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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Ivie das Deutsche Reich die Niederlande verlor

lösen konnten und aller trennenden Bande frei und ledig sich zu einem selb¬
ständigen Staatswesen verewigten?

Wenn wir in der Vergangenheit Einkehr halten und nach den entscheidenden
Ereignissen suchen, tritt uns zunächst ein französisch'englisches Problem entgegen,
der Streit um Flandern zwischen Frankreich und England. Deutschland kommt
erst später hinzu, ebenso wie die flandrische Frage sich erst allmählich zur
niederländischen ausmachst.

In den Ausgang des vierzehnten Jahrhunderts müssen wir uns versetzen,
in jene Zeit, da der hundertjährige Krieg ganz Europa erschütterte, da England
versuchte, sich auf dem Festlande einzurichten. Hatte früher einmal König Philipp
der Zweite von Frankreich, den bereits seine Zeitgenossen "Augustus", "Mehrer
des Reiches", genannt haben, daran gedacht, Albion unter das Lilienbanner
ZU bringen, jetzt legte der Leopard auf die reichen französischen Gefilde seine
Pranken. In den beiden furchtbaren Schlachten von Cröci und Poitiers ward
die veraltete Taktik der französischen Ritterheere durch die genial verwerteten
englischen Bogenschützen über'den Haufen geworfen. Nach dem Frieden von
Brötigni-Calais im Jahre 1360 besaß König Eduard der Dritte wohl ein
Viertel des heutigen Frankreichs, den ganzen Südwesten und im Norden Calais,
den wichtigsten Stützpunkt, den England über zweihundeitJahrebehauptcthat^ Immer
noch nicht zufrieden, spähte der hoch bedeutende Plantegenöt rastlos nach einer
günstigen Gelegenheit aus, die Herrschaft in Frankreich weiter auszudehnen.
Bald genug bot sie sich dar.

Margarethe von Flandern, damals die reichste Erbin von Europa, die
auch Anwartschaft auf Artois und die Freigrafschast Burgund (Furche-Conto),
auf Rethel und Revers mitbrachte, wurde im Jahre 1361 Witwe und hatte
keine Leibeserben. Der Glückliche, der ihre Hand gewann, wurde mit einem
Schlage einer der begütersten und mächtigsten Fürsten in Europa, Vasall zu¬
gleich der französischen und der deutschen Krone. Nachbar des englischen Königs.

Sofort erschien König Eduard auf dem Plan: es galt "Englands Lontre-
escarps" in Besitz zu nehmen. Im Einverständnis mit den Flandrern und
ihrem berühmten Volksführer, Jakob van Artevelde, hatte er ja den Angriffs¬
krieg begonnen, auf dem Freitagsmarkt in Gent einst Titel und Wappen
des Königs von Frankreich angenommen und sich als legitimen Nachfolger des
Heiligen Ludwig huldigen lassen; an der flandrischen Küste, in der Bucht des
Zom, errang die englische Flotte den ersten Sieg. Jetzt versuchte er selbst in
Flandern Fuß zu fassen und bewarb sich für einen jüngeren Sohn um die
Hand der Erbin. Die Aussichten waren nicht ungünstig. Denn die ausschlag¬
gebenden Städte, Gent, Brügge, Upcrn betrieben die Verbindung, da sie mit
ihrer Tuchfabrikation auf die englische Wolle angewiesen waren. Wie die Un¬
gnade des englischen Königs ihren Handel auf Jahre lahmlegen, ja völlig
vernichten konnte, so mußte doch die Gnadensonne des Herrschers, der ihnen
allgewaltig und unermeßlich reich erschien, eine herrliche Blüte in Flandern


Ivie das Deutsche Reich die Niederlande verlor

lösen konnten und aller trennenden Bande frei und ledig sich zu einem selb¬
ständigen Staatswesen verewigten?

Wenn wir in der Vergangenheit Einkehr halten und nach den entscheidenden
Ereignissen suchen, tritt uns zunächst ein französisch'englisches Problem entgegen,
der Streit um Flandern zwischen Frankreich und England. Deutschland kommt
erst später hinzu, ebenso wie die flandrische Frage sich erst allmählich zur
niederländischen ausmachst.

In den Ausgang des vierzehnten Jahrhunderts müssen wir uns versetzen,
in jene Zeit, da der hundertjährige Krieg ganz Europa erschütterte, da England
versuchte, sich auf dem Festlande einzurichten. Hatte früher einmal König Philipp
der Zweite von Frankreich, den bereits seine Zeitgenossen „Augustus", „Mehrer
des Reiches", genannt haben, daran gedacht, Albion unter das Lilienbanner
ZU bringen, jetzt legte der Leopard auf die reichen französischen Gefilde seine
Pranken. In den beiden furchtbaren Schlachten von Cröci und Poitiers ward
die veraltete Taktik der französischen Ritterheere durch die genial verwerteten
englischen Bogenschützen über'den Haufen geworfen. Nach dem Frieden von
Brötigni-Calais im Jahre 1360 besaß König Eduard der Dritte wohl ein
Viertel des heutigen Frankreichs, den ganzen Südwesten und im Norden Calais,
den wichtigsten Stützpunkt, den England über zweihundeitJahrebehauptcthat^ Immer
noch nicht zufrieden, spähte der hoch bedeutende Plantegenöt rastlos nach einer
günstigen Gelegenheit aus, die Herrschaft in Frankreich weiter auszudehnen.
Bald genug bot sie sich dar.

