. An ihr lehren bis heute sieben Dozenten
in deutscher Sprache. Durch sie konnten unter theologischen Deckmantel
philosophische Kollegs eingeschmuggelt werden. Von der Ritterschaft bezahlte
privati8sima sorgten für eine deutsche historische Bildung. Außerdem blieben
der medizinischen Fakultät ein paar Deutsche erhalten. Vor allem aber waren
es die deutschen Studentenkorporationen, die weiter bestanden und für die
Pflege der alten Tradition von Bedeutung waren. Es sind Korps mit aus¬
geprägt landsmannschaftlichem Charakter. Sie haben vieles Altertümliche, das
auf den reichsdeutschen Universitäten längst verloren ist, bewahrt und selbst¬
ständig weiterentwickelt. Bewahrt ist zum Beispiel der Gedanke einer allge¬
meinen Burschenschaft: die Korps bilden einen Ausschuß, den Chargierten-
konvent, der an der Spitze des Burschenstaates steht. Auch die „Wilden" ver¬
pflichten sich auf den herrschenden Ehrenkodex, „garantieren den Komment".
Sie gelten dann als „Bursche". Zwischen allen Burschen, einerlei ob aktiv
oder nicht, herrscht der Duzkomment. Für inkommentmäßige Beleidigungen
oder Ausschreitungen kommt der Bursche vor das allgemeine Burschengericht.
Die eigentliche Waffe ist neben der Pistole der Schläger. Gefochten wird aber
nur Schläger glacö, das heißt in der heute in Deutschland üblichen Säbelauslage
mit freier Mensur, das heißt es wird auf einem Kreise voltiert. Die interne
Mensur, zwischen Gliedern ein und desselben Korps, ist gestattet; die Be--
stimmungsmensur ist unbekannt geblieben. Das Dörptsche „Bnrschenliederbuch"
ist im wesentlichen ein Auszug des Lahrer Kommersbuches. „Reisestipendien"
der Korps sorgen dafür, daß ihre Glieder an reichsdeutsche Universitäten
kommen. Daß diesen Korps ein fortschrittlicher Geist innewohnt, beweist die
Lösung eines Problems, mit dem man sich in Deutschland bisher vergebens
abgemüht hat: die Antiduellantenfrage ist dort seit etwa 50 Jahren gelöst.
Duellanten und Antiduellanten gehören zu den Corps, Streitigkeiten unter¬
liegen einem ehrengerichtlichen Verfahren, das von der Universität her ins
Philisterleben gedrungen ist und nach dem überall im Lande verfahren wird.
Die Verknöcherung in Äußerlichkeit und Formelkram, wie sie vielfach in reichs¬
deutschen Korps herrscht, ist Dorpat fremd geblieben.

Die deutschen Korps sind die Curonia, Estonia. Livonia. Fraternitas
Nigensts, Neobaltia und neuerdings die Teutonia (Söhne südrussischer Kolonisten).
Eine lettische Korporation, die Lettoma. gehörte bis zur Revolution zum
Chargiertenkonvent. Seit 1905 sind noch lettische und chemische Korps hinzu¬
gekommen, die dem Chargiertenkonvent nicht angehören und ohne Bedeutung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0304" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324717"/>
              <fw type="header" place="top"> Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen</fw><lb/>
              <p xml:id="ID_1099" prev="#ID_1098"> werte mit dem Fernrohr dem Laufe der Sternbewegimg folgte, lenkte Dorpat<lb/>
die Augen von ganz Europa auf sich. 1893 wurde die Universität russifiziert<lb/>
und in Jurjew unbenannt. An die Stelle der deutschen Professoren traten<lb/>
größtenteils russische. Um den wissenschaftlichen Ruf der Universität war es<lb/>
geschehen. Ihre Bedeutung für das baltische Deutschtum büßte sie auch jetzt<lb/>
nicht völlig ein. Einmal konnte die theologische Fakultät aus praktischen<lb/>
Gründen nicht russifiziert werden. An ihr lehren bis heute sieben Dozenten<lb/>
in deutscher Sprache. Durch sie konnten unter theologischen Deckmantel<lb/>
philosophische Kollegs eingeschmuggelt werden. Von der Ritterschaft bezahlte<lb/>
privati8sima sorgten für eine deutsche historische Bildung. Außerdem blieben<lb/>
der medizinischen Fakultät ein paar Deutsche erhalten. Vor allem aber waren<lb/>
es die deutschen Studentenkorporationen, die weiter bestanden und für die<lb/>
Pflege der alten Tradition von Bedeutung waren. Es sind Korps mit aus¬<lb/>
geprägt landsmannschaftlichem Charakter. Sie haben vieles Altertümliche, das<lb/>
auf den reichsdeutschen Universitäten längst verloren ist, bewahrt und selbst¬<lb/>
ständig weiterentwickelt. Bewahrt ist zum Beispiel der Gedanke einer allge¬<lb/>
meinen Burschenschaft: die Korps bilden einen Ausschuß, den Chargierten-<lb/>
konvent, der an der Spitze des Burschenstaates steht. Auch die &#x201E;Wilden" ver¬<lb/>
pflichten sich auf den herrschenden Ehrenkodex, &#x201E;garantieren den Komment".<lb/>
Sie gelten dann als &#x201E;Bursche". Zwischen allen Burschen, einerlei ob aktiv<lb/>
oder nicht, herrscht der Duzkomment. Für inkommentmäßige Beleidigungen<lb/>
oder Ausschreitungen kommt der Bursche vor das allgemeine Burschengericht.<lb/>
Die eigentliche Waffe ist neben der Pistole der Schläger. Gefochten wird aber<lb/>
nur Schläger glacö, das heißt in der heute in Deutschland üblichen Säbelauslage<lb/>
