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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die deutsche Studentenschaft in Rußland

Von den ersteren ist zunächst die Universität Dorpat zu erwähnen, welche
im Frühjahr 1802 als Nachfolgerin der von Gustav Adolf 1632 gestifteten
deutsch, schwedischen Hochschule entstand und seit ihrer Gründung einen ausgesprochen
deutschen Charakter trug. Fast neunzig Jahre lang blieb sie in regsten, Gedanken¬
austausch mit ihren reichsdeutschen Schwesteranstalten, und viele ihrer ehemaligen
Jünger und Lehrer bilden bis in die Gegenwart hinein eine Zierde des deutschen
Geisteslebens. Der enge Zusammenhang mit der Kultur Deutschlands löste
sich jedoch infolge der gewaltsamen Russifizierung der Universität seit dem Beginne
der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, und die Universität Jurjew,
wie sie seit 1893 hieß, ward in das russische Kulturleben eingegliedert, was
äußerlich durch ihre völlige Gleichstellung mit den übrigen Hochschulen des
Reiches einen charakteristischen Ausdruck fand.

Dieser Eingriff in die organische Entwicklung der Universität war für sie
selbst verhängnisvoll: er nahm ihr einen großen Teil der besten Kräfte und
beraubte sie für die Zukunft des Zuzugs von Lehrkräften aus Deutschland.
Auch für die Studentenschaft hatte die Russifizierung tiefgehende Bedeutung,
denn von jetzt ab war die Universität den übrigen Völkern Rußlands schrankenlos
geöffnet, und die Deutschen der Ostseeprovinzen traten bald auch zahlenmäßig
zurück. So stammten im Jahre 1890 von 1812 Studenten 1111. 1906 von
2017 (einschließlich der Pharmazeuten) uur 606 und 1913 von 2608 (ein¬
schließlich der Pharmazeuten) nur 1000 aus den baltischen Provinzen.

Den Kern des deutschen Studententums in Dorpat, das sich zahlenmäßig
kaum fest bestimmen läßt, bildeten bis zum Beginne des Krieges die fünf
farbentragenden Korporationen baltischer Studenten "Curonia" (1808), "Estouia"
(1821). "Livonia" (1822). "Fraternitas Rigensis" (1823) und "Neobaltia"
(1379), welche zusammen mit der aus süddeutschen Kolonistensöhnen bestehenden
"Tentonia" (1908) den Chargiertenkonvent (Eh! C!-Chargierten-Convent) aus¬
machen. Wie schon die Gründungsjahre beweisen, geht ein Teil dieser Verbindungen
auf die älteste Zeit der Universität zurück, und mit Recht hat man gesagt: "Aus den
schroffen Gegensätzen des landsmannschaftlichen Partikularismus, wie er von
Anfang an mit rücksichtsloser Schroffheit von den Kurländern vertreten wurde,
und dem idealistischen, aber weniger lebenskräftigen Kosmopolitismus, dessen
Hauptrepräsentanten früher die Livländer waren, hat sich in wahrhaft historischer
Weise die . . . Form des Dorpater Burschenstaates entwickelt." Aus den
geschichtlichen Verhältnissen des eigenen Landes heraus gestaltete sich somit das
Dorpater Burschenleben, und Bestrebungen, welche nicht im baltischen Boden
wurzelten, besaßen keine Dauer, wie die kurzlebigen Burschenschafter nach deutschem
Muster (1823 bis 1833) und die 1859 gegründete, 1866 verschwundene Wingolfs-
verbindung Arminia schlagend beweisen. Seinen bezeichnenden Ausdruck erhielt
der Dorpater Burschenstaat in dem 1834 gestifteten "Chargiertenkonvent". der
Mit einer kurzen Unterbrechung um 1850 von seiner Gründung bis 1894 all¬
gemeine Geltung besaß, da die Hauptmasse der Studenten gleicher deutscher


