Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik

ein stark ausgeprägtes Gefühl für das Rechtliche in ihm wirksam finden, das
mit dem spezifisch neuzeitlichen individualistischen Stolz Hand in Hand geht.
Sozialpolitik ist die rechtliche Ordnung der Fürsorgeansprüche des einzelnen
Staatsbürgers. Nicht die volkliche, sondern die staatliche Solidarität findet in
ihr ihren Ausdruck. Keine Bindung von Personen untereinander wird durch
sie erzielt, das Moment der Gegenseitigkeit verblaßt völlig, keine Einfügung in
das Konkretum Volk, das zugleich als Wurzelgrund der gemeinsamen Kultur,
des gemeinsamen Ethos gewußt wird, vollzieht sich hier, sondern lediglich eine
sichernde Eingliederung des einzelnen in das abstraktere Gebilde der staatlichen
Organisation. Sie hat den rechtlichen Anspruch auf gewisse Leistungen des
Bürgers, wie Steuern, Militärdienst usw., an sie richtet sich auch die rechtliche
Forderung auf größtmöglichen Schutz gegen abstellbare Übel, wo die Abwehr"
kraft des Einzelindividuums versagt.

Ordnung, die jeder Organisierung zugrunde liegt, ist das Grundprinzip
der Zivilisation. Was auf Ordnung zweckhaft bezogen ist, gehört in den
Bereich zivilisatorischer Selbstzwecke. Solange man sich lediglich in dessen Um¬
kreise bewegt, kann es daher sehr wohl erwogen werden, ob sich nicht der
Mechanismus der Einzelegoismen, den englische Sozialtheoretiker gern als
Grundlage aller Gesellschaft aufgestellt haben, die Aufrechterhaltung der sozialen
Ordnung besser gewährleistet, als die Wirksamkeit ethischer und empfindsamer
Motive, die im tatsächlichen menschlichen Miteinander von ebenso großem Ein¬
fluß sind. Nun liegt aber tief im deutschen Bewußtsein die Einsicht verankert,
daß alle Ordnung, alle Zivilisation, wie ernst sie immer in ihrem Machtbereich
genommen werde, dennoch selbst nur ein Relatives ist, das seinen Wert an über¬
geordneten Zielsetzungen zu bewähren hat, in deren Dienst es sich entsagend-
gehorsam hineinstellt. Daß diese Wahrheit meist nur unklar im ahnenden
Gefühl erfaßt wird, bringt es aber mit sich, daß gerade der deutsche Mensch zu
Grenzverwischungen neigt und nun die Sozialpolitik ethisch retten will, dabei
aber unversehens das Ethische auf das Niveau des Rechtlichen herabdrückt.

Merkwürdig ist es in dieser Hinsicht der Ethik Kants ergangen. Gerade
sie versuchte einen tapferen Schnitt zwischen dem bloß "Legaten", also dem
Rechtlichen, und dem Moralischen zu ziehen. Und nun muß gerade sie sich
in der Gegenwart nachsagen lassen, sie sei selbst nichts anderes als bloße
Gerechtigkeitsmoral*). So krampfhaft wollte sie den deutschen Erbfehler der
Grenzverwischung, den selbst so scharf gerügten**), vermeiden, und ist nun doch
-- so arg deutsch ausgefallen I Wir können natürlich hier nicht untersuchen,
in welchem Umfang ihr jenes Ausgleiten ins Juridische mit Recht zur Last
gelegt wird. Wir stellen uns aber jedenfalls in Gegensatz zu ihr, wenn wir
ihre allzuschroffe Scheidung von Sittlichkeit und Recht vom Standpunkt des




