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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Staatsgedanke

im Sinne Bismarcks selber nicht der Fall, nur daß er, der Forderung des
Tages sich unterwerfend, seinen Blick viel mehr auf die Machtfragen der
äußeren Politik gerichtet hielt als auf die ethischen der inneren. Er abstrahierte
dabei von jener inneren Begründung des Staatswillens, unter der auch er
lebte, er schloß sie keineswegs aus. Ein Jahr nach dem angeführten Ausspruch
Treitschkes gab er selbst darauf eine Art Antwort. "Meine Interessen an den
auswärtigen Angelegenheiten sind nicht nur stärker, sondern zurzeit allein ma߬
gebende und fortreißende, so daß ich, soviel ich kann, jedes Hindernis durch¬
breche, welches nur im Wege steht, um zu dem Ziele zu gelangen, welches,
wie ich glaube, zum Wohl des Vaterlandes erreicht werden muß. Das
schließt nicht aus, daß auch ich die Überzeugung teile, daß den höchsten
Grad von Freiheit des Volkes, des Individuums, der mit der Sicherheit
und gemeinsamen Wohlfahrt des Volkes erträglich ist, jederzeit zu erstreben, die
Pflicht jeder ehrlichen Regierung ist." Zweifellos spricht sich hierin ja ein
Staatsgedanke aus, der dem Friderizianischen mehr als dem Steinschen verwandt
ist: hohe Anforderung des Führenden an sich selbst und seinen Dienst für das
Ganze, bei geringerer Einschätzung der großen Masse; eine Tatsache, für die
Treitschke einen wohl nicht ganz unrichtigen Grund angeführt hat. Zweifellos
lag demgemäß auch einzelnes aus seiner inneren Politik, was dem Staats¬
gedanken im Sinne Steins sich zu nähern scheint, für Bismarck selbst, soweit
es nicht überhaupt statt dem Ethos nur der staatlichen Klugheit entsprang, mehr in
der Richtung der patriarchalisch-gerecht denkenden Staatsgesinnung Friedrichs des
Zweiten. Unter diesem Gesichtspunkt ist zum Beispiel die Tatsache zu betrachten, daß
die Reichsverfassung mehr auf die gleichmäßige und allgemein politische Beendigung
aller Staatsbürger eingerichtet ist als die preußische Staatsverfassung. Ähnliches
gilt von der sozialen Gesetzgebung.

Auch die schonende Behandlung Österreichs 1866 und die damit eingeleitete
Bündnispolitik ist gewiß nicht in der "ideologischen" Überlegung begründet
gewesen, daß die äußere Politik sicherer auf Vertrauen und Gerechtigkeit als auf
bloßer Macht aufgebaut wird. Aber es ist doch für diesen deutschen Staats¬
mann bezeichnend, daß ihn sein realpoMischer Instinkt hier wie in den eben
berührten Problemen der inneren Politik denselben Weg wies, den Steins
Staatsethik gewiesen hätte. Sind alle diese Ansätze bei Bismarck nicht idealistisch
gedacht, so steckt jedenfalls in der Realpolitik, die er trieb, etwas, was oft
sowohl seine Nachbeter wie seine Gegner nicht in Rechnung setzen: ein starkes
Wirklichkeitsgefühl auch für die ewigen ethischen Gesetze und Grundlagen des
Völkerlebens, Gesetze, die noch nie ungestraft von einer vermeintlichen Real¬
politik ignoriert worden sind.

Was ergibt sich aus dem allen für uns? Das Geschick hat uns bestimmt,
zu dem Bismarckschen Staat, das heißt zu der äußeren Gestaltung, die er dem
einstigen preußischen Staat gegeben hat, ein letztes, entscheidendes Ja zu sprechen.
Wir bejahen in diesem Kriege die Ausweitung des alten Preußen zum Deutschen


Der deutsche Staatsgedanke

im Sinne Bismarcks selber nicht der Fall, nur daß er, der Forderung des
Tages sich unterwerfend, seinen Blick viel mehr auf die Machtfragen der
äußeren Politik gerichtet hielt als auf die ethischen der inneren. Er abstrahierte
dabei von jener inneren Begründung des Staatswillens, unter der auch er
lebte, er schloß sie keineswegs aus. Ein Jahr nach dem angeführten Ausspruch
Treitschkes gab er selbst darauf eine Art Antwort. „Meine Interessen an den
auswärtigen Angelegenheiten sind nicht nur stärker, sondern zurzeit allein ma߬
gebende und fortreißende, so daß ich, soviel ich kann, jedes Hindernis durch¬
breche, welches nur im Wege steht, um zu dem Ziele zu gelangen, welches,
wie ich glaube, zum Wohl des Vaterlandes erreicht werden muß. Das
schließt nicht aus, daß auch ich die Überzeugung teile, daß den höchsten
Grad von Freiheit des Volkes, des Individuums, der mit der Sicherheit
und gemeinsamen Wohlfahrt des Volkes erträglich ist, jederzeit zu erstreben, die
Pflicht jeder ehrlichen Regierung ist." Zweifellos spricht sich hierin ja ein
Staatsgedanke aus, der dem Friderizianischen mehr als dem Steinschen verwandt
ist: hohe Anforderung des Führenden an sich selbst und seinen Dienst für das
Ganze, bei geringerer Einschätzung der großen Masse; eine Tatsache, für die
Treitschke einen wohl nicht ganz unrichtigen Grund angeführt hat. Zweifellos
lag demgemäß auch einzelnes aus seiner inneren Politik, was dem Staats¬
gedanken im Sinne Steins sich zu nähern scheint, für Bismarck selbst, soweit
es nicht überhaupt statt dem Ethos nur der staatlichen Klugheit entsprang, mehr in
der Richtung der patriarchalisch-gerecht denkenden Staatsgesinnung Friedrichs des
Zweiten. Unter diesem Gesichtspunkt ist zum Beispiel die Tatsache zu betrachten, daß
die Reichsverfassung mehr auf die gleichmäßige und allgemein politische Beendigung
aller Staatsbürger eingerichtet ist als die preußische Staatsverfassung. Ähnliches
gilt von der sozialen Gesetzgebung.

