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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Letten in den baltischen Provinzen, besonders in Kurland

ihnen die Subalternposten zu besetzen (Dolmetscher. Schreiber usw.), da alle
Deutschen aus solchen Stellungen ausgemerzt wurden, und Russen aus den
inneren Gouvernements für subalterne Posten nicht zu haben waren (wegen
der fast absoluten Unkenntnis von Lesen und Schreiben). Auch in den Stadt¬
verwaltungen begannen die Letten jetzt hier und da einzudringen: jede Stadt¬
verordnetenwahl wurde zu einer nationalen Kraftprobe zwischen Deutschen und
Letten. Bisher haben dabei die Deutschen die Herrschaft in den großen Städten
sich gewahrt, in den kleinen meist verloren. Die lettischen Zöglinge der neuen
russischen Lehrerseminare brachten ihren Schülern in den russifizierten Volksschulen
das neue Evangelium: "Nieder mit den deutschen Herren und Pastoren, nieder
mit den deutschen Bürgern in den Städten, die euch nicht zur Freiheit kommen
lassen wollen." Sie selbst waren in den Seminaren unter dem unerhörten
Druck der Lehrer und Direktoren, wie die Schüler aller höheren Lehranstalten
im Reiche, bald im geheimen revolutioniert, unterhielten Verbindungen mit
allen geheimen Revolutionskomitees im Reiche und benutzten die Katheder der
russifizierten Volksschulen ihrer Heimat nicht zur Russifizierung sondern zur
Revolutionierung ihres Volkes -- natürlich unter gleichzeitiger Hetze gegen die
Deutschen, die doch trotz aller Drangsalierung durch die russischen Regierungsorgane
ihrer ganzen sozialen Schichtung nach und ihrer politischen Lage wegen konservativ
bleiben mußten. Wohl alle Pastoren und Gutsbesitzer des Landes wissen davon zu
sagen, wie immer und immer wieder verständige lettische Bauernhofsbesitzer zu ihnen
kamen, von jeher gewöhnt bei ihnen sich Rat zu holen, und entrüstet mitteilten,
die Kinder kämen aus der Schule heim und erzählten, daß der neue Lehrer im
Religionsunterricht ihnen erklärt habe, daß er ihnen die Religion nur vortragen
müsse, um sie dumm zu erhalten, und daß die Regierung sie mit denselben Mitteln
knebeln wolle, wie bisher die deutschen Herren und Pastoren usw.

Es kam der japanische Krieg mit seinen Niederlagen und die allgemeine
Revolution in Rußland; der Generalstreik an den Eisenbahnen, der Post und
Telegraphie isolierte das Land völlig, die russische Beamtenschaft gab alles auf und
floh oder machte die Revolution mit, und aus den subalternen, lettischen Beamten,
aus den Volkslehrern. den sozialistisch-anarchistischen Arbeitern Libaus und Rigas,
wie den Schülern der höheren Klassen aller staatlichen höheren Lehranstalten im
Lande erstanden die Träger der organisierten Revolution, die überall die rote Fahne
hißte. Exekutivkomitees einsetzte und die Bevölkerung aufforderte, in Gemeinde¬
versammlungen auf Grund des allgemeinen Stimmrechts für beide Geschlechter,
zunächst örtliche revolutionäre Verwaltungsorgane zu schaffen. Die breite Masse
der bäuerlichon Bevölkerung verhielt sich zunächst vollkommen ablehnend und
verfiel erst der Revolution, als sie sich schutzlos dem Terror ausgeliefert sah.
Die Revolutionäre schufen aus dem Abschaum der Bevölkerung bewaffnete
Kampforganisattonen. und als überall in den Gemeinden zunächst einzelne
bäuerliche Besitzer inmitten der Ihrigen von diesen Banden nachts überfallen
und erschossen wurden, und tags darauf Plakate und Proklamationen verkündeten.


Die Letten in den baltischen Provinzen, besonders in Kurland

ihnen die Subalternposten zu besetzen (Dolmetscher. Schreiber usw.), da alle
Deutschen aus solchen Stellungen ausgemerzt wurden, und Russen aus den
inneren Gouvernements für subalterne Posten nicht zu haben waren (wegen
der fast absoluten Unkenntnis von Lesen und Schreiben). Auch in den Stadt¬
verwaltungen begannen die Letten jetzt hier und da einzudringen: jede Stadt¬
verordnetenwahl wurde zu einer nationalen Kraftprobe zwischen Deutschen und
Letten. Bisher haben dabei die Deutschen die Herrschaft in den großen Städten
sich gewahrt, in den kleinen meist verloren. Die lettischen Zöglinge der neuen
russischen Lehrerseminare brachten ihren Schülern in den russifizierten Volksschulen
das neue Evangelium: „Nieder mit den deutschen Herren und Pastoren, nieder
mit den deutschen Bürgern in den Städten, die euch nicht zur Freiheit kommen
lassen wollen." Sie selbst waren in den Seminaren unter dem unerhörten
Druck der Lehrer und Direktoren, wie die Schüler aller höheren Lehranstalten
im Reiche, bald im geheimen revolutioniert, unterhielten Verbindungen mit
allen geheimen Revolutionskomitees im Reiche und benutzten die Katheder der
russifizierten Volksschulen ihrer Heimat nicht zur Russifizierung sondern zur
Revolutionierung ihres Volkes — natürlich unter gleichzeitiger Hetze gegen die
Deutschen, die doch trotz aller Drangsalierung durch die russischen Regierungsorgane
ihrer ganzen sozialen Schichtung nach und ihrer politischen Lage wegen konservativ
bleiben mußten. Wohl alle Pastoren und Gutsbesitzer des Landes wissen davon zu
sagen, wie immer und immer wieder verständige lettische Bauernhofsbesitzer zu ihnen
kamen, von jeher gewöhnt bei ihnen sich Rat zu holen, und entrüstet mitteilten,
die Kinder kämen aus der Schule heim und erzählten, daß der neue Lehrer im
Religionsunterricht ihnen erklärt habe, daß er ihnen die Religion nur vortragen
müsse, um sie dumm zu erhalten, und daß die Regierung sie mit denselben Mitteln
knebeln wolle, wie bisher die deutschen Herren und Pastoren usw.