*) Vergleiche Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik.
Jahrbuch usw. Band I und II.
**) Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage. Seite VI.
Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik

ein stark ausgeprägtes Gefühl für das Rechtliche in ihm wirksam finden, das
mit dem spezifisch neuzeitlichen individualistischen Stolz Hand in Hand geht.
Sozialpolitik ist die rechtliche Ordnung der Fürsorgeansprüche des einzelnen
Staatsbürgers. Nicht die volkliche, sondern die staatliche Solidarität findet in
ihr ihren Ausdruck. Keine Bindung von Personen untereinander wird durch
sie erzielt, das Moment der Gegenseitigkeit verblaßt völlig, keine Einfügung in
das Konkretum Volk, das zugleich als Wurzelgrund der gemeinsamen Kultur,
des gemeinsamen Ethos gewußt wird, vollzieht sich hier, sondern lediglich eine
sichernde Eingliederung des einzelnen in das abstraktere Gebilde der staatlichen
Organisation. Sie hat den rechtlichen Anspruch auf gewisse Leistungen des
Bürgers, wie Steuern, Militärdienst usw., an sie richtet sich auch die rechtliche
Forderung auf größtmöglichen Schutz gegen abstellbare Übel, wo die Abwehr«
kraft des Einzelindividuums versagt.

Ordnung, die jeder Organisierung zugrunde liegt, ist das Grundprinzip
der Zivilisation. Was auf Ordnung zweckhaft bezogen ist, gehört in den
Bereich zivilisatorischer Selbstzwecke. Solange man sich lediglich in dessen Um¬
kreise bewegt, kann es daher sehr wohl erwogen werden, ob sich nicht der
Mechanismus der Einzelegoismen, den englische Sozialtheoretiker gern als
Grundlage aller Gesellschaft aufgestellt haben, die Aufrechterhaltung der sozialen
Ordnung besser gewährleistet, als die Wirksamkeit ethischer und empfindsamer
Motive, die im tatsächlichen menschlichen Miteinander von ebenso großem Ein¬
fluß sind. Nun liegt aber tief im deutschen Bewußtsein die Einsicht verankert,
daß alle Ordnung, alle Zivilisation, wie ernst sie immer in ihrem Machtbereich
genommen werde, dennoch selbst nur ein Relatives ist, das seinen Wert an über¬
geordneten Zielsetzungen zu bewähren hat, in deren Dienst es sich entsagend-
gehorsam hineinstellt. Daß diese Wahrheit meist nur unklar im ahnenden
Gefühl erfaßt wird, bringt es aber mit sich, daß gerade der deutsche Mensch zu
Grenzverwischungen neigt und nun die Sozialpolitik ethisch retten will, dabei
aber unversehens das Ethische auf das Niveau des Rechtlichen herabdrückt.

Merkwürdig ist es in dieser Hinsicht der Ethik Kants ergangen. Gerade
sie versuchte einen tapferen Schnitt zwischen dem bloß „Legaten", also dem
Rechtlichen, und dem Moralischen zu ziehen. Und nun muß gerade sie sich
in der Gegenwart nachsagen lassen, sie sei selbst nichts anderes als bloße
Gerechtigkeitsmoral*). So krampfhaft wollte sie den deutschen Erbfehler der
Grenzverwischung, den selbst so scharf gerügten**), vermeiden, und ist nun doch
— so arg deutsch ausgefallen I Wir können natürlich hier nicht untersuchen,
in welchem Umfang ihr jenes Ausgleiten ins Juridische mit Recht zur Last
gelegt wird. Wir stellen uns aber jedenfalls in Gegensatz zu ihr, wenn wir
ihre allzuschroffe Scheidung von Sittlichkeit und Recht vom Standpunkt des




