Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vom geistigen Zarismu5

gerade den Glauben an unseren gesunden Menschenverstand, so doch durchaus
den Glauben an unsere gute Gesinnung, mit einem Worte unseren Anspruch
auf Achtung abhängig macht. Das Androhen von Verachtung -- diese typische
geistige Vergewaltigung -- ist übrigens von jeher das Hauptargument in der
russischen Publizistik und Prophetenliteratur gewesen. Kein russisches Schrifttum
kann sie als letztes Beweismittel entbehren, und nicht einmal da, wo sür
Menschenliebe eingetreten wird. Daß ja ein Bekenntnis schon seinem Inhalt
nach auch in der Methode seiner Verkündigung Verpflichtungen auferlegt, hat noch
kaum ein Russe begriffen. So erklärt der Sozialprophet Tolstoi, dessen theoretische
Schriften für uns das peinlichste sind, was man lesen kann, mit Vorliebe
gegnerische Anschauungen für dumm oder für "lächerlichen Selbstbetrug", und
glaubt dabei wirklich noch von Menschenliebe beseelt zu sein. Und selbst der
edle Wladimir Solowieff findet vor der europäischen Wissenschaft oder dem,
was er dafür hält, Ausdrücke wie "einfach belustigend", "überkomisch" usw.
Endlich der arme Dostojewski gerät, wenn er auf die nichtrussische Gedanken¬
welt zu sprechen kommt, meist in einen wahren Paroxismus von Wut, der ihm
alle Freiheit des Geistes nimmt und ihn oft zu den bedauerlichsten Ver¬
dächtigungen verführt. Was er sich da an Ausdrücken der Verachtung leistet,
ist wohl unübertroffen -- freilich nur in der Häufung, nicht in der Nuance.

Doch kehren wir zur Sache zurück. Um die von ihm beanspruchte Über¬
legenheit dem Ausländer gegenüber niemals aufgeben zu müssen (vor allem doch
wohl in den Augen des Landsmannes), behauptet also der intelligente Russe,
wir Westeuropäer wollten nicht von ihm lernen, oder wir könnten das gar
nicht. Um ersteres zu beweisen, macht er uns das Lernen bei ihm moralisch
fast unmöglich -- durch seine eigenartige Lehrmethode. Um letzteres zu beweisen
(unsere Unfähigkeit bei ihm zu lernen), betritt er ein Gebiet, in das wir ihm
nicht folgen können, und auch hier, wo es sich um den reinen Gedanken handelt,
gar nicht folgen wollen: das Gebiet der Mystik -- der immer nur persönlich
erlebten Lautbarmachung von dem, was jenseits des Wortes ist.

Offen gesagt finden wir ein solches Vorgehen wenig vornehm: denn wenn
uns schon von dem ganzen Chor der russischen Weltverbesserer, von den Riesen
Tolstoi und Dostojewski bis zu den Zwergen Mereschkowski und Andrejeff, klar
gemacht wird, eine Erlösung für uns könne nur durch das Nussentum gehen,
so müßten wir doch zum mindesten wissen, was wir denn eigentlich im Russentum
zu suchen und zu tun haben. Das wird uns aber gerade nicht gesagt. Der
Russe will eben gar nicht verstanden sein, vielmehr erfühlt, erraten sein wie die
Frau. Können wir das nicht, nun, dann sind wir schon derart minderwertig,
daß wir es ruhig aufgeben können, jemals zu dem Lichte zu kommen, das uns
da im Osten "Erlösung leuchtet".

