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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die deutsche Studentenschaft in Rußland

Mannes zu finden. Berührt eine Sache so zarte Verhältnisse, daß sie sich zur
Erörterung vor dem Ehrengericht nicht eignet, so sucht sich derjenige, welcher
sich verletzt fühlt, aus der Zahl der gegenwärtigen oder gewesenen Ehrenrichter
einen, dem er die Angelegenheit darlegt. Dieser gibt nach seiner Überzeugung
dem Ehrengericht an, daß hier tatsächlich zarte Verhältnisse berührt worden sind,
worauf daun dem Beleidigten die Wahl zwischen deu Waffen oder einer Erklärung
überlassen bleibt. Ebenso vortrefflich ist die Bestimmung, daß, wenn ein "Bursch"
mit einem Philister oder einem satisfaktionsfähigen Nichtbnrschen "gerissen" hat,
er ihm ein paritätisches Schiedsgericht vorschlagen muß, bei dem der Gegner
jeden, gegen dessen Honorigkeit sich nichts einwenden läßt, zum Vertreter
nehmen darf.

Wo inkommentmäßige Beleidigungen oder schwere Verschlungen vorliegen,
entscheidet das "Burschengericht", "das richtende und strafende Forum des
Chargiertenkonvents", in das jede Verbindung drei Vertreter entsendet. Seine
Strafen bestehen in Verweisen und in "Ruckung" (Verruf), die auch über Nicht-
burschen verhängt werden und bis zu zehn Jahren dauern kann.

Das Meusurenwesen in Dorpat weist eine Reihe eigenartiger, vom reichs-
deutschen abweichender Züge auf. Kommentwaffen sind Korbschläger und Pistole,
der Säbel ist als Studentenwaffe völlig unbekannt. Die "Takelung" (Bandagierung)
hat manches altertümliche an sich; die Paukbrille und die Axillarisbinde fehlen
bei der Ausrüstung. Die Mensur erreicht mit sieben Gängen ihr Ende. Bei
einer "Abfuhr" muß sie nach der Genesung des Verwundeten fortgesetzt werden,
es sei denn, daß sich die Parder vorher vertragen. Bestimmungsmensuren kennt
man in Dorpat nicht, und Korpspaukereien sind unmöglich, da alle Korporations ¬
beleidigungen vor dem Ehrengericht zurückgenommen werden müssen.

Sozial wichtig werden die Dorpater Korporationen auch dadurch, daß jede
von ihnen eine eigene Leihkasse besitzt. So hat die Estonia eine solche von
40000 Rubel; ihre Zinsen werden mit den Beiträgen der Philister zu Studien-
unterstütznngen bedürftiger Landsleute und zur Gewährung von jährlich zwei
Auslandsstipendien zu 1000 und 400 Rubeln verwendet.

Das studentische Leben spielt sich in der Hauptsache auf den "Konvents¬
quartieren" ab, manche der Korporationen haben geräumige, ja elegante, mit
Garten versehene Häuser, die neben vielen Annehmlichkeiten auch eine reiche
Bücherei -- die Estonia zum Beispiel besitzt 6000 Bände -- umfassen. Samstag
abends ist der Besuch des Konventsquartiers allgemeinverbindlich; häufig werden
dann die alten Burschenlieder gesungen, im übrigen ist das Zusammensein
ungezwungen, und die bei den reichsdeutschen Verbindungen üblichen Trinksitten
fehlen ganz. Die Kommerse verlaufen nach altherkömmlichen Brauch, der
schönste ist der Maikommers in Mollatz, einem Kruge bei Dorpat, wo der
Chargiertenkonvent seit alters eine eigene Halle besitzt. Außerdem veranstaltet
die jeweilig Vorsitzende Korporation einen "Fremdenkommers", und gelegentlich
findet auch ein sogenannter "Völkerkommers" statt, zu dem jeder Bursch und


