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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Bedeutung der mittelalterlichen Reichsgrenzen

Riga und Reval angehörten; dagegen überschritt die Reichsgrenze den Oberlauf
der Oder nur wenig, sie kam zum Stehen, ohne den der Warthe zu erreichen.

Doch die Erstarkung Polens, nachdem Litauen mit ihm vereinigt worden
war, das Sinken der Macht Deutschlands nach dem Untergange der Hohen-
staufen und die Erschlaffung und Entartung des Deutschordens bewirkten einen
Rückschlag, der 1410 Polens Sieg bei Tannenberg herbeiführte. Infolge davon
ward Westpreußen polnische Provinz und Ostpreußen polnisches Lehen. Auch
Kurland, Livland und Estland wurden Polen beziehungsweise Schweden sowie
endlich 1721 beziehungsweise 1795 Rußland untertänig. Nicht das Reich,
wohl aber ein Reichssürstengeschlecht verhinderte den vollständigen Verlust der
alten Ordenslande. 1657 erlangte in Ostpreußen der Große Kurfürst die
Souveränität, und nachdem Polen vorübergehend in Personalunion mit Kur¬
sachsen gestanden hatte, erwarb Friedrich der Große 1772 bei der ersten
polnischen Teilung auch Westpreußen und das Ermeland wieder als souveräner
König von Preußen, so daß nun Brandenburg, Pommern und Preußen ein
zusammenhängendes Ganzes bildeten. An dieses fielen 1793 und 1795 durch die
zweite und dritte Teilung Polens Posen und das daran stoßende West- und
Nordpolen bis zum Njemen, die ihm aber 1807 Napoleon wieder entriß und
als Herzogtum Warschau dem König von Sachsen gab. 1815 erhielt Preußen
nur die Provinz Posen^wieder, das übrige nahm Rußland. Die von diesem Preußen
und Osterreich auf dem Wiener Kongreß aufgedrungene Grenze wird durch das
keilförmige Hineinspringen Russisch-Polens in preußisches und österreichisches
Gebiet unnatürlich verlängert und erweckt Rußlands Sehnsucht nach Ostpreußen
und Galizien. Deutsches Bundesgebiet wurden Ost- und Westpreußen sowie
Posen erst 1866 bei Schließung des Norddeutschen Bundes. Doch die Ostsee
ist kein neues, sondern ein uraltes germanisches Meer. Die Herrschaft aber
auf ihr und die über die Weichsel bedingen und stützen offenbar einander.

Die Ost- und Nordsee, Deutschlands natürliche Nordgrenze und seine
Pforte zum Weltmeer, wurden ihm erst während des dreißigjährigen Krieges
durch Aneignung Vorpommerns und der Küste zwischen der Eid- und Weser¬
mündung verriegelt von Schweden, das aber Preußen 1720 und 1815 wieder
vertrieb. Gegen Dänemark bildete während des Mittelalters bald die Eider,
bald die Schlei die Grenze; erst durch den Krieg von 1864 kam der größere
nördliche Teil Schleswigs an Deutschland. Demnach war früher dessen Gefährdung
durch Dänemark größer als jetzt, besonders während Norwegen mit diesem
vereinigt war.

Ebensowenig' wie der vielfach feine Richtung ändernde Weichselstrom
unsere natürliche Ostgrenze ist, ist der Rhein die natürliche Westgrenze, sondern
unsere natürliche Straße zur Nordsee, wie jener zur Ostsee. Dies hat die Ge¬
schichte klar bewiesen, besonders dadurch, daß der Vertrag von Verdun (843),
nach dem der Oberrhein Deutschlands Grenzfluß wurde, beide Ufer des Mittel¬
rheins zwar deutsches, dagegen beide Ufer des Niederrheins nicht deutsches


Die Bedeutung der mittelalterlichen Reichsgrenzen

Riga und Reval angehörten; dagegen überschritt die Reichsgrenze den Oberlauf
der Oder nur wenig, sie kam zum Stehen, ohne den der Warthe zu erreichen.

Doch die Erstarkung Polens, nachdem Litauen mit ihm vereinigt worden
war, das Sinken der Macht Deutschlands nach dem Untergange der Hohen-
staufen und die Erschlaffung und Entartung des Deutschordens bewirkten einen
Rückschlag, der 1410 Polens Sieg bei Tannenberg herbeiführte. Infolge davon
ward Westpreußen polnische Provinz und Ostpreußen polnisches Lehen. Auch
Kurland, Livland und Estland wurden Polen beziehungsweise Schweden sowie
endlich 1721 beziehungsweise 1795 Rußland untertänig. Nicht das Reich,
wohl aber ein Reichssürstengeschlecht verhinderte den vollständigen Verlust der
alten Ordenslande. 1657 erlangte in Ostpreußen der Große Kurfürst die
Souveränität, und nachdem Polen vorübergehend in Personalunion mit Kur¬
sachsen gestanden hatte, erwarb Friedrich der Große 1772 bei der ersten
polnischen Teilung auch Westpreußen und das Ermeland wieder als souveräner
König von Preußen, so daß nun Brandenburg, Pommern und Preußen ein
zusammenhängendes Ganzes bildeten. An dieses fielen 1793 und 1795 durch die
zweite und dritte Teilung Polens Posen und das daran stoßende West- und
Nordpolen bis zum Njemen, die ihm aber 1807 Napoleon wieder entriß und
als Herzogtum Warschau dem König von Sachsen gab. 1815 erhielt Preußen
nur die Provinz Posen^wieder, das übrige nahm Rußland. Die von diesem Preußen
und Osterreich auf dem Wiener Kongreß aufgedrungene Grenze wird durch das
keilförmige Hineinspringen Russisch-Polens in preußisches und österreichisches
Gebiet unnatürlich verlängert und erweckt Rußlands Sehnsucht nach Ostpreußen
und Galizien. Deutsches Bundesgebiet wurden Ost- und Westpreußen sowie
Posen erst 1866 bei Schließung des Norddeutschen Bundes. Doch die Ostsee
ist kein neues, sondern ein uraltes germanisches Meer. Die Herrschaft aber
auf ihr und die über die Weichsel bedingen und stützen offenbar einander.

