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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Bedeutung der mittelalterlichen Reichsgrenzen

Gebiet waren, nur 27 Jahre in Kraft blieb. Dann machte 870 der Vertrag
von Mersen zwischen dem ersten deutschen König Ludwig und Karl dem Kahlen,
dem ersten König von Frankreich im jetzigen Sinne, den ganzen Rhein zu einem
rein deutschen Strom, und die Zeiten, wo er es seitdem nicht war (911 bis 925,
1648 bis 1871), sind für Deutschland Zwischenperioden des politischen und wirt¬
schaftlichen Tiefstandes gewesen. Denn die 870 festgestellte Reichsgrenze zog
sich von der Rhonequelle am Westufer des Vierwaldstädtersees entlang bis zum
westlich fließenden Oberrhein, der nur bis zum Knie bei Basel Grenzfluß war,
darauf westlich etwa bis zum Quellengebiet der Mosel und Maas, die ganz
deutsche Flüsse waren, dann sich nordwestlich wendend zwischen Maas und
Marne darauf westlich von der oberen Aisne, dann südlich von den Ardennen
und endlich östlich von der Schelde bis zu deren Mündung, so daß die Süd-
vogesen, die Argonnen und die Ardennen natürliche deutsche Grenzfestungen
waren, fast den Österreich schützenden Alpen ähnlich, und das sind sie fast sieben
Jahrhunderte lang geblieben.

Als 1032 Burgund als Erbe an Deutschland fiel, schob sich im Süden
die Westgrenze bis zur Saone und dem Oberlauf der Loire, und von Nizza
bis zur Rhonemündung umspülte das mittelländische Meer deutsche Küste. Doch
für des Reiches Stärkung war dies bloß von geringer und vorübergehender
Bedeutung; denn Burgund stand mit ihm immer nur in loser Verbindung, und,
hier trat auch zuerst der Westgrenze Rückgang ein. Während des Interregnums
(1264 bis 1273) fiel der nördliche Teil der Provence an Frankreich, bald daraus
auch der südliche und das im wesentlichen westlich der Saone liegende Herzog¬
tum Kleinburgund. Das Land nördlich und östlich des Genfer Sees schloß sich
von 1339 bis 1513 der tatsächlich unabhängig gewordenen Schweizer Eid¬
genossenschaft an. Und auch das südwestlich davon gelegene Herzogtum Savoven
war so gut wie selbständig geworden. Nachdem aber der französische Prinz,
Philipp der Kühne von Frankreich Kleinburgund 1363 sowie Flandern und
Artois 1384 zu Lehn bekommen hatte, erwarb er auch, allerdings als deutsches
Reichslehn, die zwischen dem Herzogtum Kleinburgund und der Schweiz liegende
Freigrafschaft Burgund. Ja, unter demselben Titel brachten er und seine Nach¬
kommen bis 1472 das jetzige Belgien östlich der Schelde mit Ausnahme des
Bistums Lüttich, ferner Luxemburg sowie die südwestliche Hälfte des jetzigen
Hollands und damit die Rheinmündungen an sich. Zwar erbte nach Karls des
Kühnen Tode 1477 der spätere Kaiser Maximilian der Erste als dessen Schwieger¬
sohn dieses neuburgundische Reich; doch bei der Teilung der Habsburger Lande
1556 fiel es nebst der nördlichen Hälfte Hollands an Maximilians Urenkel
Philipp von Spanien. Durch eigene Kraft ohne Reichshilfe riß sich Holland
von Spanien wieder los und schloß sich dem Reich nie wieder an. Das wegen
der burgundischen Erbschaft mit dem Hause Habsburg verfeindete Frankreich
hatte schon 1552 die drei Reichsstädte Verdun, Toul und Metz erobert. So
hat diese Erbschaft der Habsburger des Reiches Grenzen nur vorüber-


Die Bedeutung der mittelalterlichen Reichsgrenzen

Gebiet waren, nur 27 Jahre in Kraft blieb. Dann machte 870 der Vertrag
von Mersen zwischen dem ersten deutschen König Ludwig und Karl dem Kahlen,
dem ersten König von Frankreich im jetzigen Sinne, den ganzen Rhein zu einem
rein deutschen Strom, und die Zeiten, wo er es seitdem nicht war (911 bis 925,
1648 bis 1871), sind für Deutschland Zwischenperioden des politischen und wirt¬
schaftlichen Tiefstandes gewesen. Denn die 870 festgestellte Reichsgrenze zog
sich von der Rhonequelle am Westufer des Vierwaldstädtersees entlang bis zum
westlich fließenden Oberrhein, der nur bis zum Knie bei Basel Grenzfluß war,
darauf westlich etwa bis zum Quellengebiet der Mosel und Maas, die ganz
deutsche Flüsse waren, dann sich nordwestlich wendend zwischen Maas und
Marne darauf westlich von der oberen Aisne, dann südlich von den Ardennen
und endlich östlich von der Schelde bis zu deren Mündung, so daß die Süd-
vogesen, die Argonnen und die Ardennen natürliche deutsche Grenzfestungen
waren, fast den Österreich schützenden Alpen ähnlich, und das sind sie fast sieben
Jahrhunderte lang geblieben.