Die deutsche Studentenschaft in Rußland

Von den ersteren ist zunächst die Universität Dorpat zu erwähnen, welche
im Frühjahr 1802 als Nachfolgerin der von Gustav Adolf 1632 gestifteten
deutsch, schwedischen Hochschule entstand und seit ihrer Gründung einen ausgesprochen
deutschen Charakter trug. Fast neunzig Jahre lang blieb sie in regsten, Gedanken¬
austausch mit ihren reichsdeutschen Schwesteranstalten, und viele ihrer ehemaligen
Jünger und Lehrer bilden bis in die Gegenwart hinein eine Zierde des deutschen
Geisteslebens. Der enge Zusammenhang mit der Kultur Deutschlands löste
sich jedoch infolge der gewaltsamen Russifizierung der Universität seit dem Beginne
der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, und die Universität Jurjew,
wie sie seit 1893 hieß, ward in das russische Kulturleben eingegliedert, was
äußerlich durch ihre völlige Gleichstellung mit den übrigen Hochschulen des
Reiches einen charakteristischen Ausdruck fand.

Dieser Eingriff in die organische Entwicklung der Universität war für sie
selbst verhängnisvoll: er nahm ihr einen großen Teil der besten Kräfte und
beraubte sie für die Zukunft des Zuzugs von Lehrkräften aus Deutschland.
Auch für die Studentenschaft hatte die Russifizierung tiefgehende Bedeutung,
denn von jetzt ab war die Universität den übrigen Völkern Rußlands schrankenlos
geöffnet, und die Deutschen der Ostseeprovinzen traten bald auch zahlenmäßig
zurück. So stammten im Jahre 1890 von 1812 Studenten 1111. 1906 von
2017 (einschließlich der Pharmazeuten) uur 606 und 1913 von 2608 (ein¬
schließlich der Pharmazeuten) nur 1000 aus den baltischen Provinzen.

Den Kern des deutschen Studententums in Dorpat, das sich zahlenmäßig
kaum fest bestimmen läßt, bildeten bis zum Beginne des Krieges die fünf
farbentragenden Korporationen baltischer Studenten „Curonia" (1808), „Estouia"
(1821). „Livonia" (1822). „Fraternitas Rigensis" (1823) und „Neobaltia"
(1379), welche zusammen mit der aus süddeutschen Kolonistensöhnen bestehenden
„Tentonia" (1908) den Chargiertenkonvent (Eh! C!-Chargierten-Convent) aus¬
machen. Wie schon die Gründungsjahre beweisen, geht ein Teil dieser Verbindungen
auf die älteste Zeit der Universität zurück, und mit Recht hat man gesagt: „Aus den
schroffen Gegensätzen des landsmannschaftlichen Partikularismus, wie er von
Anfang an mit rücksichtsloser Schroffheit von den Kurländern vertreten wurde,
und dem idealistischen, aber weniger lebenskräftigen Kosmopolitismus, dessen
Hauptrepräsentanten früher die Livländer waren, hat sich in wahrhaft historischer
Weise die . . . Form des Dorpater Burschenstaates entwickelt." Aus den
geschichtlichen Verhältnissen des eigenen Landes heraus gestaltete sich somit das
Dorpater Burschenleben, und Bestrebungen, welche nicht im baltischen Boden
wurzelten, besaßen keine Dauer, wie die kurzlebigen Burschenschafter nach deutschem
Muster (1823 bis 1833) und die 1859 gegründete, 1866 verschwundene Wingolfs-
verbindung Arminia schlagend beweisen. Seinen bezeichnenden Ausdruck erhielt
der Dorpater Burschenstaat in dem 1834 gestifteten „Chargiertenkonvent". der
Mit einer kurzen Unterbrechung um 1850 von seiner Gründung bis 1894 all¬
gemeine Geltung besaß, da die Hauptmasse der Studenten gleicher deutscher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/219>, abgerufen am 22.07.2024.