mit freier Mensur, das heißt es wird auf einem Kreise voltiert. Die interne<lb/>
Mensur, zwischen Gliedern ein und desselben Korps, ist gestattet; die Be--<lb/>
stimmungsmensur ist unbekannt geblieben. Das Dörptsche &#x201E;Bnrschenliederbuch"<lb/>
ist im wesentlichen ein Auszug des Lahrer Kommersbuches. &#x201E;Reisestipendien"<lb/>
der Korps sorgen dafür, daß ihre Glieder an reichsdeutsche Universitäten<lb/>
kommen. Daß diesen Korps ein fortschrittlicher Geist innewohnt, beweist die<lb/>
Lösung eines Problems, mit dem man sich in Deutschland bisher vergebens<lb/>
abgemüht hat: die Antiduellantenfrage ist dort seit etwa 50 Jahren gelöst.<lb/>
Duellanten und Antiduellanten gehören zu den Corps, Streitigkeiten unter¬<lb/>
liegen einem ehrengerichtlichen Verfahren, das von der Universität her ins<lb/>
Philisterleben gedrungen ist und nach dem überall im Lande verfahren wird.<lb/>
Die Verknöcherung in Äußerlichkeit und Formelkram, wie sie vielfach in reichs¬<lb/>
deutschen Korps herrscht, ist Dorpat fremd geblieben.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_1100" next="#ID_1101"> Die deutschen Korps sind die Curonia, Estonia. Livonia. Fraternitas<lb/>
Nigensts, Neobaltia und neuerdings die Teutonia (Söhne südrussischer Kolonisten).<lb/>
Eine lettische Korporation, die Lettoma. gehörte bis zur Revolution zum<lb/>
Chargiertenkonvent. Seit 1905 sind noch lettische und chemische Korps hinzu¬<lb/>
gekommen, die dem Chargiertenkonvent nicht angehören und ohne Bedeutung</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0304] Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen werte mit dem Fernrohr dem Laufe der Sternbewegimg folgte, lenkte Dorpat die Augen von ganz Europa auf sich. 1893 wurde die Universität russifiziert und in Jurjew unbenannt. An die Stelle der deutschen Professoren traten größtenteils russische. Um den wissenschaftlichen Ruf der Universität war es geschehen. Ihre Bedeutung für das baltische Deutschtum büßte sie auch jetzt nicht völlig ein. Einmal konnte die theologische Fakultät aus praktischen Gründen nicht russifiziert werden. An ihr lehren bis heute sieben Dozenten in deutscher Sprache. Durch sie konnten unter theologischen Deckmantel philosophische Kollegs eingeschmuggelt werden. Von der Ritterschaft bezahlte privati8sima sorgten für eine deutsche historische Bildung. Außerdem blieben der medizinischen Fakultät ein paar Deutsche erhalten. Vor allem aber waren es die deutschen Studentenkorporationen, die weiter bestanden und für die Pflege der alten Tradition von Bedeutung waren. Es sind Korps mit aus¬ geprägt landsmannschaftlichem Charakter. Sie haben vieles Altertümliche, das auf den reichsdeutschen Universitäten längst verloren ist, bewahrt und selbst¬ ständig weiterentwickelt. Bewahrt ist zum Beispiel der Gedanke einer allge¬ meinen Burschenschaft: die Korps bilden einen Ausschuß, den Chargierten- konvent, der an der Spitze des Burschenstaates steht. Auch die „Wilden" ver¬ pflichten sich auf den herrschenden Ehrenkodex, „garantieren den Komment". Sie gelten dann als „Bursche". Zwischen allen Burschen, einerlei ob aktiv oder nicht, herrscht der Duzkomment. Für inkommentmäßige Beleidigungen oder Ausschreitungen kommt der Bursche vor das allgemeine Burschengericht. Die eigentliche Waffe ist neben der Pistole der Schläger. Gefochten wird aber nur Schläger glacö, das heißt in der heute in Deutschland üblichen Säbelauslage mit freier Mensur, das heißt es wird auf einem Kreise voltiert. Die interne Mensur, zwischen Gliedern ein und desselben Korps, ist gestattet; die Be-- stimmungsmensur ist unbekannt geblieben. Das Dörptsche „Bnrschenliederbuch" ist im wesentlichen ein Auszug des Lahrer Kommersbuches. „Reisestipendien" der Korps sorgen dafür, daß ihre Glieder an reichsdeutsche Universitäten kommen. Daß diesen Korps ein fortschrittlicher Geist innewohnt, beweist die Lösung eines Problems, mit dem man sich in Deutschland bisher vergebens abgemüht hat: die Antiduellantenfrage ist dort seit etwa 50 Jahren gelöst. Duellanten und Antiduellanten gehören zu den Corps, Streitigkeiten unter¬ liegen einem ehrengerichtlichen Verfahren, das von der Universität her ins Philisterleben gedrungen ist und nach dem überall im Lande verfahren wird. Die Verknöcherung in Äußerlichkeit und Formelkram, wie sie vielfach in reichs¬ deutschen Korps herrscht, ist Dorpat fremd geblieben. Die deutschen Korps sind die Curonia, Estonia. Livonia. Fraternitas Nigensts, Neobaltia und neuerdings die Teutonia (Söhne südrussischer Kolonisten). Eine lettische Korporation, die Lettoma. gehörte bis zur Revolution zum Chargiertenkonvent. Seit 1905 sind noch lettische und chemische Korps hinzu¬ gekommen, die dem Chargiertenkonvent nicht angehören und ohne Bedeutung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/304
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/304>, abgerufen am 27.12.2024.