Es kam der japanische Krieg mit seinen Niederlagen und die allgemeine
Revolution in Rußland; der Generalstreik an den Eisenbahnen, der Post und
Telegraphie isolierte das Land völlig, die russische Beamtenschaft gab alles auf und
floh oder machte die Revolution mit, und aus den subalternen, lettischen Beamten,
aus den Volkslehrern. den sozialistisch-anarchistischen Arbeitern Libaus und Rigas,
wie den Schülern der höheren Klassen aller staatlichen höheren Lehranstalten im
Lande erstanden die Träger der organisierten Revolution, die überall die rote Fahne
hißte. Exekutivkomitees einsetzte und die Bevölkerung aufforderte, in Gemeinde¬
versammlungen auf Grund des allgemeinen Stimmrechts für beide Geschlechter,
zunächst örtliche revolutionäre Verwaltungsorgane zu schaffen. Die breite Masse
der bäuerlichon Bevölkerung verhielt sich zunächst vollkommen ablehnend und
verfiel erst der Revolution, als sie sich schutzlos dem Terror ausgeliefert sah.
Die Revolutionäre schufen aus dem Abschaum der Bevölkerung bewaffnete
Kampforganisattonen. und als überall in den Gemeinden zunächst einzelne
bäuerliche Besitzer inmitten der Ihrigen von diesen Banden nachts überfallen
und erschossen wurden, und tags darauf Plakate und Proklamationen verkündeten.


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[0033] Die Letten in den baltischen Provinzen, besonders in Kurland ihnen die Subalternposten zu besetzen (Dolmetscher. Schreiber usw.), da alle Deutschen aus solchen Stellungen ausgemerzt wurden, und Russen aus den inneren Gouvernements für subalterne Posten nicht zu haben waren (wegen der fast absoluten Unkenntnis von Lesen und Schreiben). Auch in den Stadt¬ verwaltungen begannen die Letten jetzt hier und da einzudringen: jede Stadt¬ verordnetenwahl wurde zu einer nationalen Kraftprobe zwischen Deutschen und Letten. Bisher haben dabei die Deutschen die Herrschaft in den großen Städten sich gewahrt, in den kleinen meist verloren. Die lettischen Zöglinge der neuen russischen Lehrerseminare brachten ihren Schülern in den russifizierten Volksschulen das neue Evangelium: „Nieder mit den deutschen Herren und Pastoren, nieder mit den deutschen Bürgern in den Städten, die euch nicht zur Freiheit kommen lassen wollen." Sie selbst waren in den Seminaren unter dem unerhörten Druck der Lehrer und Direktoren, wie die Schüler aller höheren Lehranstalten im Reiche, bald im geheimen revolutioniert, unterhielten Verbindungen mit allen geheimen Revolutionskomitees im Reiche und benutzten die Katheder der russifizierten Volksschulen ihrer Heimat nicht zur Russifizierung sondern zur Revolutionierung ihres Volkes — natürlich unter gleichzeitiger Hetze gegen die Deutschen, die doch trotz aller Drangsalierung durch die russischen Regierungsorgane ihrer ganzen sozialen Schichtung nach und ihrer politischen Lage wegen konservativ bleiben mußten. Wohl alle Pastoren und Gutsbesitzer des Landes wissen davon zu sagen, wie immer und immer wieder verständige lettische Bauernhofsbesitzer zu ihnen kamen, von jeher gewöhnt bei ihnen sich Rat zu holen, und entrüstet mitteilten, die Kinder kämen aus der Schule heim und erzählten, daß der neue Lehrer im Religionsunterricht ihnen erklärt habe, daß er ihnen die Religion nur vortragen müsse, um sie dumm zu erhalten, und daß die Regierung sie mit denselben Mitteln knebeln wolle, wie bisher die deutschen Herren und Pastoren usw. Es kam der japanische Krieg mit seinen Niederlagen und die allgemeine Revolution in Rußland; der Generalstreik an den Eisenbahnen, der Post und Telegraphie isolierte das Land völlig, die russische Beamtenschaft gab alles auf und floh oder machte die Revolution mit, und aus den subalternen, lettischen Beamten, aus den Volkslehrern. den sozialistisch-anarchistischen Arbeitern Libaus und Rigas, wie den Schülern der höheren Klassen aller staatlichen höheren Lehranstalten im Lande erstanden die Träger der organisierten Revolution, die überall die rote Fahne hißte. Exekutivkomitees einsetzte und die Bevölkerung aufforderte, in Gemeinde¬ versammlungen auf Grund des allgemeinen Stimmrechts für beide Geschlechter, zunächst örtliche revolutionäre Verwaltungsorgane zu schaffen. Die breite Masse der bäuerlichon Bevölkerung verhielt sich zunächst vollkommen ablehnend und verfiel erst der Revolution, als sie sich schutzlos dem Terror ausgeliefert sah. Die Revolutionäre schufen aus dem Abschaum der Bevölkerung bewaffnete Kampforganisattonen. und als überall in den Gemeinden zunächst einzelne bäuerliche Besitzer inmitten der Ihrigen von diesen Banden nachts überfallen und erschossen wurden, und tags darauf Plakate und Proklamationen verkündeten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/33>, abgerufen am 26.06.2024.