Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wie unsere vorfahren Besitz ergriffen

auf dem vppicZum Tungen im Jahre 1322, der, als der Kaiser vorbeiging
zu dessen großer, und laut geäußerter Verwunderung "sitzen blieb und kaum
den Hut rückte", weil er eben sein Lehen nicht dem Kaiser verdankte, sondern
der Sonne. . . . Wie wichtig diese Art der Besitzergreifung durch Feueranzünder
war, beweist die hohe Bedeutung, die noch jahrhundertelang der Feuerstätte im
niederdeutschen Bauernhause beigemessen wurde. Sie war der wichtigste Platz
im ganzen Hofe, der bevorzugte Sitz des Herrn, von dem aus er sein ganzes
Anwesen überschaute und leitete. Noch in später Zeit sehen wir den abziehenden
Besitzer als letztes, bevor er fein Haus verläßt, das Feuer auf dem Herde
verlöschen und den Anziehenden als erste, wichtige sinnbildliche Handlung der
Besitzergreifung, es wieder anzünden.

Die alten Deutschen ergriffen aber nicht nur mit andächtiger Seele Besitz,
sondern mit allen ihren Kräften. Sie bekräftigten dabei auf ursprüngliche Art
die alte Weisheit: der Mensch ist das Maß aller Dinge. Die einfachste Form
der Inbesitznahme ist nach dieser Anschauung die, daß man sich auf etwas --
setzt. "Il fett up mien Eegen, well will mi wat dann?" sagt in sicherem
Gefühl der Marschbauer, wenn er wie ein König von hoher Warst über
meilenweite grüne Weidewiesen blickt. Dem hat freilich auch niemand geschenkt,
was er "besitzt", aber mit dem bloßen Niedersetzen war es hier erst recht nicht
getan. Im Gegenteil! Solcher Besitz ist im Kampfe mit einem stets unruhigen
Feinde, dem wilden, tückischen Meere errungen, mit zäher Ausdauer, Last um
Last aufgebaut, und schließlich muß er fort und fort kraftvoll verteidigt werden,
wie kein anderer. Denn sonst schwemmt leicht eine einzige Sturmflut, eine
einzige wilde Woge den ganzen "Platz", das Ergebnis jahrelanger Mühen von
hundert und aberhundert Händen, wieder fort.

Zu dieser ursprünglich im wahrsten Sinne des Wortes körperlichen Besitz¬
ergreifung -- man sehe sich nur einmal das Wort recht auf das an, was es
bedeutet -- bediente man sich ungefähr aller Glieder mit ihren sämtlichen
Leistungen. Da maß man mit der Elle (Unterarm) und mit dem Schritt.
Auch mit dem Fuß, und zwar "barfuß"; erst später, als man schon feiner
geworden war, maß man mit dem Schuh. In der alten Kaiserstadt Goslar
vermaßen sie einmal einen Graben; da hieß es: de vote schal en sin geschoet,
de ander bervoet. Das ist so recht ein Kennzeichen dieser Übergangszeit. Was
ist eine Meile? Die Lateiner sagen: milia passum, tausend Schritte zu fünf
Fuß. Im Jahre 1S29 wurde irgendwo in Deutschland eine Meile ausgemessen:
zehn Männer mußten dazu ihre rechten Füße hintereinander setzen. Sie hatten
aber anscheinend auch schon Schuhe an, denn es heißt weiter: zwanzig Schuhe
sind eine Rute, sechzig Ruten ein Morgen, sechzig Morgen eine Meile. Wer
einen Acker gewinnen wollte, spannte ein Joch Rinder vor den Pflug und
pflügte damit, und wieviel er damit an einem Morgen umlegte, das nannte
er dann einen "Morgen". Er verdankte somit seinen Besitz seiner Kraft. Es
lohnte sich jedoch für die alten Deutschen nur nach drei Seiten, will sagen


