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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der Krieg und der Neubau der höheren Schule

Das geistige Band also, das die einzelnen Fächer aneinander bindet*),
muß gefunden werden; das nicht nur Schulung des Geistes verbürgt, sondern
dem Vielerlei einen Sinn, dem ganzen Unterricht seine sittliche Berechtigung
gibt; ein Zentrum, auf das hin und von dem her die Stoffe der einzelnen
Fächer bezogen werden. Das humanistische Gymnasium behauptet, dieses Zentrum
in den alten Sprachen und der durch sie vermittelten formalen und historischen
Bildungseinheit zu besitzen; war schon bisher die zentrale Stellung der klassischen
Fächer nicht unbestritten, so erscheint es fraglich, ob das antike Bildungsideal
die jetzige große Zeitenwende überdauern kann**). Die Realanstalten aber besitzen
ein solches Zentrum auch formell nicht. Mathematik und Naturwissenschaften
einerseits, die neueren Sprachen anderseits halten sich die Wage. Beide Gruppen
find ungeeignet, den gesuchten Mittelpunkt abzugeben: die mathematisch-physi¬
kalischen Fächer sind einseitig verstandesmäßigen Charakters, und auf die französische
und englische Sprache und Kultur die Bildung eines deutschen Mannes auf¬
zubauen, würde doch in jedem Sinne exzentrisch erscheinen. Anderseits fehlt
der realistischen Anstalt der starke historische Bestandteil der humanistischen
Bildung und das um so mehr, je stärker der Wert der Physik für die moderne
Technik und des mündlichen Gebrauchs der Sprachen für das spätere "Fortkommen"
betont wird, je mehr mithin die Realanstalt zur reinen Gegenwartsschule wird***).

Nun wird ja niemand leugnen, daß wir auch nach dem Krieg und gerade
nach dem Krieg "Gegenwartsmenschen" nötig haben werden, Männer, die der
Gegenwart mit offenem Blick und geschulten Kräften gegenüberstehen. Aber
eben der Krieg hat uns gelehrt, daß nicht die äußere Hand- und Mund-
fertigkeit, sondern diejenige tiefere Schulung des Geistes und Willens, die wir
als Bildung bezeichnen, unsere Überlegenheit sichert. Eine solche ist ohne
historische Erfassung des Gegenwärtigen nicht möglich. Die Übung im geschicht¬
lichen Denken, im Verstehen einer historischen Situation aus sich heraus, die
dem Gymnasium als Nebenprodukt in den Schoß fällt, muß in den Realanstalten
erst erworben werden; in vielen Fällen, wo der Geschichtslehrer des Gymnasiums
schon vorbereiteten Baugrund findet, muß an jenen Schulen der Boden erst
geschaffen werden, will der Lehrer nicht in die Lust bauen. Eine Verstärkung
des geschichtlichen Unterrichts in den Realanstalten wurde auch vor dem Krieg
bereits gefordert.

Damit ist zugleich der Weg gewiesen, auf dem die Konzentration der
Unterrichtsfächer gesucht werden muß: das Verständnis der Gegenwart aus der





*) Vergleiche meine Bemerkungen in den Grenzboten 1913 IV Seite 189 bis 192.
*
') Mancher Gymnastalmann scheint in diesen Tagen an seinen Überzeugungen irre zu
werden. Bezeichnend ist die Absage, die der Gymnasialdirektor Heeren aus dem Schützen¬
graben vor Reims dem klassischen Ideal zuteil werden läßt (Monatsschrift für höhere
Schulen XIV. 229 ff.).
***) Die Schrift des Direktors Karl Knabe "Über den deutschen Unterricht an Neal-
anstalten" (Marburg 1913) enthält hierzu treffende Bemerkungen.
Der Krieg und der Neubau der höheren Schule

Das geistige Band also, das die einzelnen Fächer aneinander bindet*),
muß gefunden werden; das nicht nur Schulung des Geistes verbürgt, sondern
dem Vielerlei einen Sinn, dem ganzen Unterricht seine sittliche Berechtigung
gibt; ein Zentrum, auf das hin und von dem her die Stoffe der einzelnen
Fächer bezogen werden. Das humanistische Gymnasium behauptet, dieses Zentrum
in den alten Sprachen und der durch sie vermittelten formalen und historischen
Bildungseinheit zu besitzen; war schon bisher die zentrale Stellung der klassischen
Fächer nicht unbestritten, so erscheint es fraglich, ob das antike Bildungsideal
die jetzige große Zeitenwende überdauern kann**). Die Realanstalten aber besitzen
ein solches Zentrum auch formell nicht. Mathematik und Naturwissenschaften
einerseits, die neueren Sprachen anderseits halten sich die Wage. Beide Gruppen
find ungeeignet, den gesuchten Mittelpunkt abzugeben: die mathematisch-physi¬
kalischen Fächer sind einseitig verstandesmäßigen Charakters, und auf die französische
und englische Sprache und Kultur die Bildung eines deutschen Mannes auf¬
zubauen, würde doch in jedem Sinne exzentrisch erscheinen. Anderseits fehlt
der realistischen Anstalt der starke historische Bestandteil der humanistischen
Bildung und das um so mehr, je stärker der Wert der Physik für die moderne
Technik und des mündlichen Gebrauchs der Sprachen für das spätere „Fortkommen"
betont wird, je mehr mithin die Realanstalt zur reinen Gegenwartsschule wird***).

