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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Zeitung und Hochschule

Als im Jahre 1895 die Heidelberger Hochschule Vorlesungen über Zeitungs¬
geschichte einrichtete, wurde dies als Neuigkeit in die Welt posaunt, und doch
hatte schon fast ein Jahrhundert vorher (1806) in Breslau ein Professor
Schummel ein Kolleg über Journalismus angekündigt. Es ist aber bezeichnend,
daß der "Kölner Beobachter", ein damals angesehenes Blatt in Köln, der
diese Nachricht brachte, zugleich sein Erstaunen aussprach, daß man die
Zeitungen zum Gegenstand gelehrten Studiums mache. Die Selbstgefälligkeit
und Selbstachtung der fünften Großmacht war damals noch recht wenig ent¬
wickelt. Der Beobachter drückte damit nur aus, was allgemeine Ansicht war;
die Zeitungsschreiber galten besonders der Zunft der Gelehrten nicht als voll¬
berechtigt, sie wurden vom Volke oft dem frivolen Lügner gleichgeachtet, wie
es das Sprichwort ausdrückt: "Er lügt, wie ein Zeitungsschreiber." Gelogen
haben die Zeitungen früher sehr viel mit und ohne obrigkeitlicher Erlaubnis,
und daß sie es heute noch können, zeigt die Presse unserer Gegner Tag für
Tag zur Genüge. Von der derzeitigen Königin von Norwegen wird berichtet,
daß sie sich eine Mappe angelegt habe, in die sie alle Zeitungsberichte über
sich selbst und den König lege, die die Aufschrift trage: "Dinge, die wir nie
getan haben."

Wenn also heute, bei den großartigen Fortschritten der Technik und des
Nachrichtendienstes noch immer nicht die völlige Zuverlässigkeit erreicht ist, dann
darf man jene armen Zeitungsschreiber der guten alten Zeit nicht zu sehr
schelten, die bei einer kleinlichen Zensur oft für eine falsche oder mißliebige
Nachricht Stockprügel bezogen.

Trotz dieser in vielen Kreisen herrschenden und auch in der Literatur oft
zum Ausdruck kommenden Geringachtung der Presse, der freilich als Gegenpol
eine maßlose Überschätzung gegenüberstand, gab es schon früh Gelehrte, die die
Zeitung einer kritischen, ja akademischen Behandlung für wert erachteten. Bereits
im Jahre 1726 rühmte sich Jakob Paul Marperger, Mitglied der Sozietät der
Wissenschaften zu Berlin, kaiserlich gekrönter Dichter und kursächsischer Kom-
merzienrat, der als einer der ersten Deutschen die politische Ökonomie wissen¬
schaftlich behandelte, daß er "in einem LolleAio l^ovellarum ^ovellarum-
Zeitungen) in einer in unterschiedlichen Reichs- und Residenzstädten mit großem
Nutzen gebrauchten Methode auch die allerungelerntesten in kurzer Zeit durch
bloßes Zuhören, ohne vieles Lesen und Studieren zu einer gänzlichen Welt- und
Staatsklugheit geführt habe."

Es nimmt uns auch eigentlich gar nicht wunder, daß eine Zeit, die die
absonderlichsten Gegenstände einer gelehrten Behandlung für wert erachtete, auch
die Presse hier und da einmal unter die Lupe nahm und sie fein säuberlich
logisch in Thesen, Corollarien und Paragraphen einzwängte und die magere,
trockene Speise mit einer noch magereren gelehrten Brühe übergoß. Man staunt
über die Menge von Dissertationen und ähnlicher Abhandlungen, die vor 1800
die Zeitungen behandeln, und deren Gründlichkeit leider meist in umgekehrtem


Zeitung und Hochschule

Als im Jahre 1895 die Heidelberger Hochschule Vorlesungen über Zeitungs¬
geschichte einrichtete, wurde dies als Neuigkeit in die Welt posaunt, und doch
hatte schon fast ein Jahrhundert vorher (1806) in Breslau ein Professor
Schummel ein Kolleg über Journalismus angekündigt. Es ist aber bezeichnend,
daß der „Kölner Beobachter", ein damals angesehenes Blatt in Köln, der
diese Nachricht brachte, zugleich sein Erstaunen aussprach, daß man die
Zeitungen zum Gegenstand gelehrten Studiums mache. Die Selbstgefälligkeit
und Selbstachtung der fünften Großmacht war damals noch recht wenig ent¬
wickelt. Der Beobachter drückte damit nur aus, was allgemeine Ansicht war;
die Zeitungsschreiber galten besonders der Zunft der Gelehrten nicht als voll¬
berechtigt, sie wurden vom Volke oft dem frivolen Lügner gleichgeachtet, wie
es das Sprichwort ausdrückt: „Er lügt, wie ein Zeitungsschreiber." Gelogen
haben die Zeitungen früher sehr viel mit und ohne obrigkeitlicher Erlaubnis,
und daß sie es heute noch können, zeigt die Presse unserer Gegner Tag für
Tag zur Genüge. Von der derzeitigen Königin von Norwegen wird berichtet,
daß sie sich eine Mappe angelegt habe, in die sie alle Zeitungsberichte über
sich selbst und den König lege, die die Aufschrift trage: „Dinge, die wir nie
getan haben."