Margarethe von Flandern, damals die reichste Erbin von Europa, die
auch Anwartschaft auf Artois und die Freigrafschast Burgund (Furche-Conto),
auf Rethel und Revers mitbrachte, wurde im Jahre 1361 Witwe und hatte
keine Leibeserben. Der Glückliche, der ihre Hand gewann, wurde mit einem
Schlage einer der begütersten und mächtigsten Fürsten in Europa, Vasall zu¬
gleich der französischen und der deutschen Krone. Nachbar des englischen Königs.

Sofort erschien König Eduard auf dem Plan: es galt „Englands Lontre-
escarps" in Besitz zu nehmen. Im Einverständnis mit den Flandrern und
ihrem berühmten Volksführer, Jakob van Artevelde, hatte er ja den Angriffs¬
krieg begonnen, auf dem Freitagsmarkt in Gent einst Titel und Wappen
des Königs von Frankreich angenommen und sich als legitimen Nachfolger des
Heiligen Ludwig huldigen lassen; an der flandrischen Küste, in der Bucht des
Zom, errang die englische Flotte den ersten Sieg. Jetzt versuchte er selbst in
Flandern Fuß zu fassen und bewarb sich für einen jüngeren Sohn um die
Hand der Erbin. Die Aussichten waren nicht ungünstig. Denn die ausschlag¬
gebenden Städte, Gent, Brügge, Upcrn betrieben die Verbindung, da sie mit
ihrer Tuchfabrikation auf die englische Wolle angewiesen waren. Wie die Un¬
gnade des englischen Königs ihren Handel auf Jahre lahmlegen, ja völlig
vernichten konnte, so mußte doch die Gnadensonne des Herrschers, der ihnen
allgewaltig und unermeßlich reich erschien, eine herrliche Blüte in Flandern


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[0147] Ivie das Deutsche Reich die Niederlande verlor lösen konnten und aller trennenden Bande frei und ledig sich zu einem selb¬ ständigen Staatswesen verewigten? Wenn wir in der Vergangenheit Einkehr halten und nach den entscheidenden Ereignissen suchen, tritt uns zunächst ein französisch'englisches Problem entgegen, der Streit um Flandern zwischen Frankreich und England. Deutschland kommt erst später hinzu, ebenso wie die flandrische Frage sich erst allmählich zur niederländischen ausmachst. In den Ausgang des vierzehnten Jahrhunderts müssen wir uns versetzen, in jene Zeit, da der hundertjährige Krieg ganz Europa erschütterte, da England versuchte, sich auf dem Festlande einzurichten. Hatte früher einmal König Philipp der Zweite von Frankreich, den bereits seine Zeitgenossen „Augustus", „Mehrer des Reiches", genannt haben, daran gedacht, Albion unter das Lilienbanner ZU bringen, jetzt legte der Leopard auf die reichen französischen Gefilde seine Pranken. In den beiden furchtbaren Schlachten von Cröci und Poitiers ward die veraltete Taktik der französischen Ritterheere durch die genial verwerteten englischen Bogenschützen über'den Haufen geworfen. Nach dem Frieden von Brötigni-Calais im Jahre 1360 besaß König Eduard der Dritte wohl ein Viertel des heutigen Frankreichs, den ganzen Südwesten und im Norden Calais, den wichtigsten Stützpunkt, den England über zweihundeitJahrebehauptcthat^ Immer noch nicht zufrieden, spähte der hoch bedeutende Plantegenöt rastlos nach einer günstigen Gelegenheit aus, die Herrschaft in Frankreich weiter auszudehnen. Bald genug bot sie sich dar. Margarethe von Flandern, damals die reichste Erbin von Europa, die auch Anwartschaft auf Artois und die Freigrafschast Burgund (Furche-Conto), auf Rethel und Revers mitbrachte, wurde im Jahre 1361 Witwe und hatte keine Leibeserben. Der Glückliche, der ihre Hand gewann, wurde mit einem Schlage einer der begütersten und mächtigsten Fürsten in Europa, Vasall zu¬ gleich der französischen und der deutschen Krone. Nachbar des englischen Königs. Sofort erschien König Eduard auf dem Plan: es galt „Englands Lontre- escarps" in Besitz zu nehmen. Im Einverständnis mit den Flandrern und ihrem berühmten Volksführer, Jakob van Artevelde, hatte er ja den Angriffs¬ krieg begonnen, auf dem Freitagsmarkt in Gent einst Titel und Wappen des Königs von Frankreich angenommen und sich als legitimen Nachfolger des Heiligen Ludwig huldigen lassen; an der flandrischen Küste, in der Bucht des Zom, errang die englische Flotte den ersten Sieg. Jetzt versuchte er selbst in Flandern Fuß zu fassen und bewarb sich für einen jüngeren Sohn um die Hand der Erbin. Die Aussichten waren nicht ungünstig. Denn die ausschlag¬ gebenden Städte, Gent, Brügge, Upcrn betrieben die Verbindung, da sie mit ihrer Tuchfabrikation auf die englische Wolle angewiesen waren. Wie die Un¬ gnade des englischen Königs ihren Handel auf Jahre lahmlegen, ja völlig vernichten konnte, so mußte doch die Gnadensonne des Herrschers, der ihnen allgewaltig und unermeßlich reich erschien, eine herrliche Blüte in Flandern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/147>, abgerufen am 22.07.2024.