*) Vergleiche Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik.
Jahrbuch usw. Band I und II.
**) Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage. Seite VI.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0080" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324053"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_223" prev="#ID_222"> ein stark ausgeprägtes Gefühl für das Rechtliche in ihm wirksam finden, das<lb/>
mit dem spezifisch neuzeitlichen individualistischen Stolz Hand in Hand geht.<lb/>
Sozialpolitik ist die rechtliche Ordnung der Fürsorgeansprüche des einzelnen<lb/>
Staatsbürgers. Nicht die volkliche, sondern die staatliche Solidarität findet in<lb/>
ihr ihren Ausdruck. Keine Bindung von Personen untereinander wird durch<lb/>
sie erzielt, das Moment der Gegenseitigkeit verblaßt völlig, keine Einfügung in<lb/>
das Konkretum Volk, das zugleich als Wurzelgrund der gemeinsamen Kultur,<lb/>
des gemeinsamen Ethos gewußt wird, vollzieht sich hier, sondern lediglich eine<lb/>
sichernde Eingliederung des einzelnen in das abstraktere Gebilde der staatlichen<lb/>
Organisation. Sie hat den rechtlichen Anspruch auf gewisse Leistungen des<lb/>
Bürgers, wie Steuern, Militärdienst usw., an sie richtet sich auch die rechtliche<lb/>
Forderung auf größtmöglichen Schutz gegen abstellbare Übel, wo die Abwehr«<lb/>
kraft des Einzelindividuums versagt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_224"> Ordnung, die jeder Organisierung zugrunde liegt, ist das Grundprinzip<lb/>
der Zivilisation. Was auf Ordnung zweckhaft bezogen ist, gehört in den<lb/>
Bereich zivilisatorischer Selbstzwecke. Solange man sich lediglich in dessen Um¬<lb/>
kreise bewegt, kann es daher sehr wohl erwogen werden, ob sich nicht der<lb/>
Mechanismus der Einzelegoismen, den englische Sozialtheoretiker gern als<lb/>
Grundlage aller Gesellschaft aufgestellt haben, die Aufrechterhaltung der sozialen<lb/>
Ordnung besser gewährleistet, als die Wirksamkeit ethischer und empfindsamer<lb/>
Motive, die im tatsächlichen menschlichen Miteinander von ebenso großem Ein¬<lb/>
fluß sind. Nun liegt aber tief im deutschen Bewußtsein die Einsicht verankert,<lb/>
daß alle Ordnung, alle Zivilisation, wie ernst sie immer in ihrem Machtbereich<lb/>
genommen werde, dennoch selbst nur ein Relatives ist, das seinen Wert an über¬<lb/>
geordneten Zielsetzungen zu bewähren hat, in deren Dienst es sich entsagend-<lb/>
gehorsam hineinstellt. Daß diese Wahrheit meist nur unklar im ahnenden<lb/>
Gefühl erfaßt wird, bringt es aber mit sich, daß gerade der deutsche Mensch zu<lb/>
Grenzverwischungen neigt und nun die Sozialpolitik ethisch retten will, dabei<lb/>
aber unversehens das Ethische auf das Niveau des Rechtlichen herabdrückt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_225" next="#ID_226"> Merkwürdig ist es in dieser Hinsicht der Ethik Kants ergangen. Gerade<lb/>
sie versuchte einen tapferen Schnitt zwischen dem bloß &#x201E;Legaten", also dem<lb/>
Rechtlichen, und dem Moralischen zu ziehen. Und nun muß gerade sie sich<lb/>
in der Gegenwart nachsagen lassen, sie sei selbst nichts anderes als bloße<lb/>
Gerechtigkeitsmoral*). So krampfhaft wollte sie den deutschen Erbfehler der<lb/>
Grenzverwischung, den selbst so scharf gerügten**), vermeiden, und ist nun doch<lb/>
&#x2014; so arg deutsch ausgefallen I Wir können natürlich hier nicht untersuchen,<lb/>
in welchem Umfang ihr jenes Ausgleiten ins Juridische mit Recht zur Last<lb/>
gelegt wird. Wir stellen uns aber jedenfalls in Gegensatz zu ihr, wenn wir<lb/>
ihre allzuschroffe Scheidung von Sittlichkeit und Recht vom Standpunkt des</p><lb/>