Wiederholen wir: die Russen haben eine ganz besondere Taktik, ihre
beanspruchte Überlegenheit uns gegenüber absolut unerschütterlich, besser gesagt
unangreifbar zu machen. Den westeuropäischen Willen, das Gute aufzunehmen, von


vom geistigen Zarismu5

gerade den Glauben an unseren gesunden Menschenverstand, so doch durchaus
den Glauben an unsere gute Gesinnung, mit einem Worte unseren Anspruch
auf Achtung abhängig macht. Das Androhen von Verachtung — diese typische
geistige Vergewaltigung — ist übrigens von jeher das Hauptargument in der
russischen Publizistik und Prophetenliteratur gewesen. Kein russisches Schrifttum
kann sie als letztes Beweismittel entbehren, und nicht einmal da, wo sür
Menschenliebe eingetreten wird. Daß ja ein Bekenntnis schon seinem Inhalt
nach auch in der Methode seiner Verkündigung Verpflichtungen auferlegt, hat noch
kaum ein Russe begriffen. So erklärt der Sozialprophet Tolstoi, dessen theoretische
Schriften für uns das peinlichste sind, was man lesen kann, mit Vorliebe
gegnerische Anschauungen für dumm oder für „lächerlichen Selbstbetrug", und
glaubt dabei wirklich noch von Menschenliebe beseelt zu sein. Und selbst der
edle Wladimir Solowieff findet vor der europäischen Wissenschaft oder dem,
was er dafür hält, Ausdrücke wie „einfach belustigend", „überkomisch" usw.
Endlich der arme Dostojewski gerät, wenn er auf die nichtrussische Gedanken¬
welt zu sprechen kommt, meist in einen wahren Paroxismus von Wut, der ihm
alle Freiheit des Geistes nimmt und ihn oft zu den bedauerlichsten Ver¬
dächtigungen verführt. Was er sich da an Ausdrücken der Verachtung leistet,
ist wohl unübertroffen — freilich nur in der Häufung, nicht in der Nuance.

Doch kehren wir zur Sache zurück. Um die von ihm beanspruchte Über¬
legenheit dem Ausländer gegenüber niemals aufgeben zu müssen (vor allem doch
wohl in den Augen des Landsmannes), behauptet also der intelligente Russe,
wir Westeuropäer wollten nicht von ihm lernen, oder wir könnten das gar
nicht. Um ersteres zu beweisen, macht er uns das Lernen bei ihm moralisch
fast unmöglich — durch seine eigenartige Lehrmethode. Um letzteres zu beweisen
(unsere Unfähigkeit bei ihm zu lernen), betritt er ein Gebiet, in das wir ihm
nicht folgen können, und auch hier, wo es sich um den reinen Gedanken handelt,
gar nicht folgen wollen: das Gebiet der Mystik — der immer nur persönlich
erlebten Lautbarmachung von dem, was jenseits des Wortes ist.

Offen gesagt finden wir ein solches Vorgehen wenig vornehm: denn wenn
uns schon von dem ganzen Chor der russischen Weltverbesserer, von den Riesen
Tolstoi und Dostojewski bis zu den Zwergen Mereschkowski und Andrejeff, klar
gemacht wird, eine Erlösung für uns könne nur durch das Nussentum gehen,
so müßten wir doch zum mindesten wissen, was wir denn eigentlich im Russentum
zu suchen und zu tun haben. Das wird uns aber gerade nicht gesagt. Der
Russe will eben gar nicht verstanden sein, vielmehr erfühlt, erraten sein wie die
Frau. Können wir das nicht, nun, dann sind wir schon derart minderwertig,
daß wir es ruhig aufgeben können, jemals zu dem Lichte zu kommen, das uns
da im Osten „Erlösung leuchtet".

Wiederholen wir: die Russen haben eine ganz besondere Taktik, ihre
beanspruchte Überlegenheit uns gegenüber absolut unerschütterlich, besser gesagt
unangreifbar zu machen. Den westeuropäischen Willen, das Gute aufzunehmen, von


