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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Italienische oder slawische Jrredenta?

Auch wenn das Dreieck Jstrien halbiert und Italien nur die westliche
Hälfte in Anspruch nehmen würde -- eine praktisch unmögliche Teilung --,
stünden etwa 130 000 Italiener 100 000 Slawen gegenüber.

In Dalmatien schließlich machen die Italiener nicht einmal 3 Prozent
der Bewohner aus; sie finden sich hier nur in den Städten Zara, Spalato
und Cattaro. Trotzdem nehmen extreme Nationalisten wie Corradini und
Sighele auch dieses ehemals von Venedig beherrschte Gebiet in Anspruch: wenn
das ganze Litorale Österreich-Ungarns und Valona, der "Schlüssel der Adria",
in Italiens Händen sei, dann erst werde die Adria wieder sein, was sie früher
gewesen ist: ein italienisches Binnenmeer.

Dem politischen Kopf muß sich die Frage erheben, ob die vollkommene
Erfüllung dieser Wünsche mit all ihren Folgen in Italiens wohlverstandenen
Interesse liegt. Er wird nicht anerkennen, daß eng nationale Wünsche auch
dann erfüllt werden müssen, wenn dadurch die Zukunft des Gesamtvolkes im
Ringen der Nationen gefährdet wird.

Soviel ist klar, daß Italien sein Ziel nur durch eine Zertrümmerung Österreichs
erreichen kann. Wenn das aber wirklich gelänge, dann wird Italien die Geister, die
es rief, vergeblich zu bannen suchen. Es wird am eigenen Leib verspüren, was es
heißt, Grenznachbar des vordringenden Slawentums zu sein. Ein Bild der Zukunft
läßt sich schon heute aus der russischen panslawistischen Presse gewinnen. In der
"Birshewija Wedomosti" stand Anfang Februar zu lesen und der "Corriere della
sera" druckte es in einer verborgenen Ecke ab: "Die russischen Zeitungen nehmen
an, daß die Annexion von Trieft die von ganz Jstrien zur Folge hat. Nun hängt
in Wahrheit das eine nicht vom anderen ab, und wenn man auch die Abtretung
Triests an Italien zulassen wollte, so muß man sich energisch der Abtretung
von Jstrien widersetzen, weil dieses Land, im Ganzen genommen, slawisch,
serbokroatisch ist, nicht italienisch. Auch über Trieft können Zweifel entstehen.
Es ist einstweilen italienisch. Aber in dreißig Jahren haben sich die Italiener
verringert, während die Slawen zugenommen haben. Wenn Trieft und ganz
Jstrien in italienische Hände gerät, werden die Italiener ihr möglichstes tun,
um die Disitalianisation und die Slawisierung aufzuhalten. Es ist aber nicht
im Interesse des Slawismus, geschweige denn der Gerechtigkeit, daß Trieft und
Jstrien aus den Standpunkt zurückgehen, auf dem sie in der ersten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts waren. Von der Abtretung Triests hätte man zu
Anfang des Krieges sprechen können. Auch dann hätte man erwartet, daß
Italien nach einer Reihe von Jahren Trieft den jungen slawischen Völkern
herausgegeben hätte; dann würde es sich nämlich überzeugt haben, daß ein
solcher Besitz wegen der Nähe Großserbiens für Italien keinen politischen und
ökonomischen Vorteil hat." Das ist nicht etwa die Meinung eines einzelnen.
Ssasonow hat dem Petersburger Berichterstatter des Corriere della sera
erklärt, daß Trieft zwar italienisch werden dürfe, daß aber auf Jstrien und
Dalmatien die Serben unveräußerliche Rechte hätten. In diesem Gegensatz der


Italienische oder slawische Jrredenta?

Auch wenn das Dreieck Jstrien halbiert und Italien nur die westliche
Hälfte in Anspruch nehmen würde — eine praktisch unmögliche Teilung —,
stünden etwa 130 000 Italiener 100 000 Slawen gegenüber.

