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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Belgiens Verfassung und Staatsleben

demonstrationen und Aufstände unter Begünstigung des Ministeriums dafür
gesorgt worden, daß sich die für eine Verfassungsreviston erforderliche Zweidrittel¬
mehrheit zusammenfand. Dann hatte man den sozialistischen Zukunftsstaat in
seiner reinsten Form. Denn das allgemeine Stimmrecht bedeutet für Belgien
einfach die Herrschaft der Sozialdemokratie in der zweiten Kammer, und die
Mehrheit der zweiten Kammer die Herrschaft im Staate. Dahin war man
also mit dem parlamentarischen System gekommen, daß der bei jeder Neuwahl
mögliche Wechsel der Mehrheit die soziale Revolution bedeutete.

An dieser Tatsache konnte auch der Umstand nichts ändern, daß die
katholische Mehrheit unter dem Drucke des Sozialismus sich endlich zur Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht, wenn auch in sehr verklausulierten Formen, hatte
verstehen müssen. Denn der Einfluß der wenigen Angehörigen der höheren
Klassen auf das Heer war viel zu gering. Und außerdem wäre ja die Auf¬
forderung zum Umsturze von oben, durch das sozialistische Ministerium, erfolgt.

Belgien stand vor der sozialen Revolution. Gleichzeitig vollzog sich die
nationale Zersetzung.

Zur Zeit der holländischen Herrschaft und des Abfalls war unter den
allein maßgebenden gebildeten Klassen französische Sprache und Bildung auch
in den vlämischen Landesteilen Mode. Belgien war ein französischer Staat.
Vergebens suchte Jan Frans Willens (1793 bis 1846) die vlämische Sprache
wieder zu beleben. Er verlor sogar 1831 als Anhänger der Holländer sein
Amt in Antwerpen. Aber unermüdlich war er weiter für sein Volkstum tätig.
So wurde er der Schöpfer der vlämischen Bewegung mit dem Ziele, die vlämische
Sprache zur ebenbürtigen Schrift-, Volks- und Staatssprache der Mehrheit der
Bewohner Belgiens zu erheben. Es entstand eine reiche vlämische Literatur,
von der in Deutschland namentlich die geschichtlichen Romane von Conscience
aus Flanderns großer Vergangenheit bekannt geworden sein dürften.
Seit dem Sprachkongresse von 1849 war eine gemeinsame niederländische
Schriftsprache festgestellt, während holländisch und vlämisch sich in der Aus¬
sprache weniger voneinander unterschieden als hannöversches und thüringisches
Deutsch, zumal auch die einzelnen Gegenden des holländischen und vlämischen
Sprachgebietes Verschiedenheiten aufweisen.

Schrittweise wurden auch gegenüber dem Staate Erfolge errungen. M
entstand keine besondere vlämische Partei. Im Gegenteil rühmten es die
Vlamen als einen Vorzug ihrer Bewegung, daß sie in jeder Partei von den
Katholiken bis zu den Sozialisten -- am wenigsten wohl unter den hauptsächlich
aus den wallonischen Landschaften stammenden Liberalen -- Anhänger besäßen,
und daß jede Partei mit ihnen rechnen müsse. Aber es war ein Stellungs¬
kampf, wobei eine Stellung nach der andern errungen werden mußte. Die
beiden ersten Könige verstanden nicht einmal die Sprache der Mehrheit der
Belgier. König Albert war der erste König, der auch des Vlämischen mächtig
war. Von den vier Universitäten haben die Vlamen bis zum Untergange des-


Belgiens Verfassung und Staatsleben

demonstrationen und Aufstände unter Begünstigung des Ministeriums dafür
gesorgt worden, daß sich die für eine Verfassungsreviston erforderliche Zweidrittel¬
mehrheit zusammenfand. Dann hatte man den sozialistischen Zukunftsstaat in
seiner reinsten Form. Denn das allgemeine Stimmrecht bedeutet für Belgien
einfach die Herrschaft der Sozialdemokratie in der zweiten Kammer, und die
Mehrheit der zweiten Kammer die Herrschaft im Staate. Dahin war man
also mit dem parlamentarischen System gekommen, daß der bei jeder Neuwahl
mögliche Wechsel der Mehrheit die soziale Revolution bedeutete.

An dieser Tatsache konnte auch der Umstand nichts ändern, daß die
katholische Mehrheit unter dem Drucke des Sozialismus sich endlich zur Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht, wenn auch in sehr verklausulierten Formen, hatte
verstehen müssen. Denn der Einfluß der wenigen Angehörigen der höheren
Klassen auf das Heer war viel zu gering. Und außerdem wäre ja die Auf¬
forderung zum Umsturze von oben, durch das sozialistische Ministerium, erfolgt.

Belgien stand vor der sozialen Revolution. Gleichzeitig vollzog sich die
nationale Zersetzung.