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0209" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324182"/>
          <fw type="header" place="top"> vom geistigen Zarismu5</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_615" prev="#ID_614"> gerade den Glauben an unseren gesunden Menschenverstand, so doch durchaus<lb/>
den Glauben an unsere gute Gesinnung, mit einem Worte unseren Anspruch<lb/>
auf Achtung abhängig macht. Das Androhen von Verachtung &#x2014; diese typische<lb/>
geistige Vergewaltigung &#x2014; ist übrigens von jeher das Hauptargument in der<lb/>
russischen Publizistik und Prophetenliteratur gewesen. Kein russisches Schrifttum<lb/>
kann sie als letztes Beweismittel entbehren, und nicht einmal da, wo sür<lb/>
Menschenliebe eingetreten wird. Daß ja ein Bekenntnis schon seinem Inhalt<lb/>
nach auch in der Methode seiner Verkündigung Verpflichtungen auferlegt, hat noch<lb/>
kaum ein Russe begriffen. So erklärt der Sozialprophet Tolstoi, dessen theoretische<lb/>
Schriften für uns das peinlichste sind, was man lesen kann, mit Vorliebe<lb/>
gegnerische Anschauungen für dumm oder für &#x201E;lächerlichen Selbstbetrug", und<lb/>
glaubt dabei wirklich noch von Menschenliebe beseelt zu sein. Und selbst der<lb/>
edle Wladimir Solowieff findet vor der europäischen Wissenschaft oder dem,<lb/>
was er dafür hält, Ausdrücke wie &#x201E;einfach belustigend", &#x201E;überkomisch" usw.<lb/>
Endlich der arme Dostojewski gerät, wenn er auf die nichtrussische Gedanken¬<lb/>
welt zu sprechen kommt, meist in einen wahren Paroxismus von Wut, der ihm<lb/>
alle Freiheit des Geistes nimmt und ihn oft zu den bedauerlichsten Ver¬<lb/>
dächtigungen verführt. Was er sich da an Ausdrücken der Verachtung leistet,<lb/>
ist wohl unübertroffen &#x2014; freilich nur in der Häufung, nicht in der Nuance.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_616"> Doch kehren wir zur Sache zurück. Um die von ihm beanspruchte Über¬<lb/>
legenheit dem Ausländer gegenüber niemals aufgeben zu müssen (vor allem doch<lb/>
wohl in den Augen des Landsmannes), behauptet also der intelligente Russe,<lb/>
wir Westeuropäer wollten nicht von ihm lernen, oder wir könnten das gar<lb/>
nicht. Um ersteres zu beweisen, macht er uns das Lernen bei ihm moralisch<lb/>
fast unmöglich &#x2014; durch seine eigenartige Lehrmethode. Um letzteres zu beweisen<lb/>
(unsere Unfähigkeit bei ihm zu lernen), betritt er ein Gebiet, in das wir ihm<lb/>
nicht folgen können, und auch hier, wo es sich um den reinen Gedanken handelt,<lb/>
gar nicht folgen wollen: das Gebiet der Mystik &#x2014; der immer nur persönlich<lb/>
erlebten Lautbarmachung von dem, was jenseits des Wortes ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_617"> Offen gesagt finden wir ein solches Vorgehen wenig vornehm: denn wenn<lb/>
uns schon von dem ganzen Chor der russischen Weltverbesserer, von den Riesen<lb/>
Tolstoi und Dostojewski bis zu den Zwergen Mereschkowski und Andrejeff, klar<lb/>
gemacht wird, eine Erlösung für uns könne nur durch das Nussentum gehen,<lb/>
so müßten wir doch zum mindesten wissen, was wir denn eigentlich im Russentum<lb/>
zu suchen und zu tun haben. Das wird uns aber gerade nicht gesagt. Der<lb/>
Russe will eben gar nicht verstanden sein, vielmehr erfühlt, erraten sein wie die<lb/>
Frau. Können wir das nicht, nun, dann sind wir schon derart minderwertig,<lb/>
daß wir es ruhig aufgeben können, jemals zu dem Lichte zu kommen, das uns<lb/>
da im Osten &#x201E;Erlösung leuchtet".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_618" next="#ID_619"> Wiederholen wir: die Russen haben eine ganz besondere Taktik, ihre<lb/>
