Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Krieg umHerreisen, die Provinzstädte besuchen, frei wie seit langem kein Zar es gewagt War es der Haß gegen einen historischen Erbfeind, der alle diese widerstrebenden Ich lese in einer russischen Zeitschrift in einem Artikel, der die bisherigen "Wir irren uns kaum, wenn wir sagen, daß unsere Beziehungen zu den Die Gedankengänge, die wir hier finden, zeichnen sich durch eine gewisse Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Krieg umHerreisen, die Provinzstädte besuchen, frei wie seit langem kein Zar es gewagt War es der Haß gegen einen historischen Erbfeind, der alle diese widerstrebenden Ich lese in einer russischen Zeitschrift in einem Artikel, der die bisherigen „Wir irren uns kaum, wenn wir sagen, daß unsere Beziehungen zu den Die Gedankengänge, die wir hier finden, zeichnen sich durch eine gewisse <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0398" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323937"/> <fw type="header" place="top"> Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Krieg</fw><lb/> <p xml:id="ID_1291" prev="#ID_1290"> umHerreisen, die Provinzstädte besuchen, frei wie seit langem kein Zar es gewagt<lb/> hatte, mit seinem Volke verkehrend. In Moskau im Kreml, dem althistorischer<lb/> Zarenpalaste, nimmt er die Huldigungen der begeisterten Massen entgegen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1292"> War es der Haß gegen einen historischen Erbfeind, der alle diese widerstrebenden<lb/> Glieder zusammenschweißte? Man möchte es annehmen, wenn man die russischen<lb/> Zeitungen liest, in denen die Vernichtung alles Deutschen im Lande, des deutschen<lb/> Kolonisten, des deutschen Gutsverwalters, des deutschen Handwerkers und Werk¬<lb/> meisters, des deutschen Kaufmanns und Fabrikherrn immer wieder mit neuer<lb/> Wucht verlangt wird. Man möchte es glauben, wenn man auf die Maßnahmen<lb/> der russischen Regierung zurückblickt, die die deutschen Unternehmungen liquidiert,<lb/> die deutschen Ansiedler von ihrer seit Katharinas Zeiten angestammten Scholle<lb/> vertrieben hat, sie als Bettler nach Sibirien und in die östlichen Gouvernements<lb/> jagend, wenn man sieht, wie Rußland jetzt mit eiserner Folgerichtigkeit daran<lb/> geht, die deutsche Bevölkerung der Ostseeprovinzen ein für allemal ihres deutschen<lb/> Charakters zu entkleiden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1293"> Ich lese in einer russischen Zeitschrift in einem Artikel, der die bisherigen<lb/> Beziehungen Deutschlands zu Rußland behandelt, folgende Worte:</p><lb/> <p xml:id="ID_1294"> „Wir irren uns kaum, wenn wir sagen, daß unsere Beziehungen zu den<lb/> Deutschen niemals besonders gut gewesen sind und daß der gegenwärtige Krieg<lb/> mit Deutschland und Österreich der lange und ständige Traum aller russischen<lb/> Gesellschaftsschichten gewesen ist, denn niemand hat Rußland soviel Böses<lb/> zugefügt, wie diese beiden Reiche einzeln oder getrennt, deren anmaßende<lb/> Untertanen überall im Antlitz der russischen Erde sich breit machten. Es gab<lb/> einmal eine Zeit, wo die teutonischen Sprößlinge bei uns für irgendwelche<lb/> Übermenschen gehalten wurden, die sich einer Ausnahmestellung erfreuten, unter<lb/> dem besonderen Schutze der Regierung standen ... ja im Volk hatte sich die<lb/> Überzeugung festgesetzt: .Der Deutsche kann alles/ Sehr drastisch hat diese<lb/> Lage der bekannte kaukasische Held A. P. Jermolow in seiner Unterhaltung<lb/> mit dem Kaiser Nikolaus dem Ersten gekennzeichnet, der ihn für seine militärische<lb/> Verdienste belohnen wollte und von Jermolow die Antwort erhielt: Majestät,<lb/> bitte machen Sie mich zu einem Deutschen." —</p><lb/> <p xml:id="ID_1295" next="#ID_1296"> Die Gedankengänge, die wir hier finden, zeichnen sich durch eine gewisse<lb/> Einfachheit des Denkens aus, und sind vielleicht gerade deshalb ein Ausdruck<lb/> des Denkens und Fühlens breiter russischer Volksschichten. Der Deutsche hat<lb/> in Rußland Erfolg gehabt und er hat sich seine Stammeseigenart bewahrt, ist<lb/> nicht wie in anderen Ländern in das ihn umgebende Milieu aufgegangen —<lb/> beides aber sind Umstände, die ihn gewiß dem Russen nicht als einen angenehmen<lb/> Gast haben empfinden lassen. Der Unterschied in der Wesensart des Deutschen<lb/> und Russen ist oft betont worden — die Willensnatur des Deutschen im Gegensatz<lb/> zur Gefühlsnatur des Slawen ist von russischen Dichtern mit Vorliebe hervor¬<lb/> gehoben worden. Wir dürfen uns auch nicht verhehlen, daß der Herr (der<lb/> Deutsche war in Rußland vielfach der Herr) bei seinen Untergebenen niemals</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0398]
Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Krieg
umHerreisen, die Provinzstädte besuchen, frei wie seit langem kein Zar es gewagt
hatte, mit seinem Volke verkehrend. In Moskau im Kreml, dem althistorischer
Zarenpalaste, nimmt er die Huldigungen der begeisterten Massen entgegen.
