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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Der Ministerwechsel in Rußland

vortretende Bestreben, auf irgend eine gut aussehende aber zu nichts ver¬
pflichtende Weise zu einer Verständigung mit der Gesellschaft zu kommen.

Solche Taktik kann unter Umständen sehr nützlich sein. Man sieht schon
jetzt den Erfolg bei vielen sonst ganz links stehenden russischen Zeitungen. Sie sind
verwirrt durch die Erklärungen des neuen Ministers, dem sie natürlich nicht trauen,
von dem sie aber immerhin solche Äußerungen nicht erwartet hatten. Doch ist das
alles eben nur Taktik. Menschikows Einschätzung der Lage ist charakteristisch. Er
betont den Umstand, daß die ganze Konfusion und Unzufriedenheit in Rußland
von der "Untätigkeit der Negierung" gekommen sei. Eine starke Regierung
werde den Karren schon aus dem Dreck fahren, wenn sie auch einmal daneben
haue. Das schade nichts. Überall müsse man sie merken. Chwostow ist der
richtige Mann dazu, das Ideal der Nowoje Wremja zu verwirklichen. "Er
ist ein sehr kluger, beobachtender, nachdenklicher Mann mit einem großen Vor¬
rat an Verständnis für die russische Seele. Eine besonders reiche Erfahrung
hat er bezüglich der jüngsten revolutionären Strömungen in der Arbeiterschaft und
bei den kleinen Leuten.... Er ist ein Mann, der nicht wünscht, eine Fiktion
zu sein."

Der Kökökök hatte einige Tage vor dem Abgange Schtscherbatows einen
offenbar schon von dem kommenden Mann inspirierten Fühler ausgestreckt.
Das Grundmotiv war: auch die Regierung wünscht eine Versöhnung mit der
Gesellschaft. Man könne daher über die zeitigere Einberufung der Duma reden,
das Programm des Blockes allerdings sei nicht zu verwirklichen. Ein Kom¬
promiß müsse geschlossen werden. "Um des Sieges willen" hätten sich
Schingariow und Bobrinski gefunden, warum sollte sich nicht auf neutralem
Boden auch die Regierung mit dem Blocke finden? Die Kadetten haben bisher
und werden wohl auch weiter ein solches Kompromiß ablehnen, weil sie nicht
wissen, was sein Inhalt sein soll. "Wie kann man über ein Nachgeben
sprechen", sagt Njetsch, "wenn man nicht weiß, worin es bestehen und wozu
es führen soll." --

Man sieht aus diesem Präludium, wohin der Weg geht, den Chwostow
verfolgt. Er rechnet dabei auf die tragische Lage, in der sich die nach Reformen
dürstende Gesellschaft befindet, die doch nicht wünscht, daß der innere Konflikt
die Einigkeit des russischen Volkes nach außen beeinflußt. Und er hat dabei
nicht so ganz unrecht.

Schon aus den Beschlüssen des Adelskongresses in Moskau geht hervor,
daß der Apel zwar für notwendig hielt, dem Zaren in einem Telegramme zu
sagen, daß zum Heile Rußlands ein gegenseitiges Verständnis zwischen Regierung
und Gesellschaft durch ein Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der
letzteren angebahnt werden müsse, daß er es aber bei diesen platonischen
Wünschen hat bewenden lassen. Chwostow weiß, daß die Opposition in Ru߬
land den Willen zur Tat nicht finden kann und will, außerdem ist die Gefahr
der allmählichen Abstumpfung und Gleichgültigkeit nicht zu verkennen, die schon


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Der Ministerwechsel in Rußland

vortretende Bestreben, auf irgend eine gut aussehende aber zu nichts ver¬
pflichtende Weise zu einer Verständigung mit der Gesellschaft zu kommen.

Solche Taktik kann unter Umständen sehr nützlich sein. Man sieht schon
jetzt den Erfolg bei vielen sonst ganz links stehenden russischen Zeitungen. Sie sind
verwirrt durch die Erklärungen des neuen Ministers, dem sie natürlich nicht trauen,
von dem sie aber immerhin solche Äußerungen nicht erwartet hatten. Doch ist das
alles eben nur Taktik. Menschikows Einschätzung der Lage ist charakteristisch. Er
betont den Umstand, daß die ganze Konfusion und Unzufriedenheit in Rußland
von der „Untätigkeit der Negierung" gekommen sei. Eine starke Regierung
werde den Karren schon aus dem Dreck fahren, wenn sie auch einmal daneben
haue. Das schade nichts. Überall müsse man sie merken. Chwostow ist der
richtige Mann dazu, das Ideal der Nowoje Wremja zu verwirklichen. „Er
ist ein sehr kluger, beobachtender, nachdenklicher Mann mit einem großen Vor¬
rat an Verständnis für die russische Seele. Eine besonders reiche Erfahrung
hat er bezüglich der jüngsten revolutionären Strömungen in der Arbeiterschaft und
bei den kleinen Leuten.... Er ist ein Mann, der nicht wünscht, eine Fiktion
zu sein."