Grenzboten III 191S 6
Wie unsere vorfahren Besitz ergriffen

auf dem vppicZum Tungen im Jahre 1322, der, als der Kaiser vorbeiging
zu dessen großer, und laut geäußerter Verwunderung „sitzen blieb und kaum
den Hut rückte", weil er eben sein Lehen nicht dem Kaiser verdankte, sondern
der Sonne. . . . Wie wichtig diese Art der Besitzergreifung durch Feueranzünder
war, beweist die hohe Bedeutung, die noch jahrhundertelang der Feuerstätte im
niederdeutschen Bauernhause beigemessen wurde. Sie war der wichtigste Platz
im ganzen Hofe, der bevorzugte Sitz des Herrn, von dem aus er sein ganzes
Anwesen überschaute und leitete. Noch in später Zeit sehen wir den abziehenden
Besitzer als letztes, bevor er fein Haus verläßt, das Feuer auf dem Herde
verlöschen und den Anziehenden als erste, wichtige sinnbildliche Handlung der
Besitzergreifung, es wieder anzünden.

Die alten Deutschen ergriffen aber nicht nur mit andächtiger Seele Besitz,
sondern mit allen ihren Kräften. Sie bekräftigten dabei auf ursprüngliche Art
die alte Weisheit: der Mensch ist das Maß aller Dinge. Die einfachste Form
der Inbesitznahme ist nach dieser Anschauung die, daß man sich auf etwas —
setzt. „Il fett up mien Eegen, well will mi wat dann?" sagt in sicherem
Gefühl der Marschbauer, wenn er wie ein König von hoher Warst über
meilenweite grüne Weidewiesen blickt. Dem hat freilich auch niemand geschenkt,
was er „besitzt", aber mit dem bloßen Niedersetzen war es hier erst recht nicht
getan. Im Gegenteil! Solcher Besitz ist im Kampfe mit einem stets unruhigen
Feinde, dem wilden, tückischen Meere errungen, mit zäher Ausdauer, Last um
Last aufgebaut, und schließlich muß er fort und fort kraftvoll verteidigt werden,
wie kein anderer. Denn sonst schwemmt leicht eine einzige Sturmflut, eine
einzige wilde Woge den ganzen „Platz", das Ergebnis jahrelanger Mühen von
hundert und aberhundert Händen, wieder fort.

Zu dieser ursprünglich im wahrsten Sinne des Wortes körperlichen Besitz¬
ergreifung — man sehe sich nur einmal das Wort recht auf das an, was es
bedeutet — bediente man sich ungefähr aller Glieder mit ihren sämtlichen
Leistungen. Da maß man mit der Elle (Unterarm) und mit dem Schritt.
Auch mit dem Fuß, und zwar „barfuß"; erst später, als man schon feiner
geworden war, maß man mit dem Schuh. In der alten Kaiserstadt Goslar
vermaßen sie einmal einen Graben; da hieß es: de vote schal en sin geschoet,
de ander bervoet. Das ist so recht ein Kennzeichen dieser Übergangszeit. Was
ist eine Meile? Die Lateiner sagen: milia passum, tausend Schritte zu fünf
Fuß. Im Jahre 1S29 wurde irgendwo in Deutschland eine Meile ausgemessen:
zehn Männer mußten dazu ihre rechten Füße hintereinander setzen. Sie hatten
aber anscheinend auch schon Schuhe an, denn es heißt weiter: zwanzig Schuhe
sind eine Rute, sechzig Ruten ein Morgen, sechzig Morgen eine Meile. Wer
einen Acker gewinnen wollte, spannte ein Joch Rinder vor den Pflug und
pflügte damit, und wieviel er damit an einem Morgen umlegte, das nannte
er dann einen „Morgen". Er verdankte somit seinen Besitz seiner Kraft. Es
lohnte sich jedoch für die alten Deutschen nur nach drei Seiten, will sagen


