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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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N)le unsere vorfahren Besitz ergriffen

Bild aus der Urzeit unseres Volkes. Diese Darstellung würde besonders noch
an Weite und Tiefe gewinnen, wenn sie ganz allgemein auf alle Formen der
Besitzergreifung zu Wasser und zu Lande ausgedehnt würde. Die folgenden
Ausführungen mögen ein Versuch sein, eine Vorstellung von dieser reichen
Mannigfaltigkeit zu geben.

In ihren ältesten Symbolen gehen die Formen der Besitzergreifung auf
die Götterverehrung unserer Vorfahren zurück. So wurde zum Beispiel zwischen
den Ost- und Westfriesen der Anteil an der Ems danach bestimmt, wie weit
ein am Ufer stehender Mann mit einem Hufeisen über den Strom zu werfen
vermochte. Und noch ein anderes Beispiel, ebenfalls aus unserer Nordwestecke:
im Jahre 1595 kam es zwischen den Grafen Johann von Oldenburg und
Anton von Delmenhorst zu einem kleinen Grenzstreite. Anton hatte bei
Lintel auf der Wüsting gejagt und in einem Hause übernachtet, von dem er
meinte, daß es zu seiner Grafschaft gehörte, was der andere bestritt. Es
kam darüber zu einem Prozeß, und dabei stellte es sich heraus, daß jenes
Gebiet schon immer strittig war. Ein Nestor der Gegend, der hundert¬
jährige Eilert Kloppenburg, berichtete, als Zeuge vernommen, wie man sich
"vor etwa drei Stiegen (das ist 60) Jahren" damit abfand. Damals
wurde die Sache in Harmenhausen verhandelt, wo die Stedinger ein altes
Gericht, "die sieben Rechte" genannt, hatten, und dieses hatte dahin erkannt,
daß die Wüsting den Wüstenländern zugehöre. "Man solle aber auf der
Höchte (Höhe) bei den Lemmeln auf der Geest ein Rad herdal (herunter) laufen
lassen, und so weit es rollte, und wo es bat (nieder) fiele, so ferne sollte die
Linteler Gerechtigkeit sein und bleiben". Rad und Hufeisen weisen bekanntlich
auf Wodan hin. Sein stärkstes Sinnbild aber war nach den Anschauungen
unserer Vorfahren die Sonne -- Allvaters Auge --, von der schon Tacitus
berichtet, daß sie nach dem Glauben der Germanen den Menschen das Land
anstelle und Unbewohntes nicht gerne bescheine.

Auf solche Sonnenverehrung gingen noch in spätmittelalterlicher Zeit die
seltsamen "Sonnenlehen" zurück. Als das heilige römische Reich im wesentlichen
unter diejenigen zu Lehen ausgeteilt war, die es stützten und schützten, blieb
gleichwohl noch manch schönes Stück Land übrig, auf das niemand herabsah,
als "Gott und die Sonne". Da war es denn ein sehr einfaches Verfahren,
daß man solches herrenloses Land -- der herrschenden Lehnstheorie zuliebe --
von der Sonne zu Lehen nahm, indem man darauf im Angesichte der Sonne
Feuer anzündete, oder indem man es mit einem lodernden Brande in der
Hand umritt. So ritt auf dem Sonnenlehsn Warberg bei Wolfenbüttel jeder,
der die Herrschaft antrat, nächtlicherweile geharnischt gegen Morgen und tat,
sobald die Sonne aufging, mit seinem blanken Degen drei Streiche kreuzweis
in die Luft. Ein solches Sonnenlehen hatte nebenher vor allen anderen den
ungewöhnlichen Vorteil, daß es keinerlei weitere Verpflichtungen auferlegte.
Man fühlte sich daher auch dementsprechend; wie jener Lütold von Krenchingen


N)le unsere vorfahren Besitz ergriffen

Bild aus der Urzeit unseres Volkes. Diese Darstellung würde besonders noch
an Weite und Tiefe gewinnen, wenn sie ganz allgemein auf alle Formen der
Besitzergreifung zu Wasser und zu Lande ausgedehnt würde. Die folgenden
Ausführungen mögen ein Versuch sein, eine Vorstellung von dieser reichen
Mannigfaltigkeit zu geben.

In ihren ältesten Symbolen gehen die Formen der Besitzergreifung auf
die Götterverehrung unserer Vorfahren zurück. So wurde zum Beispiel zwischen
den Ost- und Westfriesen der Anteil an der Ems danach bestimmt, wie weit
ein am Ufer stehender Mann mit einem Hufeisen über den Strom zu werfen
vermochte. Und noch ein anderes Beispiel, ebenfalls aus unserer Nordwestecke:
im Jahre 1595 kam es zwischen den Grafen Johann von Oldenburg und
Anton von Delmenhorst zu einem kleinen Grenzstreite. Anton hatte bei
Lintel auf der Wüsting gejagt und in einem Hause übernachtet, von dem er
meinte, daß es zu seiner Grafschaft gehörte, was der andere bestritt. Es
kam darüber zu einem Prozeß, und dabei stellte es sich heraus, daß jenes
Gebiet schon immer strittig war. Ein Nestor der Gegend, der hundert¬
jährige Eilert Kloppenburg, berichtete, als Zeuge vernommen, wie man sich
„vor etwa drei Stiegen (das ist 60) Jahren" damit abfand. Damals
wurde die Sache in Harmenhausen verhandelt, wo die Stedinger ein altes
Gericht, „die sieben Rechte" genannt, hatten, und dieses hatte dahin erkannt,
daß die Wüsting den Wüstenländern zugehöre. „Man solle aber auf der
Höchte (Höhe) bei den Lemmeln auf der Geest ein Rad herdal (herunter) laufen
lassen, und so weit es rollte, und wo es bat (nieder) fiele, so ferne sollte die
Linteler Gerechtigkeit sein und bleiben". Rad und Hufeisen weisen bekanntlich
auf Wodan hin. Sein stärkstes Sinnbild aber war nach den Anschauungen
unserer Vorfahren die Sonne — Allvaters Auge —, von der schon Tacitus
berichtet, daß sie nach dem Glauben der Germanen den Menschen das Land
anstelle und Unbewohntes nicht gerne bescheine.

Auf solche Sonnenverehrung gingen noch in spätmittelalterlicher Zeit die
seltsamen „Sonnenlehen" zurück. Als das heilige römische Reich im wesentlichen
unter diejenigen zu Lehen ausgeteilt war, die es stützten und schützten, blieb
gleichwohl noch manch schönes Stück Land übrig, auf das niemand herabsah,
als „Gott und die Sonne". Da war es denn ein sehr einfaches Verfahren,
daß man solches herrenloses Land — der herrschenden Lehnstheorie zuliebe —
von der Sonne zu Lehen nahm, indem man darauf im Angesichte der Sonne
Feuer anzündete, oder indem man es mit einem lodernden Brande in der
Hand umritt. So ritt auf dem Sonnenlehsn Warberg bei Wolfenbüttel jeder,
der die Herrschaft antrat, nächtlicherweile geharnischt gegen Morgen und tat,
sobald die Sonne aufging, mit seinem blanken Degen drei Streiche kreuzweis
in die Luft. Ein solches Sonnenlehen hatte nebenher vor allen anderen den
ungewöhnlichen Vorteil, daß es keinerlei weitere Verpflichtungen auferlegte.
Man fühlte sich daher auch dementsprechend; wie jener Lütold von Krenchingen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/92>, abgerufen am 22.07.2024.