Als 1032 Burgund als Erbe an Deutschland fiel, schob sich im Süden
die Westgrenze bis zur Saone und dem Oberlauf der Loire, und von Nizza
bis zur Rhonemündung umspülte das mittelländische Meer deutsche Küste. Doch
für des Reiches Stärkung war dies bloß von geringer und vorübergehender
Bedeutung; denn Burgund stand mit ihm immer nur in loser Verbindung, und,
hier trat auch zuerst der Westgrenze Rückgang ein. Während des Interregnums
(1264 bis 1273) fiel der nördliche Teil der Provence an Frankreich, bald daraus
auch der südliche und das im wesentlichen westlich der Saone liegende Herzog¬
tum Kleinburgund. Das Land nördlich und östlich des Genfer Sees schloß sich
von 1339 bis 1513 der tatsächlich unabhängig gewordenen Schweizer Eid¬
genossenschaft an. Und auch das südwestlich davon gelegene Herzogtum Savoven
war so gut wie selbständig geworden. Nachdem aber der französische Prinz,
Philipp der Kühne von Frankreich Kleinburgund 1363 sowie Flandern und
Artois 1384 zu Lehn bekommen hatte, erwarb er auch, allerdings als deutsches
Reichslehn, die zwischen dem Herzogtum Kleinburgund und der Schweiz liegende
Freigrafschaft Burgund. Ja, unter demselben Titel brachten er und seine Nach¬
kommen bis 1472 das jetzige Belgien östlich der Schelde mit Ausnahme des
Bistums Lüttich, ferner Luxemburg sowie die südwestliche Hälfte des jetzigen
Hollands und damit die Rheinmündungen an sich. Zwar erbte nach Karls des
Kühnen Tode 1477 der spätere Kaiser Maximilian der Erste als dessen Schwieger¬
sohn dieses neuburgundische Reich; doch bei der Teilung der Habsburger Lande
1556 fiel es nebst der nördlichen Hälfte Hollands an Maximilians Urenkel
Philipp von Spanien. Durch eigene Kraft ohne Reichshilfe riß sich Holland
von Spanien wieder los und schloß sich dem Reich nie wieder an. Das wegen
der burgundischen Erbschaft mit dem Hause Habsburg verfeindete Frankreich
hatte schon 1552 die drei Reichsstädte Verdun, Toul und Metz erobert. So
hat diese Erbschaft der Habsburger des Reiches Grenzen nur vorüber-


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[0425] Die Bedeutung der mittelalterlichen Reichsgrenzen Gebiet waren, nur 27 Jahre in Kraft blieb. Dann machte 870 der Vertrag von Mersen zwischen dem ersten deutschen König Ludwig und Karl dem Kahlen, dem ersten König von Frankreich im jetzigen Sinne, den ganzen Rhein zu einem rein deutschen Strom, und die Zeiten, wo er es seitdem nicht war (911 bis 925, 1648 bis 1871), sind für Deutschland Zwischenperioden des politischen und wirt¬ schaftlichen Tiefstandes gewesen. Denn die 870 festgestellte Reichsgrenze zog sich von der Rhonequelle am Westufer des Vierwaldstädtersees entlang bis zum westlich fließenden Oberrhein, der nur bis zum Knie bei Basel Grenzfluß war, darauf westlich etwa bis zum Quellengebiet der Mosel und Maas, die ganz deutsche Flüsse waren, dann sich nordwestlich wendend zwischen Maas und Marne darauf westlich von der oberen Aisne, dann südlich von den Ardennen und endlich östlich von der Schelde bis zu deren Mündung, so daß die Süd- vogesen, die Argonnen und die Ardennen natürliche deutsche Grenzfestungen waren, fast den Österreich schützenden Alpen ähnlich, und das sind sie fast sieben Jahrhunderte lang geblieben. Als 1032 Burgund als Erbe an Deutschland fiel, schob sich im Süden die Westgrenze bis zur Saone und dem Oberlauf der Loire, und von Nizza bis zur Rhonemündung umspülte das mittelländische Meer deutsche Küste. Doch für des Reiches Stärkung war dies bloß von geringer und vorübergehender Bedeutung; denn Burgund stand mit ihm immer nur in loser Verbindung, und, hier trat auch zuerst der Westgrenze Rückgang ein. Während des Interregnums (1264 bis 1273) fiel der nördliche Teil der Provence an Frankreich, bald daraus auch der südliche und das im wesentlichen westlich der Saone liegende Herzog¬ tum Kleinburgund. Das Land nördlich und östlich des Genfer Sees schloß sich von 1339 bis 1513 der tatsächlich unabhängig gewordenen Schweizer Eid¬ genossenschaft an. Und auch das südwestlich davon gelegene Herzogtum Savoven war so gut wie selbständig geworden. Nachdem aber der französische Prinz, Philipp der Kühne von Frankreich Kleinburgund 1363 sowie Flandern und Artois 1384 zu Lehn bekommen hatte, erwarb er auch, allerdings als deutsches Reichslehn, die zwischen dem Herzogtum Kleinburgund und der Schweiz liegende Freigrafschaft Burgund. Ja, unter demselben Titel brachten er und seine Nach¬ kommen bis 1472 das jetzige Belgien östlich der Schelde mit Ausnahme des Bistums Lüttich, ferner Luxemburg sowie die südwestliche Hälfte des jetzigen Hollands und damit die Rheinmündungen an sich. Zwar erbte nach Karls des Kühnen Tode 1477 der spätere Kaiser Maximilian der Erste als dessen Schwieger¬ sohn dieses neuburgundische Reich; doch bei der Teilung der Habsburger Lande 1556 fiel es nebst der nördlichen Hälfte Hollands an Maximilians Urenkel Philipp von Spanien. Durch eigene Kraft ohne Reichshilfe riß sich Holland von Spanien wieder los und schloß sich dem Reich nie wieder an. Das wegen der burgundischen Erbschaft mit dem Hause Habsburg verfeindete Frankreich hatte schon 1552 die drei Reichsstädte Verdun, Toul und Metz erobert. So hat diese Erbschaft der Habsburger des Reiches Grenzen nur vorüber-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/425>, abgerufen am 28.09.2024.