Wenn also heute, bei den großartigen Fortschritten der Technik und des
Nachrichtendienstes noch immer nicht die völlige Zuverlässigkeit erreicht ist, dann
darf man jene armen Zeitungsschreiber der guten alten Zeit nicht zu sehr
schelten, die bei einer kleinlichen Zensur oft für eine falsche oder mißliebige
Nachricht Stockprügel bezogen.

Trotz dieser in vielen Kreisen herrschenden und auch in der Literatur oft
zum Ausdruck kommenden Geringachtung der Presse, der freilich als Gegenpol
eine maßlose Überschätzung gegenüberstand, gab es schon früh Gelehrte, die die
Zeitung einer kritischen, ja akademischen Behandlung für wert erachteten. Bereits
im Jahre 1726 rühmte sich Jakob Paul Marperger, Mitglied der Sozietät der
Wissenschaften zu Berlin, kaiserlich gekrönter Dichter und kursächsischer Kom-
merzienrat, der als einer der ersten Deutschen die politische Ökonomie wissen¬
schaftlich behandelte, daß er „in einem LolleAio l^ovellarum ^ovellarum-
Zeitungen) in einer in unterschiedlichen Reichs- und Residenzstädten mit großem
Nutzen gebrauchten Methode auch die allerungelerntesten in kurzer Zeit durch
bloßes Zuhören, ohne vieles Lesen und Studieren zu einer gänzlichen Welt- und
Staatsklugheit geführt habe."

Es nimmt uns auch eigentlich gar nicht wunder, daß eine Zeit, die die
absonderlichsten Gegenstände einer gelehrten Behandlung für wert erachtete, auch
die Presse hier und da einmal unter die Lupe nahm und sie fein säuberlich
logisch in Thesen, Corollarien und Paragraphen einzwängte und die magere,
trockene Speise mit einer noch magereren gelehrten Brühe übergoß. Man staunt
über die Menge von Dissertationen und ähnlicher Abhandlungen, die vor 1800
die Zeitungen behandeln, und deren Gründlichkeit leider meist in umgekehrtem


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[0254] Zeitung und Hochschule Als im Jahre 1895 die Heidelberger Hochschule Vorlesungen über Zeitungs¬ geschichte einrichtete, wurde dies als Neuigkeit in die Welt posaunt, und doch hatte schon fast ein Jahrhundert vorher (1806) in Breslau ein Professor Schummel ein Kolleg über Journalismus angekündigt. Es ist aber bezeichnend, daß der „Kölner Beobachter", ein damals angesehenes Blatt in Köln, der diese Nachricht brachte, zugleich sein Erstaunen aussprach, daß man die Zeitungen zum Gegenstand gelehrten Studiums mache. Die Selbstgefälligkeit und Selbstachtung der fünften Großmacht war damals noch recht wenig ent¬ wickelt. Der Beobachter drückte damit nur aus, was allgemeine Ansicht war; die Zeitungsschreiber galten besonders der Zunft der Gelehrten nicht als voll¬ berechtigt, sie wurden vom Volke oft dem frivolen Lügner gleichgeachtet, wie es das Sprichwort ausdrückt: „Er lügt, wie ein Zeitungsschreiber." Gelogen haben die Zeitungen früher sehr viel mit und ohne obrigkeitlicher Erlaubnis, und daß sie es heute noch können, zeigt die Presse unserer Gegner Tag für Tag zur Genüge. Von der derzeitigen Königin von Norwegen wird berichtet, daß sie sich eine Mappe angelegt habe, in die sie alle Zeitungsberichte über sich selbst und den König lege, die die Aufschrift trage: „Dinge, die wir nie getan haben." Wenn also heute, bei den großartigen Fortschritten der Technik und des Nachrichtendienstes noch immer nicht die völlige Zuverlässigkeit erreicht ist, dann darf man jene armen Zeitungsschreiber der guten alten Zeit nicht zu sehr schelten, die bei einer kleinlichen Zensur oft für eine falsche oder mißliebige Nachricht Stockprügel bezogen. Trotz dieser in vielen Kreisen herrschenden und auch in der Literatur oft zum Ausdruck kommenden Geringachtung der Presse, der freilich als Gegenpol eine maßlose Überschätzung gegenüberstand, gab es schon früh Gelehrte, die die Zeitung einer kritischen, ja akademischen Behandlung für wert erachteten. Bereits im Jahre 1726 rühmte sich Jakob Paul Marperger, Mitglied der Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, kaiserlich gekrönter Dichter und kursächsischer Kom- merzienrat, der als einer der ersten Deutschen die politische Ökonomie wissen¬ schaftlich behandelte, daß er „in einem LolleAio l^ovellarum ^ovellarum- Zeitungen) in einer in unterschiedlichen Reichs- und Residenzstädten mit großem Nutzen gebrauchten Methode auch die allerungelerntesten in kurzer Zeit durch bloßes Zuhören, ohne vieles Lesen und Studieren zu einer gänzlichen Welt- und Staatsklugheit geführt habe." Es nimmt uns auch eigentlich gar nicht wunder, daß eine Zeit, die die absonderlichsten Gegenstände einer gelehrten Behandlung für wert erachtete, auch die Presse hier und da einmal unter die Lupe nahm und sie fein säuberlich logisch in Thesen, Corollarien und Paragraphen einzwängte und die magere, trockene Speise mit einer noch magereren gelehrten Brühe übergoß. Man staunt über die Menge von Dissertationen und ähnlicher Abhandlungen, die vor 1800 die Zeitungen behandeln, und deren Gründlichkeit leider meist in umgekehrtem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/254>, abgerufen am 27.12.2024.