Der Kökökök hatte einige Tage vor dem Abgange Schtscherbatows einen
offenbar schon von dem kommenden Mann inspirierten Fühler ausgestreckt.
Das Grundmotiv war: auch die Regierung wünscht eine Versöhnung mit der
Gesellschaft. Man könne daher über die zeitigere Einberufung der Duma reden,
das Programm des Blockes allerdings sei nicht zu verwirklichen. Ein Kom¬
promiß müsse geschlossen werden. „Um des Sieges willen" hätten sich
Schingariow und Bobrinski gefunden, warum sollte sich nicht auf neutralem
Boden auch die Regierung mit dem Blocke finden? Die Kadetten haben bisher
und werden wohl auch weiter ein solches Kompromiß ablehnen, weil sie nicht
wissen, was sein Inhalt sein soll. „Wie kann man über ein Nachgeben
sprechen", sagt Njetsch, „wenn man nicht weiß, worin es bestehen und wozu
es führen soll." —

Man sieht aus diesem Präludium, wohin der Weg geht, den Chwostow
verfolgt. Er rechnet dabei auf die tragische Lage, in der sich die nach Reformen
dürstende Gesellschaft befindet, die doch nicht wünscht, daß der innere Konflikt
die Einigkeit des russischen Volkes nach außen beeinflußt. Und er hat dabei
nicht so ganz unrecht.

Schon aus den Beschlüssen des Adelskongresses in Moskau geht hervor,
daß der Apel zwar für notwendig hielt, dem Zaren in einem Telegramme zu
sagen, daß zum Heile Rußlands ein gegenseitiges Verständnis zwischen Regierung
und Gesellschaft durch ein Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der
letzteren angebahnt werden müsse, daß er es aber bei diesen platonischen
Wünschen hat bewenden lassen. Chwostow weiß, daß die Opposition in Ru߬
land den Willen zur Tat nicht finden kann und will, außerdem ist die Gefahr
der allmählichen Abstumpfung und Gleichgültigkeit nicht zu verkennen, die schon


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[0143] Der Ministerwechsel in Rußland vortretende Bestreben, auf irgend eine gut aussehende aber zu nichts ver¬ pflichtende Weise zu einer Verständigung mit der Gesellschaft zu kommen. Solche Taktik kann unter Umständen sehr nützlich sein. Man sieht schon jetzt den Erfolg bei vielen sonst ganz links stehenden russischen Zeitungen. Sie sind verwirrt durch die Erklärungen des neuen Ministers, dem sie natürlich nicht trauen, von dem sie aber immerhin solche Äußerungen nicht erwartet hatten. Doch ist das alles eben nur Taktik. Menschikows Einschätzung der Lage ist charakteristisch. Er betont den Umstand, daß die ganze Konfusion und Unzufriedenheit in Rußland von der „Untätigkeit der Negierung" gekommen sei. Eine starke Regierung werde den Karren schon aus dem Dreck fahren, wenn sie auch einmal daneben haue. Das schade nichts. Überall müsse man sie merken. Chwostow ist der richtige Mann dazu, das Ideal der Nowoje Wremja zu verwirklichen. „Er ist ein sehr kluger, beobachtender, nachdenklicher Mann mit einem großen Vor¬ rat an Verständnis für die russische Seele. Eine besonders reiche Erfahrung hat er bezüglich der jüngsten revolutionären Strömungen in der Arbeiterschaft und bei den kleinen Leuten.... Er ist ein Mann, der nicht wünscht, eine Fiktion zu sein." Der Kökökök hatte einige Tage vor dem Abgange Schtscherbatows einen offenbar schon von dem kommenden Mann inspirierten Fühler ausgestreckt. Das Grundmotiv war: auch die Regierung wünscht eine Versöhnung mit der Gesellschaft. Man könne daher über die zeitigere Einberufung der Duma reden, das Programm des Blockes allerdings sei nicht zu verwirklichen. Ein Kom¬ promiß müsse geschlossen werden. „Um des Sieges willen" hätten sich Schingariow und Bobrinski gefunden, warum sollte sich nicht auf neutralem Boden auch die Regierung mit dem Blocke finden? Die Kadetten haben bisher und werden wohl auch weiter ein solches Kompromiß ablehnen, weil sie nicht wissen, was sein Inhalt sein soll. „Wie kann man über ein Nachgeben sprechen", sagt Njetsch, „wenn man nicht weiß, worin es bestehen und wozu es führen soll." — Man sieht aus diesem Präludium, wohin der Weg geht, den Chwostow verfolgt. Er rechnet dabei auf die tragische Lage, in der sich die nach Reformen dürstende Gesellschaft befindet, die doch nicht wünscht, daß der innere Konflikt die Einigkeit des russischen Volkes nach außen beeinflußt. Und er hat dabei nicht so ganz unrecht. Schon aus den Beschlüssen des Adelskongresses in Moskau geht hervor, daß der Apel zwar für notwendig hielt, dem Zaren in einem Telegramme zu sagen, daß zum Heile Rußlands ein gegenseitiges Verständnis zwischen Regierung und Gesellschaft durch ein Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der letzteren angebahnt werden müsse, daß er es aber bei diesen platonischen Wünschen hat bewenden lassen. Chwostow weiß, daß die Opposition in Ru߬ land den Willen zur Tat nicht finden kann und will, außerdem ist die Gefahr der allmählichen Abstumpfung und Gleichgültigkeit nicht zu verkennen, die schon 9-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/143>, abgerufen am 24.08.2024.