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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Belgiens Verfassung und Staatsleben

Befugnis des Königs, sich über die Köpfe der Minister hinweg mit einer Vor¬
lage unmittelbar an das Volk zu wenden, die Kronrechte zu verstärken.
Hinsichtlich der Stellung des Königs ließ also die Verfassungsrevision alles
beim alten.

Der Erfolg der Verfassungsrevision war zunächst der, daß die Sozial¬
demokratie in der Volksvertretung ihren Einzug hielt, die Alleinherrschaft der
Bourgeoisie war also gebrochen. Vermöge des Pluralstimmrechts hatte sie sich
aber immerhin noch eine erhebliche Mehrheit gesichert. Nun war aber die
Bourgeoisie selbst in die beiden Parteien der Katholiken und Liberalen gespalten.
Da die Katholiken vorwiegend aus den ländlichen vlämischen, die Liberalen
aus den industriellen wallonischen Gegenden stammten, brachte es die Natur
der Dinge mit sich, daß die Sozialdemokraten ihre Erfolge wesentlich auf Kosten
der Liberalen errangen. Aber gerade darum mußten die Liberalen mit den
Sozialdemokraten in ein Bündnis treten. Zunächst hatten die Katholiken noch
die Mehrheit und behaupteten diese die beiden ersten Jahrzehnte hindurch, wenn
auch in schwankendem Umfange, also länger, als es sonst im Schaukelspiele der
beiden Parteien üblich gewesen war. Die geschwächten Liberalen konnten nicht
daran denken, aus eigener Kraft wieder ans Ruder zu gelangen, mußten sich
also gerade mit der Partei, durch die sie so heruntergekommen waren, mit den
Sozialdemokraten, verständigen. Liberale und Sozialdemokraten bildeten ge¬
meinsam die Opposition, die, wenn es das klerikale Parteiregiment zu toll trieb,
gelegentlich auch wohl nach niederländischer Weise zu Straßendemonstrationen
unier Sympathie der liberalen Bürgermeister und Polizeiverwalter ihre Zuflucht
nahm.

Freilich, einen Siegespreis bedang sich die Sozialdemokratie von den
verbündeten Liberalen aus, falls es ihnen gelingen sollte, gemeinsam die Mehrheit,
die Einführung des allgemeinen Stimmrechts zu erlangen. Die Liberalen, an
sich unfähig, allein das klerikale Regiment zu stürzen, mußten auf diese selbst-
mörderische Bedingung eingehen, deren Erfüllung sie in erster Linie von der
Bildfläche verschwinden lassen würde. Und der Sturz der katholischen Mehrheit
lag gar nicht außerhalb der Möglichkeit. Im Jahre 1911 zählte das Abgeordneten¬
haus 86 Katholiken, 43 Liberale, 35 Sozialisten. 1 christlichen Demokraten, der
Senat 63 Katholiken, 39 Liberale, 8 Sozialisten, seit 1912 das Abgeordnetenhaus
101 Katholiken, 44 Liberale, 39 Sozialisten, 2 christliche Demokraten, seit
1913 der Senat 70 Katholiken, 35 Liberale. 15 Sozialisten*). Die katholische
Mehrheit der zweiten Kammer, die 1911 nur noch sieben Stimmen betrug, hat sich
also seitdem wieder auf sechzehn verstärkt. Aber ein Wechsel der Mehrheit lag
keineswegs außerhalb des Bereichs naher Möglichkeit.

Stellte aber erst einmal eine Mehrheit der Linken, unter der die Sozialisten
die Führung gehabt hätten, die neue Regierung, dann wäre auch durch Straßen-



*) Angaben des Gothaer Hofkalenders 1911 und 1915.
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Belgiens Verfassung und Staatsleben

Befugnis des Königs, sich über die Köpfe der Minister hinweg mit einer Vor¬
lage unmittelbar an das Volk zu wenden, die Kronrechte zu verstärken.
Hinsichtlich der Stellung des Königs ließ also die Verfassungsrevision alles
beim alten.

Der Erfolg der Verfassungsrevision war zunächst der, daß die Sozial¬
demokratie in der Volksvertretung ihren Einzug hielt, die Alleinherrschaft der
Bourgeoisie war also gebrochen. Vermöge des Pluralstimmrechts hatte sie sich
aber immerhin noch eine erhebliche Mehrheit gesichert. Nun war aber die
Bourgeoisie selbst in die beiden Parteien der Katholiken und Liberalen gespalten.
Da die Katholiken vorwiegend aus den ländlichen vlämischen, die Liberalen
aus den industriellen wallonischen Gegenden stammten, brachte es die Natur
der Dinge mit sich, daß die Sozialdemokraten ihre Erfolge wesentlich auf Kosten
der Liberalen errangen. Aber gerade darum mußten die Liberalen mit den
Sozialdemokraten in ein Bündnis treten. Zunächst hatten die Katholiken noch
die Mehrheit und behaupteten diese die beiden ersten Jahrzehnte hindurch, wenn
auch in schwankendem Umfange, also länger, als es sonst im Schaukelspiele der
beiden Parteien üblich gewesen war. Die geschwächten Liberalen konnten nicht
daran denken, aus eigener Kraft wieder ans Ruder zu gelangen, mußten sich
also gerade mit der Partei, durch die sie so heruntergekommen waren, mit den
Sozialdemokraten, verständigen. Liberale und Sozialdemokraten bildeten ge¬
meinsam die Opposition, die, wenn es das klerikale Parteiregiment zu toll trieb,
gelegentlich auch wohl nach niederländischer Weise zu Straßendemonstrationen
unier Sympathie der liberalen Bürgermeister und Polizeiverwalter ihre Zuflucht
nahm.