Grenzboten III 191S 6
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0093" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324066"/>
          <fw type="header" place="top"> Wie unsere vorfahren Besitz ergriffen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_261" prev="#ID_260"> auf dem vppicZum Tungen im Jahre 1322, der, als der Kaiser vorbeiging<lb/>
zu dessen großer, und laut geäußerter Verwunderung &#x201E;sitzen blieb und kaum<lb/>
den Hut rückte", weil er eben sein Lehen nicht dem Kaiser verdankte, sondern<lb/>
der Sonne. . . . Wie wichtig diese Art der Besitzergreifung durch Feueranzünder<lb/>
war, beweist die hohe Bedeutung, die noch jahrhundertelang der Feuerstätte im<lb/>
niederdeutschen Bauernhause beigemessen wurde. Sie war der wichtigste Platz<lb/>
im ganzen Hofe, der bevorzugte Sitz des Herrn, von dem aus er sein ganzes<lb/>
Anwesen überschaute und leitete. Noch in später Zeit sehen wir den abziehenden<lb/>
Besitzer als letztes, bevor er fein Haus verläßt, das Feuer auf dem Herde<lb/>
verlöschen und den Anziehenden als erste, wichtige sinnbildliche Handlung der<lb/>
Besitzergreifung, es wieder anzünden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_262"> Die alten Deutschen ergriffen aber nicht nur mit andächtiger Seele Besitz,<lb/>
sondern mit allen ihren Kräften. Sie bekräftigten dabei auf ursprüngliche Art<lb/>
die alte Weisheit: der Mensch ist das Maß aller Dinge. Die einfachste Form<lb/>
der Inbesitznahme ist nach dieser Anschauung die, daß man sich auf etwas &#x2014;<lb/>
setzt. &#x201E;Il fett up mien Eegen, well will mi wat dann?" sagt in sicherem<lb/>
Gefühl der Marschbauer, wenn er wie ein König von hoher Warst über<lb/>
meilenweite grüne Weidewiesen blickt. Dem hat freilich auch niemand geschenkt,<lb/>
was er &#x201E;besitzt", aber mit dem bloßen Niedersetzen war es hier erst recht nicht<lb/>
getan. Im Gegenteil! Solcher Besitz ist im Kampfe mit einem stets unruhigen<lb/>
Feinde, dem wilden, tückischen Meere errungen, mit zäher Ausdauer, Last um<lb/>
Last aufgebaut, und schließlich muß er fort und fort kraftvoll verteidigt werden,<lb/>
wie kein anderer. Denn sonst schwemmt leicht eine einzige Sturmflut, eine<lb/>
einzige wilde Woge den ganzen &#x201E;Platz", das Ergebnis jahrelanger Mühen von<lb/>
hundert und aberhundert Händen, wieder fort.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_263" next="#ID_264"> Zu dieser ursprünglich im wahrsten Sinne des Wortes körperlichen Besitz¬<lb/>
ergreifung &#x2014; man sehe sich nur einmal das Wort recht auf das an, was es<lb/>
bedeutet &#x2014; bediente man sich ungefähr aller Glieder mit ihren sämtlichen<lb/>
Leistungen. Da maß man mit der Elle (Unterarm) und mit dem Schritt.<lb/>
Auch mit dem Fuß, und zwar &#x201E;barfuß"; erst später, als man schon feiner<lb/>
geworden war, maß man mit dem Schuh. In der alten Kaiserstadt Goslar<lb/>
vermaßen sie einmal einen Graben; da hieß es: de vote schal en sin geschoet,<lb/>
de ander bervoet. Das ist so recht ein Kennzeichen dieser Übergangszeit. Was<lb/>
ist eine Meile? Die Lateiner sagen: milia passum, tausend Schritte zu fünf<lb/>
Fuß. Im Jahre 1S29 wurde irgendwo in Deutschland eine Meile ausgemessen:<lb/>
zehn Männer mußten dazu ihre rechten Füße hintereinander setzen. Sie hatten<lb/>
aber anscheinend auch schon Schuhe an, denn es heißt weiter: zwanzig Schuhe<lb/>
sind eine Rute, sechzig Ruten ein Morgen, sechzig Morgen eine Meile. Wer<lb/>
einen Acker gewinnen wollte, spannte ein Joch Rinder vor den Pflug und<lb/>
pflügte damit, und wieviel er damit an einem Morgen umlegte, das nannte<lb/>
