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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik

deutschen Empfindens aus ablehnen. Das germanische auf Treu und Glauben
fußende Rechtsbewußtsein begründet wesenhaft ein gemeinschaftaufbaueudes
Recht; im Gegensatz dazu steht das in bloßen Nutzverträgen wurzelnde, dem
Mißtrauen aller gegen alle entstammende Recht, das Kant wohl hauptsächlich
im Auge hatte. Aus diesem Umstand erklärt es sich auch, daß gerade der
Deutsche immer geschwankt hat, das Recht ganz in die Sphäre der Zivilisation
einzusperren, und daß sein Rechtsempfinden sich immer in irgendeiner
Kontinuität mit dem Ethischen und letztlich dem Religiösen wußte.

Zweierlei Motive könnten also nun doch die Rechtfertigung der Sozial¬
politik vor dem Spruch des Ethischen bestimmen: einmal ist zu fragen, ob
denn das Ethische gutwillig eine Reihe der ihm einstmals eigenen Funktionen
der Verrechtlichuug preisgeben will? Zweitens aber könnte, wenn sich das
Recht selbst in die Ethik geradlinig fortsetzt, auch die Sozialpolitik auf diese
Art doch noch einen Aspekt ethischer Erheblichkeit gewinnen. Letzteres lehnen
wir ab. Viel zu sehr finden wir den Gedanken der Sozialpolitik gerade im
modernen kalten Vertragsrecht verwurzelt. Sehr erwägbar ist dagegen der
erste Gesichtspunkt. Hier nun kommen uns gerade Kantische Positionen sehr
wohl zustatten. Die Tiefe seiner Moralphilosophie gegenüber der flachen
englischen bedeutet es, daß er die Erhabenheit des Guten über den subalternen
Gesichtspunkt der Glückseligkeit in so eindrucksvoller Weise vertreten hat.
Das, was die Sozialpolitik bieten kann, fällt also noch gar nicht in die Sphäre
des ethisch Relevanten. Wohl aber war die im Bereich des Eudämonistischen
bleibende Wohltätigkeit früher sozusagen eine Gelegenheitsursache für die Ent¬
faltung des Sittlichen, insofern die seelische Güte das bloße Wohltun zu über¬
wölben vermochte, freilich aber war sie anderseits auch eine Täuschungsquelle,
indem sich der Pharisäismus bereits mit der nurmehrigen Förderung des
Nächsten brüsten konnte. So heben sich Gewinn und Verlust gewissermaßen
auf, die die Verrechtlichung der Wohltätigkeit für das Sittliche im Gefolge
hat. Es bleibt freilich die große Gefahr, daß der durch das sichtliche Angewiesen-
sein des Nächsten auf persönliche Hilfe wachgehaltene ethische Impuls durch die
äußerlichen Segenswirkungen der fortschreitenden Sozialpolitik einer wohligen
Erschlaffung verfällt. Demgegenüber kann nicht laut genug das bloß eudä-
monistische, und darin sogar schwere seelische Gefahren einbeschließende Wirken
der rechtlich geordneten sozialen Fürsorge betont werden. Es ist darum gut,
sich ihre Beheimatung im Zivilisatorischen recht lebhaft vor Augen zu halten
und dabei nie den bloß relativen Charakter aller Zivilisation zu vergessen.

Dann freilich haben gerade die ethischen Impulse allen Grund, zu der
Sozialpolitik Ja zu sagen. Denn sie räumt Schranken der Scham und des
peinlichen Mitleids -- in der neuzeitlichen Welt mehr als je Hemmungen
menschlischer Nähe -- aus dem Wege und gibt so jenem Zueinander Raum,
das alle seelischeren Bezüge von Mensch zu Mensch heute erst möglich macht.
Sie realisiert in steigendem Maße den Begriff des Volkes als Liebes-, aber


Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik

deutschen Empfindens aus ablehnen. Das germanische auf Treu und Glauben
fußende Rechtsbewußtsein begründet wesenhaft ein gemeinschaftaufbaueudes
Recht; im Gegensatz dazu steht das in bloßen Nutzverträgen wurzelnde, dem
Mißtrauen aller gegen alle entstammende Recht, das Kant wohl hauptsächlich
im Auge hatte. Aus diesem Umstand erklärt es sich auch, daß gerade der
Deutsche immer geschwankt hat, das Recht ganz in die Sphäre der Zivilisation
einzusperren, und daß sein Rechtsempfinden sich immer in irgendeiner
Kontinuität mit dem Ethischen und letztlich dem Religiösen wußte.