Freilich, einen Siegespreis bedang sich die Sozialdemokratie von den
verbündeten Liberalen aus, falls es ihnen gelingen sollte, gemeinsam die Mehrheit,
die Einführung des allgemeinen Stimmrechts zu erlangen. Die Liberalen, an
sich unfähig, allein das klerikale Regiment zu stürzen, mußten auf diese selbst-
mörderische Bedingung eingehen, deren Erfüllung sie in erster Linie von der
Bildfläche verschwinden lassen würde. Und der Sturz der katholischen Mehrheit
lag gar nicht außerhalb der Möglichkeit. Im Jahre 1911 zählte das Abgeordneten¬
haus 86 Katholiken, 43 Liberale, 35 Sozialisten. 1 christlichen Demokraten, der
Senat 63 Katholiken, 39 Liberale, 8 Sozialisten, seit 1912 das Abgeordnetenhaus
101 Katholiken, 44 Liberale, 39 Sozialisten, 2 christliche Demokraten, seit
1913 der Senat 70 Katholiken, 35 Liberale. 15 Sozialisten*). Die katholische
Mehrheit der zweiten Kammer, die 1911 nur noch sieben Stimmen betrug, hat sich
also seitdem wieder auf sechzehn verstärkt. Aber ein Wechsel der Mehrheit lag
keineswegs außerhalb des Bereichs naher Möglichkeit.

Stellte aber erst einmal eine Mehrheit der Linken, unter der die Sozialisten
die Führung gehabt hätten, die neue Regierung, dann wäre auch durch Straßen-



*) Angaben des Gothaer Hofkalenders 1911 und 1915.
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[0415] Belgiens Verfassung und Staatsleben Befugnis des Königs, sich über die Köpfe der Minister hinweg mit einer Vor¬ lage unmittelbar an das Volk zu wenden, die Kronrechte zu verstärken. Hinsichtlich der Stellung des Königs ließ also die Verfassungsrevision alles beim alten. Der Erfolg der Verfassungsrevision war zunächst der, daß die Sozial¬ demokratie in der Volksvertretung ihren Einzug hielt, die Alleinherrschaft der Bourgeoisie war also gebrochen. Vermöge des Pluralstimmrechts hatte sie sich aber immerhin noch eine erhebliche Mehrheit gesichert. Nun war aber die Bourgeoisie selbst in die beiden Parteien der Katholiken und Liberalen gespalten. Da die Katholiken vorwiegend aus den ländlichen vlämischen, die Liberalen aus den industriellen wallonischen Gegenden stammten, brachte es die Natur der Dinge mit sich, daß die Sozialdemokraten ihre Erfolge wesentlich auf Kosten der Liberalen errangen. Aber gerade darum mußten die Liberalen mit den Sozialdemokraten in ein Bündnis treten. Zunächst hatten die Katholiken noch die Mehrheit und behaupteten diese die beiden ersten Jahrzehnte hindurch, wenn auch in schwankendem Umfange, also länger, als es sonst im Schaukelspiele der beiden Parteien üblich gewesen war. Die geschwächten Liberalen konnten nicht daran denken, aus eigener Kraft wieder ans Ruder zu gelangen, mußten sich also gerade mit der Partei, durch die sie so heruntergekommen waren, mit den Sozialdemokraten, verständigen. Liberale und Sozialdemokraten bildeten ge¬ meinsam die Opposition, die, wenn es das klerikale Parteiregiment zu toll trieb, gelegentlich auch wohl nach niederländischer Weise zu Straßendemonstrationen unier Sympathie der liberalen Bürgermeister und Polizeiverwalter ihre Zuflucht nahm. Freilich, einen Siegespreis bedang sich die Sozialdemokratie von den verbündeten Liberalen aus, falls es ihnen gelingen sollte, gemeinsam die Mehrheit, die Einführung des allgemeinen Stimmrechts zu erlangen. Die Liberalen, an sich unfähig, allein das klerikale Regiment zu stürzen, mußten auf diese selbst- mörderische Bedingung eingehen, deren Erfüllung sie in erster Linie von der Bildfläche verschwinden lassen würde. Und der Sturz der katholischen Mehrheit lag gar nicht außerhalb der Möglichkeit. Im Jahre 1911 zählte das Abgeordneten¬ haus 86 Katholiken, 43 Liberale, 35 Sozialisten. 1 christlichen Demokraten, der Senat 63 Katholiken, 39 Liberale, 8 Sozialisten, seit 1912 das Abgeordnetenhaus 101 Katholiken, 44 Liberale, 39 Sozialisten, 2 christliche Demokraten, seit 1913 der Senat 70 Katholiken, 35 Liberale. 15 Sozialisten*). Die katholische Mehrheit der zweiten Kammer, die 1911 nur noch sieben Stimmen betrug, hat sich also seitdem wieder auf sechzehn verstärkt. Aber ein Wechsel der Mehrheit lag keineswegs außerhalb des Bereichs naher Möglichkeit. Stellte aber erst einmal eine Mehrheit der Linken, unter der die Sozialisten die Führung gehabt hätten, die neue Regierung, dann wäre auch durch Straßen- *) Angaben des Gothaer Hofkalenders 1911 und 1915. 26'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/415>, abgerufen am 01.07.2024.