War es der Haß gegen einen historischen Erbfeind, der alle diese widerstrebenden
Glieder zusammenschweißte? Man möchte es annehmen, wenn man die russischen
Zeitungen liest, in denen die Vernichtung alles Deutschen im Lande, des deutschen
Kolonisten, des deutschen Gutsverwalters, des deutschen Handwerkers und Werk¬
meisters, des deutschen Kaufmanns und Fabrikherrn immer wieder mit neuer
Wucht verlangt wird. Man möchte es glauben, wenn man auf die Maßnahmen
der russischen Regierung zurückblickt, die die deutschen Unternehmungen liquidiert,
die deutschen Ansiedler von ihrer seit Katharinas Zeiten angestammten Scholle
vertrieben hat, sie als Bettler nach Sibirien und in die östlichen Gouvernements
jagend, wenn man sieht, wie Rußland jetzt mit eiserner Folgerichtigkeit daran
geht, die deutsche Bevölkerung der Ostseeprovinzen ein für allemal ihres deutschen
Charakters zu entkleiden.
Ich lese in einer russischen Zeitschrift in einem Artikel, der die bisherigen
Beziehungen Deutschlands zu Rußland behandelt, folgende Worte:
„Wir irren uns kaum, wenn wir sagen, daß unsere Beziehungen zu den
Deutschen niemals besonders gut gewesen sind und daß der gegenwärtige Krieg
mit Deutschland und Österreich der lange und ständige Traum aller russischen
Gesellschaftsschichten gewesen ist, denn niemand hat Rußland soviel Böses
zugefügt, wie diese beiden Reiche einzeln oder getrennt, deren anmaßende
Untertanen überall im Antlitz der russischen Erde sich breit machten. Es gab
einmal eine Zeit, wo die teutonischen Sprößlinge bei uns für irgendwelche
Übermenschen gehalten wurden, die sich einer Ausnahmestellung erfreuten, unter
dem besonderen Schutze der Regierung standen ... ja im Volk hatte sich die
Überzeugung festgesetzt: .Der Deutsche kann alles/ Sehr drastisch hat diese
Lage der bekannte kaukasische Held A. P. Jermolow in seiner Unterhaltung
mit dem Kaiser Nikolaus dem Ersten gekennzeichnet, der ihn für seine militärische
Verdienste belohnen wollte und von Jermolow die Antwort erhielt: Majestät,
bitte machen Sie mich zu einem Deutschen." —
Die Gedankengänge, die wir hier finden, zeichnen sich durch eine gewisse
Einfachheit des Denkens aus, und sind vielleicht gerade deshalb ein Ausdruck
des Denkens und Fühlens breiter russischer Volksschichten. Der Deutsche hat
in Rußland Erfolg gehabt und er hat sich seine Stammeseigenart bewahrt, ist
nicht wie in anderen Ländern in das ihn umgebende Milieu aufgegangen —
beides aber sind Umstände, die ihn gewiß dem Russen nicht als einen angenehmen
Gast haben empfinden lassen. Der Unterschied in der Wesensart des Deutschen
und Russen ist oft betont worden — die Willensnatur des Deutschen im Gegensatz
zur Gefühlsnatur des Slawen ist von russischen Dichtern mit Vorliebe hervor¬
gehoben worden. Wir dürfen uns auch nicht verhehlen, daß der Herr (der
Deutsche war in Rußland vielfach der Herr) bei seinen Untergebenen niemals
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