Zweierlei Motive könnten also nun doch die Rechtfertigung der Sozial¬
politik vor dem Spruch des Ethischen bestimmen: einmal ist zu fragen, ob
denn das Ethische gutwillig eine Reihe der ihm einstmals eigenen Funktionen
der Verrechtlichuug preisgeben will? Zweitens aber könnte, wenn sich das
Recht selbst in die Ethik geradlinig fortsetzt, auch die Sozialpolitik auf diese
Art doch noch einen Aspekt ethischer Erheblichkeit gewinnen. Letzteres lehnen
wir ab. Viel zu sehr finden wir den Gedanken der Sozialpolitik gerade im
modernen kalten Vertragsrecht verwurzelt. Sehr erwägbar ist dagegen der
erste Gesichtspunkt. Hier nun kommen uns gerade Kantische Positionen sehr
wohl zustatten. Die Tiefe seiner Moralphilosophie gegenüber der flachen
englischen bedeutet es, daß er die Erhabenheit des Guten über den subalternen
Gesichtspunkt der Glückseligkeit in so eindrucksvoller Weise vertreten hat.
Das, was die Sozialpolitik bieten kann, fällt also noch gar nicht in die Sphäre
des ethisch Relevanten. Wohl aber war die im Bereich des Eudämonistischen
bleibende Wohltätigkeit früher sozusagen eine Gelegenheitsursache für die Ent¬
faltung des Sittlichen, insofern die seelische Güte das bloße Wohltun zu über¬
wölben vermochte, freilich aber war sie anderseits auch eine Täuschungsquelle,
indem sich der Pharisäismus bereits mit der nurmehrigen Förderung des
Nächsten brüsten konnte. So heben sich Gewinn und Verlust gewissermaßen
auf, die die Verrechtlichung der Wohltätigkeit für das Sittliche im Gefolge
hat. Es bleibt freilich die große Gefahr, daß der durch das sichtliche Angewiesen-
sein des Nächsten auf persönliche Hilfe wachgehaltene ethische Impuls durch die
äußerlichen Segenswirkungen der fortschreitenden Sozialpolitik einer wohligen
Erschlaffung verfällt. Demgegenüber kann nicht laut genug das bloß eudä-
monistische, und darin sogar schwere seelische Gefahren einbeschließende Wirken
der rechtlich geordneten sozialen Fürsorge betont werden. Es ist darum gut,
sich ihre Beheimatung im Zivilisatorischen recht lebhaft vor Augen zu halten
und dabei nie den bloß relativen Charakter aller Zivilisation zu vergessen.

Dann freilich haben gerade die ethischen Impulse allen Grund, zu der
Sozialpolitik Ja zu sagen. Denn sie räumt Schranken der Scham und des
peinlichen Mitleids — in der neuzeitlichen Welt mehr als je Hemmungen
menschlischer Nähe — aus dem Wege und gibt so jenem Zueinander Raum,
das alle seelischeren Bezüge von Mensch zu Mensch heute erst möglich macht.
Sie realisiert in steigendem Maße den Begriff des Volkes als Liebes-, aber


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[0081] Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik deutschen Empfindens aus ablehnen. Das germanische auf Treu und Glauben fußende Rechtsbewußtsein begründet wesenhaft ein gemeinschaftaufbaueudes Recht; im Gegensatz dazu steht das in bloßen Nutzverträgen wurzelnde, dem Mißtrauen aller gegen alle entstammende Recht, das Kant wohl hauptsächlich im Auge hatte. Aus diesem Umstand erklärt es sich auch, daß gerade der Deutsche immer geschwankt hat, das Recht ganz in die Sphäre der Zivilisation einzusperren, und daß sein Rechtsempfinden sich immer in irgendeiner Kontinuität mit dem Ethischen und letztlich dem Religiösen wußte. Zweierlei Motive könnten also nun doch die Rechtfertigung der Sozial¬ politik vor dem Spruch des Ethischen bestimmen: einmal ist zu fragen, ob denn das Ethische gutwillig eine Reihe der ihm einstmals eigenen Funktionen der Verrechtlichuug preisgeben will? Zweitens aber könnte, wenn sich das Recht selbst in die Ethik geradlinig fortsetzt, auch die Sozialpolitik auf diese Art doch noch einen Aspekt ethischer Erheblichkeit gewinnen. Letzteres lehnen wir ab. Viel zu sehr finden wir den Gedanken der Sozialpolitik gerade im modernen kalten Vertragsrecht verwurzelt. Sehr erwägbar ist dagegen der erste Gesichtspunkt. Hier nun kommen uns gerade Kantische Positionen sehr wohl zustatten. Die Tiefe seiner Moralphilosophie gegenüber der flachen englischen bedeutet es, daß er die Erhabenheit des Guten über den subalternen Gesichtspunkt der Glückseligkeit in so eindrucksvoller Weise vertreten hat. Das, was die Sozialpolitik bieten kann, fällt also noch gar nicht in die Sphäre des ethisch Relevanten. Wohl aber war die im Bereich des Eudämonistischen bleibende Wohltätigkeit früher sozusagen eine Gelegenheitsursache für die Ent¬ faltung des Sittlichen, insofern die seelische Güte das bloße Wohltun zu über¬ wölben vermochte, freilich aber war sie anderseits auch eine Täuschungsquelle, indem sich der Pharisäismus bereits mit der nurmehrigen Förderung des Nächsten brüsten konnte. So heben sich Gewinn und Verlust gewissermaßen auf, die die Verrechtlichung der Wohltätigkeit für das Sittliche im Gefolge hat. Es bleibt freilich die große Gefahr, daß der durch das sichtliche Angewiesen- sein des Nächsten auf persönliche Hilfe wachgehaltene ethische Impuls durch die äußerlichen Segenswirkungen der fortschreitenden Sozialpolitik einer wohligen Erschlaffung verfällt. Demgegenüber kann nicht laut genug das bloß eudä- monistische, und darin sogar schwere seelische Gefahren einbeschließende Wirken der rechtlich geordneten sozialen Fürsorge betont werden. Es ist darum gut, sich ihre Beheimatung im Zivilisatorischen recht lebhaft vor Augen zu halten und dabei nie den bloß relativen Charakter aller Zivilisation zu vergessen. Dann freilich haben gerade die ethischen Impulse allen Grund, zu der Sozialpolitik Ja zu sagen. Denn sie räumt Schranken der Scham und des peinlichen Mitleids — in der neuzeitlichen Welt mehr als je Hemmungen menschlischer Nähe — aus dem Wege und gibt so jenem Zueinander Raum, das alle seelischeren Bezüge von Mensch zu Mensch heute erst möglich macht. Sie realisiert in steigendem Maße den Begriff des Volkes als Liebes-, aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/81>, abgerufen am 01.07.2024.