Die Ost- und Nordsee, Deutschlands natürliche Nordgrenze und seine
Pforte zum Weltmeer, wurden ihm erst während des dreißigjährigen Krieges
durch Aneignung Vorpommerns und der Küste zwischen der Eid- und Weser¬
mündung verriegelt von Schweden, das aber Preußen 1720 und 1815 wieder
vertrieb. Gegen Dänemark bildete während des Mittelalters bald die Eider,
bald die Schlei die Grenze; erst durch den Krieg von 1864 kam der größere
nördliche Teil Schleswigs an Deutschland. Demnach war früher dessen Gefährdung
durch Dänemark größer als jetzt, besonders während Norwegen mit diesem
vereinigt war.

Ebensowenig' wie der vielfach feine Richtung ändernde Weichselstrom
unsere natürliche Ostgrenze ist, ist der Rhein die natürliche Westgrenze, sondern
unsere natürliche Straße zur Nordsee, wie jener zur Ostsee. Dies hat die Ge¬
schichte klar bewiesen, besonders dadurch, daß der Vertrag von Verdun (843),
nach dem der Oberrhein Deutschlands Grenzfluß wurde, beide Ufer des Mittel¬
rheins zwar deutsches, dagegen beide Ufer des Niederrheins nicht deutsches


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[0424] Die Bedeutung der mittelalterlichen Reichsgrenzen Riga und Reval angehörten; dagegen überschritt die Reichsgrenze den Oberlauf der Oder nur wenig, sie kam zum Stehen, ohne den der Warthe zu erreichen. Doch die Erstarkung Polens, nachdem Litauen mit ihm vereinigt worden war, das Sinken der Macht Deutschlands nach dem Untergange der Hohen- staufen und die Erschlaffung und Entartung des Deutschordens bewirkten einen Rückschlag, der 1410 Polens Sieg bei Tannenberg herbeiführte. Infolge davon ward Westpreußen polnische Provinz und Ostpreußen polnisches Lehen. Auch Kurland, Livland und Estland wurden Polen beziehungsweise Schweden sowie endlich 1721 beziehungsweise 1795 Rußland untertänig. Nicht das Reich, wohl aber ein Reichssürstengeschlecht verhinderte den vollständigen Verlust der alten Ordenslande. 1657 erlangte in Ostpreußen der Große Kurfürst die Souveränität, und nachdem Polen vorübergehend in Personalunion mit Kur¬ sachsen gestanden hatte, erwarb Friedrich der Große 1772 bei der ersten polnischen Teilung auch Westpreußen und das Ermeland wieder als souveräner König von Preußen, so daß nun Brandenburg, Pommern und Preußen ein zusammenhängendes Ganzes bildeten. An dieses fielen 1793 und 1795 durch die zweite und dritte Teilung Polens Posen und das daran stoßende West- und Nordpolen bis zum Njemen, die ihm aber 1807 Napoleon wieder entriß und als Herzogtum Warschau dem König von Sachsen gab. 1815 erhielt Preußen nur die Provinz Posen^wieder, das übrige nahm Rußland. Die von diesem Preußen und Osterreich auf dem Wiener Kongreß aufgedrungene Grenze wird durch das keilförmige Hineinspringen Russisch-Polens in preußisches und österreichisches Gebiet unnatürlich verlängert und erweckt Rußlands Sehnsucht nach Ostpreußen und Galizien. Deutsches Bundesgebiet wurden Ost- und Westpreußen sowie Posen erst 1866 bei Schließung des Norddeutschen Bundes. Doch die Ostsee ist kein neues, sondern ein uraltes germanisches Meer. Die Herrschaft aber auf ihr und die über die Weichsel bedingen und stützen offenbar einander. Die Ost- und Nordsee, Deutschlands natürliche Nordgrenze und seine Pforte zum Weltmeer, wurden ihm erst während des dreißigjährigen Krieges durch Aneignung Vorpommerns und der Küste zwischen der Eid- und Weser¬ mündung verriegelt von Schweden, das aber Preußen 1720 und 1815 wieder vertrieb. Gegen Dänemark bildete während des Mittelalters bald die Eider, bald die Schlei die Grenze; erst durch den Krieg von 1864 kam der größere nördliche Teil Schleswigs an Deutschland. Demnach war früher dessen Gefährdung durch Dänemark größer als jetzt, besonders während Norwegen mit diesem vereinigt war. Ebensowenig' wie der vielfach feine Richtung ändernde Weichselstrom unsere natürliche Ostgrenze ist, ist der Rhein die natürliche Westgrenze, sondern unsere natürliche Straße zur Nordsee, wie jener zur Ostsee. Dies hat die Ge¬ schichte klar bewiesen, besonders dadurch, daß der Vertrag von Verdun (843), nach dem der Oberrhein Deutschlands Grenzfluß wurde, beide Ufer des Mittel¬ rheins zwar deutsches, dagegen beide Ufer des Niederrheins nicht deutsches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/424>, abgerufen am 26.06.2024.