beanspruchte Überlegenheit uns gegenüber absolut unerschütterlich, besser gesagt<lb/>
unangreifbar zu machen. Den westeuropäischen Willen, das Gute aufzunehmen, von</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0209] vom geistigen Zarismu5 gerade den Glauben an unseren gesunden Menschenverstand, so doch durchaus den Glauben an unsere gute Gesinnung, mit einem Worte unseren Anspruch auf Achtung abhängig macht. Das Androhen von Verachtung — diese typische geistige Vergewaltigung — ist übrigens von jeher das Hauptargument in der russischen Publizistik und Prophetenliteratur gewesen. Kein russisches Schrifttum kann sie als letztes Beweismittel entbehren, und nicht einmal da, wo sür Menschenliebe eingetreten wird. Daß ja ein Bekenntnis schon seinem Inhalt nach auch in der Methode seiner Verkündigung Verpflichtungen auferlegt, hat noch kaum ein Russe begriffen. So erklärt der Sozialprophet Tolstoi, dessen theoretische Schriften für uns das peinlichste sind, was man lesen kann, mit Vorliebe gegnerische Anschauungen für dumm oder für „lächerlichen Selbstbetrug", und glaubt dabei wirklich noch von Menschenliebe beseelt zu sein. Und selbst der edle Wladimir Solowieff findet vor der europäischen Wissenschaft oder dem, was er dafür hält, Ausdrücke wie „einfach belustigend", „überkomisch" usw. Endlich der arme Dostojewski gerät, wenn er auf die nichtrussische Gedanken¬ welt zu sprechen kommt, meist in einen wahren Paroxismus von Wut, der ihm alle Freiheit des Geistes nimmt und ihn oft zu den bedauerlichsten Ver¬ dächtigungen verführt. Was er sich da an Ausdrücken der Verachtung leistet, ist wohl unübertroffen — freilich nur in der Häufung, nicht in der Nuance. Doch kehren wir zur Sache zurück. Um die von ihm beanspruchte Über¬ legenheit dem Ausländer gegenüber niemals aufgeben zu müssen (vor allem doch wohl in den Augen des Landsmannes), behauptet also der intelligente Russe, wir Westeuropäer wollten nicht von ihm lernen, oder wir könnten das gar nicht. Um ersteres zu beweisen, macht er uns das Lernen bei ihm moralisch fast unmöglich — durch seine eigenartige Lehrmethode. Um letzteres zu beweisen (unsere Unfähigkeit bei ihm zu lernen), betritt er ein Gebiet, in das wir ihm nicht folgen können, und auch hier, wo es sich um den reinen Gedanken handelt, gar nicht folgen wollen: das Gebiet der Mystik — der immer nur persönlich erlebten Lautbarmachung von dem, was jenseits des Wortes ist. Offen gesagt finden wir ein solches Vorgehen wenig vornehm: denn wenn uns schon von dem ganzen Chor der russischen Weltverbesserer, von den Riesen Tolstoi und Dostojewski bis zu den Zwergen Mereschkowski und Andrejeff, klar gemacht wird, eine Erlösung für uns könne nur durch das Nussentum gehen, so müßten wir doch zum mindesten wissen, was wir denn eigentlich im Russentum zu suchen und zu tun haben. Das wird uns aber gerade nicht gesagt. Der Russe will eben gar nicht verstanden sein, vielmehr erfühlt, erraten sein wie die Frau. Können wir das nicht, nun, dann sind wir schon derart minderwertig, daß wir es ruhig aufgeben können, jemals zu dem Lichte zu kommen, das uns da im Osten „Erlösung leuchtet". Wiederholen wir: die Russen haben eine ganz besondere Taktik, ihre beanspruchte Überlegenheit uns gegenüber absolut unerschütterlich, besser gesagt unangreifbar zu machen. Den westeuropäischen Willen, das Gute aufzunehmen, von

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/209
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/209>, abgerufen am 26.06.2024.