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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Oven geistigen Zarismus

an die theoretischen Schriften Tolstois, von Dostojewskys empörender Publi¬
zistik gar nicht zu reden. Das geht durch die gesamte russische Essayistik hin¬
durch, und selbst ein so reiner Geist wie Wladimir Solowieff sündigt hier in
aller Arglosigkeit. Das alles läßt aber uns, die wir im Gegensatz zum Russen,
der hier wirklich sehr liberal ist, die Einheitlichkeit der sittlichen Person ver¬
langen, durchaus daran zweifeln, ob wir von solchen Lehrern überhaupt etwas
zu lernen haben. Denn ihnen fehlt zunächst einmal die Liebe -- wenigstens
zweifellos zu uns. Wir aber verlangen Liebe von dem, der uns belehren will,
denn nur das rechtfertigt in unseren Augen sein sonst anmaßendes Beginnen.
Wahrscheinlich faßt der Russe unsere dementsprechend? kühle Abwehr seiner un¬
möglichen Lehrmethode als geistigen Widerstand auf. Dann ist ihm eben
nicht zu helfen. Hier ist es an ihm, sich zu ändern. Er könnte darin übrigens
durchaus vom ganz einfachen Russen lernen, dem russischen Bauern, Handwerker
oder Dienstboten, bei dem der Ausländer deshalb so gern das Liebenswerte
anerkennt, weil der gar nicht belehren will und trotz dem Beispiel, das er in
so vielem gibt, durchaus seine Schwächen nicht verheimlicht. Darüber wäre
noch viel zu sagen. Wir begnügen uns hier damit, festzustellen, daß der in¬
telligente Russe unseren guten Willen, bei ihm zu lernen, und seine Überlegen¬
heit, die wir ja anerkennen müßten, auch wirklich zuzugeben, entweder geradenwegs
bestreitet, oder ihn als etwas an sich Unmögliches überhaupt außerhalb aller
Diskussion läßt. Das ist eines seiner Mittel, sich seine geistige Überlegenheit
zu sichern. Er fühlt indes, daß das nicht ausreicht, und er scheint darum auch
keinen sonderlichen Wert hierauf zu legen. Wenigstens überwiegt bei weiten:
eine andere Taktik, die sich durchweg bei den russischen Publizisten, Propheten
und Weltverbesserern findet (bei kleineren wie Mereschkowsky, Andrejeff, Andrej
Bjely artet sie direkt in Komik aus). Wollen wir vor ihr, dieser anderen
Taktik, unseren Geist nicht einfach abstellen, so können wir sie für gar nichts
anderes halten als für ein -- vielleicht unbewußtes Mittel des intelligenten
Russen dazu, sich seine geistige Überlegenheit über uns unter allen Umständen
zu sichern: denn wir können doch bei den russischen Menschheitsbeglückern
nicht geradezu den Willen annehmen, uns bei unserer bedauernswerten west¬
lichen Blindheit zu belassen und uns ein für allemal auszuschließen von der
russischen Erleuchtung! Diese Taktik beruht nämlich darin, daß der russische
Denker in der Bekämpfung des Westens plötzlich, meist ohne jeden Übergang,
aus der Beurteilung der Wirklichkeit in das rein Mystische überzuspringen pflegt --
er ist ja bekanntlich ein Virtuose darin, beiden Gebieten in gleicher Vollkommen¬
heit darstellerisch gerecht zu werden, hierin beruht doch die eigentlich originelle
Note des russischen Schrifttums. Es werden also plötzlich durchaus nicht un¬
mittelbar einzusehende und oft nur ganz flüchtig angedeutete mystische Zu¬
sammenhänge von allerpersönlichster Färbung als Wahrheiten hingestellt, von
deren Anerkennung -- und sie sind meist so, daß wir sie gar nicht anerkennen
können, ja nicht einmal begreifen, um was es sich handelt -- man, wenn nicht