Zur Zeit der holländischen Herrschaft und des Abfalls war unter den
allein maßgebenden gebildeten Klassen französische Sprache und Bildung auch
in den vlämischen Landesteilen Mode. Belgien war ein französischer Staat.
Vergebens suchte Jan Frans Willens (1793 bis 1846) die vlämische Sprache
wieder zu beleben. Er verlor sogar 1831 als Anhänger der Holländer sein
Amt in Antwerpen. Aber unermüdlich war er weiter für sein Volkstum tätig.
So wurde er der Schöpfer der vlämischen Bewegung mit dem Ziele, die vlämische
Sprache zur ebenbürtigen Schrift-, Volks- und Staatssprache der Mehrheit der
Bewohner Belgiens zu erheben. Es entstand eine reiche vlämische Literatur,
von der in Deutschland namentlich die geschichtlichen Romane von Conscience
aus Flanderns großer Vergangenheit bekannt geworden sein dürften.
Seit dem Sprachkongresse von 1849 war eine gemeinsame niederländische
Schriftsprache festgestellt, während holländisch und vlämisch sich in der Aus¬
sprache weniger voneinander unterschieden als hannöversches und thüringisches
Deutsch, zumal auch die einzelnen Gegenden des holländischen und vlämischen
Sprachgebietes Verschiedenheiten aufweisen.

Schrittweise wurden auch gegenüber dem Staate Erfolge errungen. M
entstand keine besondere vlämische Partei. Im Gegenteil rühmten es die
Vlamen als einen Vorzug ihrer Bewegung, daß sie in jeder Partei von den
Katholiken bis zu den Sozialisten — am wenigsten wohl unter den hauptsächlich
aus den wallonischen Landschaften stammenden Liberalen — Anhänger besäßen,
und daß jede Partei mit ihnen rechnen müsse. Aber es war ein Stellungs¬
kampf, wobei eine Stellung nach der andern errungen werden mußte. Die
beiden ersten Könige verstanden nicht einmal die Sprache der Mehrheit der
Belgier. König Albert war der erste König, der auch des Vlämischen mächtig
war. Von den vier Universitäten haben die Vlamen bis zum Untergange des-


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[0416] Belgiens Verfassung und Staatsleben demonstrationen und Aufstände unter Begünstigung des Ministeriums dafür gesorgt worden, daß sich die für eine Verfassungsreviston erforderliche Zweidrittel¬ mehrheit zusammenfand. Dann hatte man den sozialistischen Zukunftsstaat in seiner reinsten Form. Denn das allgemeine Stimmrecht bedeutet für Belgien einfach die Herrschaft der Sozialdemokratie in der zweiten Kammer, und die Mehrheit der zweiten Kammer die Herrschaft im Staate. Dahin war man also mit dem parlamentarischen System gekommen, daß der bei jeder Neuwahl mögliche Wechsel der Mehrheit die soziale Revolution bedeutete. An dieser Tatsache konnte auch der Umstand nichts ändern, daß die katholische Mehrheit unter dem Drucke des Sozialismus sich endlich zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, wenn auch in sehr verklausulierten Formen, hatte verstehen müssen. Denn der Einfluß der wenigen Angehörigen der höheren Klassen auf das Heer war viel zu gering. Und außerdem wäre ja die Auf¬ forderung zum Umsturze von oben, durch das sozialistische Ministerium, erfolgt. Belgien stand vor der sozialen Revolution. Gleichzeitig vollzog sich die nationale Zersetzung. Zur Zeit der holländischen Herrschaft und des Abfalls war unter den allein maßgebenden gebildeten Klassen französische Sprache und Bildung auch in den vlämischen Landesteilen Mode. Belgien war ein französischer Staat. Vergebens suchte Jan Frans Willens (1793 bis 1846) die vlämische Sprache wieder zu beleben. Er verlor sogar 1831 als Anhänger der Holländer sein Amt in Antwerpen. Aber unermüdlich war er weiter für sein Volkstum tätig. So wurde er der Schöpfer der vlämischen Bewegung mit dem Ziele, die vlämische Sprache zur ebenbürtigen Schrift-, Volks- und Staatssprache der Mehrheit der Bewohner Belgiens zu erheben. Es entstand eine reiche vlämische Literatur, von der in Deutschland namentlich die geschichtlichen Romane von Conscience aus Flanderns großer Vergangenheit bekannt geworden sein dürften. Seit dem Sprachkongresse von 1849 war eine gemeinsame niederländische Schriftsprache festgestellt, während holländisch und vlämisch sich in der Aus¬ sprache weniger voneinander unterschieden als hannöversches und thüringisches Deutsch, zumal auch die einzelnen Gegenden des holländischen und vlämischen Sprachgebietes Verschiedenheiten aufweisen. Schrittweise wurden auch gegenüber dem Staate Erfolge errungen. M entstand keine besondere vlämische Partei. Im Gegenteil rühmten es die Vlamen als einen Vorzug ihrer Bewegung, daß sie in jeder Partei von den Katholiken bis zu den Sozialisten — am wenigsten wohl unter den hauptsächlich aus den wallonischen Landschaften stammenden Liberalen — Anhänger besäßen, und daß jede Partei mit ihnen rechnen müsse. Aber es war ein Stellungs¬ kampf, wobei eine Stellung nach der andern errungen werden mußte. Die beiden ersten Könige verstanden nicht einmal die Sprache der Mehrheit der Belgier. König Albert war der erste König, der auch des Vlämischen mächtig war. Von den vier Universitäten haben die Vlamen bis zum Untergange des-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/416>, abgerufen am 03.07.2024.