er dann einen &#x201E;Morgen". Er verdankte somit seinen Besitz seiner Kraft. Es<lb/>
lohnte sich jedoch für die alten Deutschen nur nach drei Seiten, will sagen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 191S 6</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0093] Wie unsere vorfahren Besitz ergriffen auf dem vppicZum Tungen im Jahre 1322, der, als der Kaiser vorbeiging zu dessen großer, und laut geäußerter Verwunderung „sitzen blieb und kaum den Hut rückte", weil er eben sein Lehen nicht dem Kaiser verdankte, sondern der Sonne. . . . Wie wichtig diese Art der Besitzergreifung durch Feueranzünder war, beweist die hohe Bedeutung, die noch jahrhundertelang der Feuerstätte im niederdeutschen Bauernhause beigemessen wurde. Sie war der wichtigste Platz im ganzen Hofe, der bevorzugte Sitz des Herrn, von dem aus er sein ganzes Anwesen überschaute und leitete. Noch in später Zeit sehen wir den abziehenden Besitzer als letztes, bevor er fein Haus verläßt, das Feuer auf dem Herde verlöschen und den Anziehenden als erste, wichtige sinnbildliche Handlung der Besitzergreifung, es wieder anzünden. Die alten Deutschen ergriffen aber nicht nur mit andächtiger Seele Besitz, sondern mit allen ihren Kräften. Sie bekräftigten dabei auf ursprüngliche Art die alte Weisheit: der Mensch ist das Maß aller Dinge. Die einfachste Form der Inbesitznahme ist nach dieser Anschauung die, daß man sich auf etwas — setzt. „Il fett up mien Eegen, well will mi wat dann?" sagt in sicherem Gefühl der Marschbauer, wenn er wie ein König von hoher Warst über meilenweite grüne Weidewiesen blickt. Dem hat freilich auch niemand geschenkt, was er „besitzt", aber mit dem bloßen Niedersetzen war es hier erst recht nicht getan. Im Gegenteil! Solcher Besitz ist im Kampfe mit einem stets unruhigen Feinde, dem wilden, tückischen Meere errungen, mit zäher Ausdauer, Last um Last aufgebaut, und schließlich muß er fort und fort kraftvoll verteidigt werden, wie kein anderer. Denn sonst schwemmt leicht eine einzige Sturmflut, eine einzige wilde Woge den ganzen „Platz", das Ergebnis jahrelanger Mühen von hundert und aberhundert Händen, wieder fort. Zu dieser ursprünglich im wahrsten Sinne des Wortes körperlichen Besitz¬ ergreifung — man sehe sich nur einmal das Wort recht auf das an, was es bedeutet — bediente man sich ungefähr aller Glieder mit ihren sämtlichen Leistungen. Da maß man mit der Elle (Unterarm) und mit dem Schritt. Auch mit dem Fuß, und zwar „barfuß"; erst später, als man schon feiner geworden war, maß man mit dem Schuh. In der alten Kaiserstadt Goslar vermaßen sie einmal einen Graben; da hieß es: de vote schal en sin geschoet, de ander bervoet. Das ist so recht ein Kennzeichen dieser Übergangszeit. Was ist eine Meile? Die Lateiner sagen: milia passum, tausend Schritte zu fünf Fuß. Im Jahre 1S29 wurde irgendwo in Deutschland eine Meile ausgemessen: zehn Männer mußten dazu ihre rechten Füße hintereinander setzen. Sie hatten aber anscheinend auch schon Schuhe an, denn es heißt weiter: zwanzig Schuhe sind eine Rute, sechzig Ruten ein Morgen, sechzig Morgen eine Meile. Wer einen Acker gewinnen wollte, spannte ein Joch Rinder vor den Pflug und pflügte damit, und wieviel er damit an einem Morgen umlegte, das nannte er dann einen „Morgen". Er verdankte somit seinen Besitz seiner Kraft. Es lohnte sich jedoch für die alten Deutschen nur nach drei Seiten, will sagen Grenzboten III 191S 6

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/93
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/93>, abgerufen am 22.07.2024.