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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Wie unsere vorfahren Besitz ergriffen

Neben den Körperkräften wandte man natürlich auch seine geistigen Kräfte
an, um Besitz, möglichst viel Besitz, zu erwerben. Eine angelsächsische Über¬
lieferung berichtet von der Ankunft des Hengist und Hors in Britannien,
Hengist habe sich soviel Raums zur Niederlassung erbeten, als der Umfang
einer Ochsenhaut betrage. Als seiner Bitte gewährt wurde, verschafft er sich
die Haut eines alten Ochsen, läßt sie wohl gerben und dreimal ausspannen,
hernach in die schmalsten Riemen schneiden, mit den Riemen umzieht er eine
weite Strecke, worauf der Grundwall einer großen Burg gelegt wird, die
Lundunaborg hieß, das heutige London. Heinrich der Wels ließ sich von
Ludwig dem Frommen soviel Land verleihen, als er, so lange der König zu
Mittag schliefe, mit einem goldenen Pfluge umackern oder mit einem goldenen
Wagen umziehen könnte. Noch viel mehr Land gewann der heilige Andreas
von Sagelse, dem König Waldemar von Dänemark um das Jahr 1205 soviel
Land schenkte, als er auf einem neun Nächte alten Füllen umreiten würde,
während der König im Bade saß. Andreas ritt so scharf, daß die Hofleute zu
Waldemar eilten und ihn ernährten, schnell aus dem Bade zu steigen, sonst
umritte der Heilige das ganze Reich. So betätigten sich, wenn es galt Besitz
zu erwerben, Witz, List, und es fehlte auch nicht an Humor. Besonders lustig
ist in dieser Beziehung folgendes, was das LKromLon nvvalieiense von König
Karl erzählt. Er habe einem Spielmanne mit dem Rechte gelohnt, auf einen
hohen Berg zu steigen und sein Horn zu blasen. So weit es gehört werden
würde, sollten ihm Land und Leute zu eigen sein. Der Sänger blies, stieg vom
Berge herab, ging durch Dörfer und Felder, und wen er fand, fragte er: hast
du ein Horn blasen hören? Jedem, der es bejahte, gab er eine Maulschelle
mit den Worten: du bist mein Eigen. . . .

Auch die gerichtliche Übereignung eines Besitztums geschah in solch körperlich
sinnbildlicher Weise. Sie wurde symbolisch dadurch bewerkstelligt, daß der
Fronbote einen Span aus dem Türpfosten des Hauses, dessen Besitzer wechselte,
heraushieb und ihn dem neuen Eigentümer einhändigte. War aber der frühere
Besitzer wegen einer Klage oder Strafe entflohen, dann hieb der Büttel ein
Messer über seine Türe und machte ihn dadurch ehrlos und vogelfrei. Je
ausgedehnter und mannigfaltiger ein Besitz war, der in andere Hände überging,
um so zahlreicher und mannigfacher waren auch die Symbole, die bei der
Besitzergreifung beobachtet werden mußten. Jeder einzelne Gegenstand wurde
dabei auf besondere Weise angetastet. Als im Jahre 1631 die Stadt Emden
einige "Herrlichkeiten" dicht vor ihren Toren erwarb, waren ihre "Deputierten
und Gekommittierten" zwei Tage lang unterwegs, um in den verschiedenen
Dörfern von der Kirche (durch Übernahme des Schlüssels und Anhören einer
Predigt), vom Glockentürme (durch Umfassung des Glockenseils), von den Pforten
und Brücken, von der Fähre, der Mühle, der Wage, ja vom Galgen. "Besitz
zu ergreifen", und seit der Zeit signierte man stolz: "Wir, Bürgermeister und
Rat der Stadt Emden, auch Herren und Häuptlinge zu Oldersum, Groß- und


Wie unsere vorfahren Besitz ergriffen

Neben den Körperkräften wandte man natürlich auch seine geistigen Kräfte
an, um Besitz, möglichst viel Besitz, zu erwerben. Eine angelsächsische Über¬
lieferung berichtet von der Ankunft des Hengist und Hors in Britannien,
Hengist habe sich soviel Raums zur Niederlassung erbeten, als der Umfang
einer Ochsenhaut betrage. Als seiner Bitte gewährt wurde, verschafft er sich
die Haut eines alten Ochsen, läßt sie wohl gerben und dreimal ausspannen,
hernach in die schmalsten Riemen schneiden, mit den Riemen umzieht er eine
weite Strecke, worauf der Grundwall einer großen Burg gelegt wird, die
Lundunaborg hieß, das heutige London. Heinrich der Wels ließ sich von
Ludwig dem Frommen soviel Land verleihen, als er, so lange der König zu
Mittag schliefe, mit einem goldenen Pfluge umackern oder mit einem goldenen
Wagen umziehen könnte. Noch viel mehr Land gewann der heilige Andreas
von Sagelse, dem König Waldemar von Dänemark um das Jahr 1205 soviel
Land schenkte, als er auf einem neun Nächte alten Füllen umreiten würde,
während der König im Bade saß. Andreas ritt so scharf, daß die Hofleute zu
Waldemar eilten und ihn ernährten, schnell aus dem Bade zu steigen, sonst
umritte der Heilige das ganze Reich. So betätigten sich, wenn es galt Besitz
zu erwerben, Witz, List, und es fehlte auch nicht an Humor. Besonders lustig
ist in dieser Beziehung folgendes, was das LKromLon nvvalieiense von König
Karl erzählt. Er habe einem Spielmanne mit dem Rechte gelohnt, auf einen
hohen Berg zu steigen und sein Horn zu blasen. So weit es gehört werden
würde, sollten ihm Land und Leute zu eigen sein. Der Sänger blies, stieg vom
Berge herab, ging durch Dörfer und Felder, und wen er fand, fragte er: hast
du ein Horn blasen hören? Jedem, der es bejahte, gab er eine Maulschelle
mit den Worten: du bist mein Eigen. . . .

Auch die gerichtliche Übereignung eines Besitztums geschah in solch körperlich
sinnbildlicher Weise. Sie wurde symbolisch dadurch bewerkstelligt, daß der
Fronbote einen Span aus dem Türpfosten des Hauses, dessen Besitzer wechselte,
heraushieb und ihn dem neuen Eigentümer einhändigte. War aber der frühere
Besitzer wegen einer Klage oder Strafe entflohen, dann hieb der Büttel ein
Messer über seine Türe und machte ihn dadurch ehrlos und vogelfrei. Je
ausgedehnter und mannigfaltiger ein Besitz war, der in andere Hände überging,
um so zahlreicher und mannigfacher waren auch die Symbole, die bei der
Besitzergreifung beobachtet werden mußten. Jeder einzelne Gegenstand wurde
dabei auf besondere Weise angetastet. Als im Jahre 1631 die Stadt Emden
einige „Herrlichkeiten" dicht vor ihren Toren erwarb, waren ihre „Deputierten
und Gekommittierten" zwei Tage lang unterwegs, um in den verschiedenen
Dörfern von der Kirche (durch Übernahme des Schlüssels und Anhören einer
Predigt), vom Glockentürme (durch Umfassung des Glockenseils), von den Pforten
und Brücken, von der Fähre, der Mühle, der Wage, ja vom Galgen. „Besitz
zu ergreifen", und seit der Zeit signierte man stolz: „Wir, Bürgermeister und
Rat der Stadt Emden, auch Herren und Häuptlinge zu Oldersum, Groß- und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/96>, abgerufen am 03.07.2024.