Nun wird ja niemand leugnen, daß wir auch nach dem Krieg und gerade
nach dem Krieg „Gegenwartsmenschen" nötig haben werden, Männer, die der
Gegenwart mit offenem Blick und geschulten Kräften gegenüberstehen. Aber
eben der Krieg hat uns gelehrt, daß nicht die äußere Hand- und Mund-
fertigkeit, sondern diejenige tiefere Schulung des Geistes und Willens, die wir
als Bildung bezeichnen, unsere Überlegenheit sichert. Eine solche ist ohne
historische Erfassung des Gegenwärtigen nicht möglich. Die Übung im geschicht¬
lichen Denken, im Verstehen einer historischen Situation aus sich heraus, die
dem Gymnasium als Nebenprodukt in den Schoß fällt, muß in den Realanstalten
erst erworben werden; in vielen Fällen, wo der Geschichtslehrer des Gymnasiums
schon vorbereiteten Baugrund findet, muß an jenen Schulen der Boden erst
geschaffen werden, will der Lehrer nicht in die Lust bauen. Eine Verstärkung
des geschichtlichen Unterrichts in den Realanstalten wurde auch vor dem Krieg
bereits gefordert.

Damit ist zugleich der Weg gewiesen, auf dem die Konzentration der
Unterrichtsfächer gesucht werden muß: das Verständnis der Gegenwart aus der





*) Vergleiche meine Bemerkungen in den Grenzboten 1913 IV Seite 189 bis 192.
*
') Mancher Gymnastalmann scheint in diesen Tagen an seinen Überzeugungen irre zu
werden. Bezeichnend ist die Absage, die der Gymnasialdirektor Heeren aus dem Schützen¬
graben vor Reims dem klassischen Ideal zuteil werden läßt (Monatsschrift für höhere
Schulen XIV. 229 ff.).
***) Die Schrift des Direktors Karl Knabe „Über den deutschen Unterricht an Neal-
anstalten" (Marburg 1913) enthält hierzu treffende Bemerkungen.
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[0153] Der Krieg und der Neubau der höheren Schule Das geistige Band also, das die einzelnen Fächer aneinander bindet*), muß gefunden werden; das nicht nur Schulung des Geistes verbürgt, sondern dem Vielerlei einen Sinn, dem ganzen Unterricht seine sittliche Berechtigung gibt; ein Zentrum, auf das hin und von dem her die Stoffe der einzelnen Fächer bezogen werden. Das humanistische Gymnasium behauptet, dieses Zentrum in den alten Sprachen und der durch sie vermittelten formalen und historischen Bildungseinheit zu besitzen; war schon bisher die zentrale Stellung der klassischen Fächer nicht unbestritten, so erscheint es fraglich, ob das antike Bildungsideal die jetzige große Zeitenwende überdauern kann**). Die Realanstalten aber besitzen ein solches Zentrum auch formell nicht. Mathematik und Naturwissenschaften einerseits, die neueren Sprachen anderseits halten sich die Wage. Beide Gruppen find ungeeignet, den gesuchten Mittelpunkt abzugeben: die mathematisch-physi¬ kalischen Fächer sind einseitig verstandesmäßigen Charakters, und auf die französische und englische Sprache und Kultur die Bildung eines deutschen Mannes auf¬ zubauen, würde doch in jedem Sinne exzentrisch erscheinen. Anderseits fehlt der realistischen Anstalt der starke historische Bestandteil der humanistischen Bildung und das um so mehr, je stärker der Wert der Physik für die moderne Technik und des mündlichen Gebrauchs der Sprachen für das spätere „Fortkommen" betont wird, je mehr mithin die Realanstalt zur reinen Gegenwartsschule wird***). Nun wird ja niemand leugnen, daß wir auch nach dem Krieg und gerade nach dem Krieg „Gegenwartsmenschen" nötig haben werden, Männer, die der Gegenwart mit offenem Blick und geschulten Kräften gegenüberstehen. Aber eben der Krieg hat uns gelehrt, daß nicht die äußere Hand- und Mund- fertigkeit, sondern diejenige tiefere Schulung des Geistes und Willens, die wir als Bildung bezeichnen, unsere Überlegenheit sichert. Eine solche ist ohne historische Erfassung des Gegenwärtigen nicht möglich. Die Übung im geschicht¬ lichen Denken, im Verstehen einer historischen Situation aus sich heraus, die dem Gymnasium als Nebenprodukt in den Schoß fällt, muß in den Realanstalten erst erworben werden; in vielen Fällen, wo der Geschichtslehrer des Gymnasiums schon vorbereiteten Baugrund findet, muß an jenen Schulen der Boden erst geschaffen werden, will der Lehrer nicht in die Lust bauen. Eine Verstärkung des geschichtlichen Unterrichts in den Realanstalten wurde auch vor dem Krieg bereits gefordert. Damit ist zugleich der Weg gewiesen, auf dem die Konzentration der Unterrichtsfächer gesucht werden muß: das Verständnis der Gegenwart aus der *) Vergleiche meine Bemerkungen in den Grenzboten 1913 IV Seite 189 bis 192. * ') Mancher Gymnastalmann scheint in diesen Tagen an seinen Überzeugungen irre zu werden. Bezeichnend ist die Absage, die der Gymnasialdirektor Heeren aus dem Schützen¬ graben vor Reims dem klassischen Ideal zuteil werden läßt (Monatsschrift für höhere Schulen XIV. 229 ff.). ***) Die Schrift des Direktors Karl Knabe „Über den deutschen Unterricht an Neal- anstalten" (Marburg 1913) enthält hierzu treffende Bemerkungen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/153>, abgerufen am 01.10.2024.