Die deutsche Studentenschaft in Rußland

Mannes zu finden. Berührt eine Sache so zarte Verhältnisse, daß sie sich zur
Erörterung vor dem Ehrengericht nicht eignet, so sucht sich derjenige, welcher
sich verletzt fühlt, aus der Zahl der gegenwärtigen oder gewesenen Ehrenrichter
einen, dem er die Angelegenheit darlegt. Dieser gibt nach seiner Überzeugung
dem Ehrengericht an, daß hier tatsächlich zarte Verhältnisse berührt worden sind,
worauf daun dem Beleidigten die Wahl zwischen deu Waffen oder einer Erklärung
überlassen bleibt. Ebenso vortrefflich ist die Bestimmung, daß, wenn ein „Bursch"
mit einem Philister oder einem satisfaktionsfähigen Nichtbnrschen „gerissen" hat,
er ihm ein paritätisches Schiedsgericht vorschlagen muß, bei dem der Gegner
jeden, gegen dessen Honorigkeit sich nichts einwenden läßt, zum Vertreter
nehmen darf.

Wo inkommentmäßige Beleidigungen oder schwere Verschlungen vorliegen,
entscheidet das „Burschengericht", „das richtende und strafende Forum des
Chargiertenkonvents", in das jede Verbindung drei Vertreter entsendet. Seine
Strafen bestehen in Verweisen und in „Ruckung" (Verruf), die auch über Nicht-
burschen verhängt werden und bis zu zehn Jahren dauern kann.

Das Meusurenwesen in Dorpat weist eine Reihe eigenartiger, vom reichs-
deutschen abweichender Züge auf. Kommentwaffen sind Korbschläger und Pistole,
der Säbel ist als Studentenwaffe völlig unbekannt. Die „Takelung" (Bandagierung)
hat manches altertümliche an sich; die Paukbrille und die Axillarisbinde fehlen
bei der Ausrüstung. Die Mensur erreicht mit sieben Gängen ihr Ende. Bei
einer „Abfuhr" muß sie nach der Genesung des Verwundeten fortgesetzt werden,
es sei denn, daß sich die Parder vorher vertragen. Bestimmungsmensuren kennt
man in Dorpat nicht, und Korpspaukereien sind unmöglich, da alle Korporations ¬
beleidigungen vor dem Ehrengericht zurückgenommen werden müssen.

Sozial wichtig werden die Dorpater Korporationen auch dadurch, daß jede
von ihnen eine eigene Leihkasse besitzt. So hat die Estonia eine solche von
40000 Rubel; ihre Zinsen werden mit den Beiträgen der Philister zu Studien-
unterstütznngen bedürftiger Landsleute und zur Gewährung von jährlich zwei
Auslandsstipendien zu 1000 und 400 Rubeln verwendet.

Das studentische Leben spielt sich in der Hauptsache auf den „Konvents¬
quartieren" ab, manche der Korporationen haben geräumige, ja elegante, mit
Garten versehene Häuser, die neben vielen Annehmlichkeiten auch eine reiche
Bücherei — die Estonia zum Beispiel besitzt 6000 Bände — umfassen. Samstag
abends ist der Besuch des Konventsquartiers allgemeinverbindlich; häufig werden
dann die alten Burschenlieder gesungen, im übrigen ist das Zusammensein
ungezwungen, und die bei den reichsdeutschen Verbindungen üblichen Trinksitten
fehlen ganz. Die Kommerse verlaufen nach altherkömmlichen Brauch, der
schönste ist der Maikommers in Mollatz, einem Kruge bei Dorpat, wo der
Chargiertenkonvent seit alters eine eigene Halle besitzt. Außerdem veranstaltet
die jeweilig Vorsitzende Korporation einen „Fremdenkommers", und gelegentlich
findet auch ein sogenannter „Völkerkommers" statt, zu dem jeder Bursch und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/222>, abgerufen am 30.12.2024.