          <note xml:id="FID_7" place="foot"> *) Vergleiche Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik.<lb/>
Jahrbuch usw. Band I und II.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_8" place="foot"> **) Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage. Seite VI.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0080] Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik ein stark ausgeprägtes Gefühl für das Rechtliche in ihm wirksam finden, das mit dem spezifisch neuzeitlichen individualistischen Stolz Hand in Hand geht. Sozialpolitik ist die rechtliche Ordnung der Fürsorgeansprüche des einzelnen Staatsbürgers. Nicht die volkliche, sondern die staatliche Solidarität findet in ihr ihren Ausdruck. Keine Bindung von Personen untereinander wird durch sie erzielt, das Moment der Gegenseitigkeit verblaßt völlig, keine Einfügung in das Konkretum Volk, das zugleich als Wurzelgrund der gemeinsamen Kultur, des gemeinsamen Ethos gewußt wird, vollzieht sich hier, sondern lediglich eine sichernde Eingliederung des einzelnen in das abstraktere Gebilde der staatlichen Organisation. Sie hat den rechtlichen Anspruch auf gewisse Leistungen des Bürgers, wie Steuern, Militärdienst usw., an sie richtet sich auch die rechtliche Forderung auf größtmöglichen Schutz gegen abstellbare Übel, wo die Abwehr« kraft des Einzelindividuums versagt. Ordnung, die jeder Organisierung zugrunde liegt, ist das Grundprinzip der Zivilisation. Was auf Ordnung zweckhaft bezogen ist, gehört in den Bereich zivilisatorischer Selbstzwecke. Solange man sich lediglich in dessen Um¬ kreise bewegt, kann es daher sehr wohl erwogen werden, ob sich nicht der Mechanismus der Einzelegoismen, den englische Sozialtheoretiker gern als Grundlage aller Gesellschaft aufgestellt haben, die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung besser gewährleistet, als die Wirksamkeit ethischer und empfindsamer Motive, die im tatsächlichen menschlichen Miteinander von ebenso großem Ein¬ fluß sind. Nun liegt aber tief im deutschen Bewußtsein die Einsicht verankert, daß alle Ordnung, alle Zivilisation, wie ernst sie immer in ihrem Machtbereich genommen werde, dennoch selbst nur ein Relatives ist, das seinen Wert an über¬ geordneten Zielsetzungen zu bewähren hat, in deren Dienst es sich entsagend- gehorsam hineinstellt. Daß diese Wahrheit meist nur unklar im ahnenden Gefühl erfaßt wird, bringt es aber mit sich, daß gerade der deutsche Mensch zu Grenzverwischungen neigt und nun die Sozialpolitik ethisch retten will, dabei aber unversehens das Ethische auf das Niveau des Rechtlichen herabdrückt. Merkwürdig ist es in dieser Hinsicht der Ethik Kants ergangen. Gerade sie versuchte einen tapferen Schnitt zwischen dem bloß „Legaten", also dem Rechtlichen, und dem Moralischen zu ziehen. Und nun muß gerade sie sich in der Gegenwart nachsagen lassen, sie sei selbst nichts anderes als bloße Gerechtigkeitsmoral*). So krampfhaft wollte sie den deutschen Erbfehler der Grenzverwischung, den selbst so scharf gerügten**), vermeiden, und ist nun doch — so arg deutsch ausgefallen I Wir können natürlich hier nicht untersuchen, in welchem Umfang ihr jenes Ausgleiten ins Juridische mit Recht zur Last gelegt wird. Wir stellen uns aber jedenfalls in Gegensatz zu ihr, wenn wir ihre allzuschroffe Scheidung von Sittlichkeit und Recht vom Standpunkt des *) Vergleiche Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Jahrbuch usw. Band I und II. **) Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage. Seite VI.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/80
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/80>, abgerufen am 29.06.2024.