Oven geistigen Zarismus

an die theoretischen Schriften Tolstois, von Dostojewskys empörender Publi¬
zistik gar nicht zu reden. Das geht durch die gesamte russische Essayistik hin¬
durch, und selbst ein so reiner Geist wie Wladimir Solowieff sündigt hier in
aller Arglosigkeit. Das alles läßt aber uns, die wir im Gegensatz zum Russen,
der hier wirklich sehr liberal ist, die Einheitlichkeit der sittlichen Person ver¬
langen, durchaus daran zweifeln, ob wir von solchen Lehrern überhaupt etwas
zu lernen haben. Denn ihnen fehlt zunächst einmal die Liebe — wenigstens
zweifellos zu uns. Wir aber verlangen Liebe von dem, der uns belehren will,
denn nur das rechtfertigt in unseren Augen sein sonst anmaßendes Beginnen.
Wahrscheinlich faßt der Russe unsere dementsprechend? kühle Abwehr seiner un¬
möglichen Lehrmethode als geistigen Widerstand auf. Dann ist ihm eben
nicht zu helfen. Hier ist es an ihm, sich zu ändern. Er könnte darin übrigens
durchaus vom ganz einfachen Russen lernen, dem russischen Bauern, Handwerker
oder Dienstboten, bei dem der Ausländer deshalb so gern das Liebenswerte
anerkennt, weil der gar nicht belehren will und trotz dem Beispiel, das er in
so vielem gibt, durchaus seine Schwächen nicht verheimlicht. Darüber wäre
noch viel zu sagen. Wir begnügen uns hier damit, festzustellen, daß der in¬
telligente Russe unseren guten Willen, bei ihm zu lernen, und seine Überlegen¬
heit, die wir ja anerkennen müßten, auch wirklich zuzugeben, entweder geradenwegs
bestreitet, oder ihn als etwas an sich Unmögliches überhaupt außerhalb aller
Diskussion läßt. Das ist eines seiner Mittel, sich seine geistige Überlegenheit
zu sichern. Er fühlt indes, daß das nicht ausreicht, und er scheint darum auch
keinen sonderlichen Wert hierauf zu legen. Wenigstens überwiegt bei weiten:
eine andere Taktik, die sich durchweg bei den russischen Publizisten, Propheten
und Weltverbesserern findet (bei kleineren wie Mereschkowsky, Andrejeff, Andrej
Bjely artet sie direkt in Komik aus). Wollen wir vor ihr, dieser anderen
Taktik, unseren Geist nicht einfach abstellen, so können wir sie für gar nichts
anderes halten als für ein — vielleicht unbewußtes Mittel des intelligenten
Russen dazu, sich seine geistige Überlegenheit über uns unter allen Umständen
zu sichern: denn wir können doch bei den russischen Menschheitsbeglückern
nicht geradezu den Willen annehmen, uns bei unserer bedauernswerten west¬
lichen Blindheit zu belassen und uns ein für allemal auszuschließen von der
russischen Erleuchtung! Diese Taktik beruht nämlich darin, daß der russische
Denker in der Bekämpfung des Westens plötzlich, meist ohne jeden Übergang,
aus der Beurteilung der Wirklichkeit in das rein Mystische überzuspringen pflegt —
er ist ja bekanntlich ein Virtuose darin, beiden Gebieten in gleicher Vollkommen¬
heit darstellerisch gerecht zu werden, hierin beruht doch die eigentlich originelle
Note des russischen Schrifttums. Es werden also plötzlich durchaus nicht un¬
mittelbar einzusehende und oft nur ganz flüchtig angedeutete mystische Zu¬
sammenhänge von allerpersönlichster Färbung als Wahrheiten hingestellt, von
deren Anerkennung — und sie sind meist so, daß wir sie gar nicht anerkennen
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[0208] Oven geistigen Zarismus an die theoretischen Schriften Tolstois, von Dostojewskys empörender Publi¬ zistik gar nicht zu reden. Das geht durch die gesamte russische Essayistik hin¬ durch, und selbst ein so reiner Geist wie Wladimir Solowieff sündigt hier in aller Arglosigkeit. Das alles läßt aber uns, die wir im Gegensatz zum Russen, der hier wirklich sehr liberal ist, die Einheitlichkeit der sittlichen Person ver¬ langen, durchaus daran zweifeln, ob wir von solchen Lehrern überhaupt etwas zu lernen haben. Denn ihnen fehlt zunächst einmal die Liebe — wenigstens zweifellos zu uns. Wir aber verlangen Liebe von dem, der uns belehren will, denn nur das rechtfertigt in unseren Augen sein sonst anmaßendes Beginnen. Wahrscheinlich faßt der Russe unsere dementsprechend? kühle Abwehr seiner un¬ möglichen Lehrmethode als geistigen Widerstand auf. Dann ist ihm eben nicht zu helfen. Hier ist es an ihm, sich zu ändern. Er könnte darin übrigens durchaus vom ganz einfachen Russen lernen, dem russischen Bauern, Handwerker oder Dienstboten, bei dem der Ausländer deshalb so gern das Liebenswerte anerkennt, weil der gar nicht belehren will und trotz dem Beispiel, das er in so vielem gibt, durchaus seine Schwächen nicht verheimlicht. Darüber wäre noch viel zu sagen. Wir begnügen uns hier damit, festzustellen, daß der in¬ telligente Russe unseren guten Willen, bei ihm zu lernen, und seine Überlegen¬ heit, die wir ja anerkennen müßten, auch wirklich zuzugeben, entweder geradenwegs bestreitet, oder ihn als etwas an sich Unmögliches überhaupt außerhalb aller Diskussion läßt. Das ist eines seiner Mittel, sich seine geistige Überlegenheit zu sichern. Er fühlt indes, daß das nicht ausreicht, und er scheint darum auch keinen sonderlichen Wert hierauf zu legen. Wenigstens überwiegt bei weiten: eine andere Taktik, die sich durchweg bei den russischen Publizisten, Propheten und Weltverbesserern findet (bei kleineren wie Mereschkowsky, Andrejeff, Andrej Bjely artet sie direkt in Komik aus). Wollen wir vor ihr, dieser anderen Taktik, unseren Geist nicht einfach abstellen, so können wir sie für gar nichts anderes halten als für ein — vielleicht unbewußtes Mittel des intelligenten Russen dazu, sich seine geistige Überlegenheit über uns unter allen Umständen zu sichern: denn wir können doch bei den russischen Menschheitsbeglückern nicht geradezu den Willen annehmen, uns bei unserer bedauernswerten west¬ lichen Blindheit zu belassen und uns ein für allemal auszuschließen von der russischen Erleuchtung! Diese Taktik beruht nämlich darin, daß der russische Denker in der Bekämpfung des Westens plötzlich, meist ohne jeden Übergang, aus der Beurteilung der Wirklichkeit in das rein Mystische überzuspringen pflegt — er ist ja bekanntlich ein Virtuose darin, beiden Gebieten in gleicher Vollkommen¬ heit darstellerisch gerecht zu werden, hierin beruht doch die eigentlich originelle Note des russischen Schrifttums. Es werden also plötzlich durchaus nicht un¬ mittelbar einzusehende und oft nur ganz flüchtig angedeutete mystische Zu¬ sammenhänge von allerpersönlichster Färbung als Wahrheiten hingestellt, von deren Anerkennung — und sie sind meist so, daß wir sie gar nicht anerkennen können, ja nicht einmal begreifen, um was es sich handelt — man, wenn nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/208>, abgerufen am 29.06.2024.