Auch die schonende Behandlung Österreichs 1866 und die damit eingeleitete
Bündnispolitik ist gewiß nicht in der „ideologischen" Überlegung begründet
gewesen, daß die äußere Politik sicherer auf Vertrauen und Gerechtigkeit als auf
bloßer Macht aufgebaut wird. Aber es ist doch für diesen deutschen Staats¬
mann bezeichnend, daß ihn sein realpoMischer Instinkt hier wie in den eben
berührten Problemen der inneren Politik denselben Weg wies, den Steins
Staatsethik gewiesen hätte. Sind alle diese Ansätze bei Bismarck nicht idealistisch
gedacht, so steckt jedenfalls in der Realpolitik, die er trieb, etwas, was oft
sowohl seine Nachbeter wie seine Gegner nicht in Rechnung setzen: ein starkes
Wirklichkeitsgefühl auch für die ewigen ethischen Gesetze und Grundlagen des
Völkerlebens, Gesetze, die noch nie ungestraft von einer vermeintlichen Real¬
politik ignoriert worden sind.

Was ergibt sich aus dem allen für uns? Das Geschick hat uns bestimmt,
zu dem Bismarckschen Staat, das heißt zu der äußeren Gestaltung, die er dem
einstigen preußischen Staat gegeben hat, ein letztes, entscheidendes Ja zu sprechen.
Wir bejahen in diesem Kriege die Ausweitung des alten Preußen zum Deutschen


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[0244] Der deutsche Staatsgedanke im Sinne Bismarcks selber nicht der Fall, nur daß er, der Forderung des Tages sich unterwerfend, seinen Blick viel mehr auf die Machtfragen der äußeren Politik gerichtet hielt als auf die ethischen der inneren. Er abstrahierte dabei von jener inneren Begründung des Staatswillens, unter der auch er lebte, er schloß sie keineswegs aus. Ein Jahr nach dem angeführten Ausspruch Treitschkes gab er selbst darauf eine Art Antwort. „Meine Interessen an den auswärtigen Angelegenheiten sind nicht nur stärker, sondern zurzeit allein ma߬ gebende und fortreißende, so daß ich, soviel ich kann, jedes Hindernis durch¬ breche, welches nur im Wege steht, um zu dem Ziele zu gelangen, welches, wie ich glaube, zum Wohl des Vaterlandes erreicht werden muß. Das schließt nicht aus, daß auch ich die Überzeugung teile, daß den höchsten Grad von Freiheit des Volkes, des Individuums, der mit der Sicherheit und gemeinsamen Wohlfahrt des Volkes erträglich ist, jederzeit zu erstreben, die Pflicht jeder ehrlichen Regierung ist." Zweifellos spricht sich hierin ja ein Staatsgedanke aus, der dem Friderizianischen mehr als dem Steinschen verwandt ist: hohe Anforderung des Führenden an sich selbst und seinen Dienst für das Ganze, bei geringerer Einschätzung der großen Masse; eine Tatsache, für die Treitschke einen wohl nicht ganz unrichtigen Grund angeführt hat. Zweifellos lag demgemäß auch einzelnes aus seiner inneren Politik, was dem Staats¬ gedanken im Sinne Steins sich zu nähern scheint, für Bismarck selbst, soweit es nicht überhaupt statt dem Ethos nur der staatlichen Klugheit entsprang, mehr in der Richtung der patriarchalisch-gerecht denkenden Staatsgesinnung Friedrichs des Zweiten. Unter diesem Gesichtspunkt ist zum Beispiel die Tatsache zu betrachten, daß die Reichsverfassung mehr auf die gleichmäßige und allgemein politische Beendigung aller Staatsbürger eingerichtet ist als die preußische Staatsverfassung. Ähnliches gilt von der sozialen Gesetzgebung. Auch die schonende Behandlung Österreichs 1866 und die damit eingeleitete Bündnispolitik ist gewiß nicht in der „ideologischen" Überlegung begründet gewesen, daß die äußere Politik sicherer auf Vertrauen und Gerechtigkeit als auf bloßer Macht aufgebaut wird. Aber es ist doch für diesen deutschen Staats¬ mann bezeichnend, daß ihn sein realpoMischer Instinkt hier wie in den eben berührten Problemen der inneren Politik denselben Weg wies, den Steins Staatsethik gewiesen hätte. Sind alle diese Ansätze bei Bismarck nicht idealistisch gedacht, so steckt jedenfalls in der Realpolitik, die er trieb, etwas, was oft sowohl seine Nachbeter wie seine Gegner nicht in Rechnung setzen: ein starkes Wirklichkeitsgefühl auch für die ewigen ethischen Gesetze und Grundlagen des Völkerlebens, Gesetze, die noch nie ungestraft von einer vermeintlichen Real¬ politik ignoriert worden sind. Was ergibt sich aus dem allen für uns? Das Geschick hat uns bestimmt, zu dem Bismarckschen Staat, das heißt zu der äußeren Gestaltung, die er dem einstigen preußischen Staat gegeben hat, ein letztes, entscheidendes Ja zu sprechen. Wir bejahen in diesem Kriege die Ausweitung des alten Preußen zum Deutschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/244>, abgerufen am 23.07.2024.