In Dalmatien schließlich machen die Italiener nicht einmal 3 Prozent
der Bewohner aus; sie finden sich hier nur in den Städten Zara, Spalato
und Cattaro. Trotzdem nehmen extreme Nationalisten wie Corradini und
Sighele auch dieses ehemals von Venedig beherrschte Gebiet in Anspruch: wenn
das ganze Litorale Österreich-Ungarns und Valona, der „Schlüssel der Adria",
in Italiens Händen sei, dann erst werde die Adria wieder sein, was sie früher
gewesen ist: ein italienisches Binnenmeer.

Dem politischen Kopf muß sich die Frage erheben, ob die vollkommene
Erfüllung dieser Wünsche mit all ihren Folgen in Italiens wohlverstandenen
Interesse liegt. Er wird nicht anerkennen, daß eng nationale Wünsche auch
dann erfüllt werden müssen, wenn dadurch die Zukunft des Gesamtvolkes im
Ringen der Nationen gefährdet wird.

Soviel ist klar, daß Italien sein Ziel nur durch eine Zertrümmerung Österreichs
erreichen kann. Wenn das aber wirklich gelänge, dann wird Italien die Geister, die
es rief, vergeblich zu bannen suchen. Es wird am eigenen Leib verspüren, was es
heißt, Grenznachbar des vordringenden Slawentums zu sein. Ein Bild der Zukunft
läßt sich schon heute aus der russischen panslawistischen Presse gewinnen. In der
„Birshewija Wedomosti" stand Anfang Februar zu lesen und der „Corriere della
sera" druckte es in einer verborgenen Ecke ab: „Die russischen Zeitungen nehmen
an, daß die Annexion von Trieft die von ganz Jstrien zur Folge hat. Nun hängt
in Wahrheit das eine nicht vom anderen ab, und wenn man auch die Abtretung
Triests an Italien zulassen wollte, so muß man sich energisch der Abtretung
von Jstrien widersetzen, weil dieses Land, im Ganzen genommen, slawisch,
serbokroatisch ist, nicht italienisch. Auch über Trieft können Zweifel entstehen.
Es ist einstweilen italienisch. Aber in dreißig Jahren haben sich die Italiener
verringert, während die Slawen zugenommen haben. Wenn Trieft und ganz
Jstrien in italienische Hände gerät, werden die Italiener ihr möglichstes tun,
um die Disitalianisation und die Slawisierung aufzuhalten. Es ist aber nicht
im Interesse des Slawismus, geschweige denn der Gerechtigkeit, daß Trieft und
Jstrien aus den Standpunkt zurückgehen, auf dem sie in der ersten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts waren. Von der Abtretung Triests hätte man zu
Anfang des Krieges sprechen können. Auch dann hätte man erwartet, daß
Italien nach einer Reihe von Jahren Trieft den jungen slawischen Völkern
herausgegeben hätte; dann würde es sich nämlich überzeugt haben, daß ein
solcher Besitz wegen der Nähe Großserbiens für Italien keinen politischen und
ökonomischen Vorteil hat." Das ist nicht etwa die Meinung eines einzelnen.
Ssasonow hat dem Petersburger Berichterstatter des Corriere della sera
erklärt, daß Trieft zwar italienisch werden dürfe, daß aber auf Jstrien und
Dalmatien die Serben unveräußerliche Rechte hätten. In diesem Gegensatz der


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[0370] Italienische oder slawische Jrredenta? Auch wenn das Dreieck Jstrien halbiert und Italien nur die westliche Hälfte in Anspruch nehmen würde — eine praktisch unmögliche Teilung —, stünden etwa 130 000 Italiener 100 000 Slawen gegenüber. In Dalmatien schließlich machen die Italiener nicht einmal 3 Prozent der Bewohner aus; sie finden sich hier nur in den Städten Zara, Spalato und Cattaro. Trotzdem nehmen extreme Nationalisten wie Corradini und Sighele auch dieses ehemals von Venedig beherrschte Gebiet in Anspruch: wenn das ganze Litorale Österreich-Ungarns und Valona, der „Schlüssel der Adria", in Italiens Händen sei, dann erst werde die Adria wieder sein, was sie früher gewesen ist: ein italienisches Binnenmeer. Dem politischen Kopf muß sich die Frage erheben, ob die vollkommene Erfüllung dieser Wünsche mit all ihren Folgen in Italiens wohlverstandenen Interesse liegt. Er wird nicht anerkennen, daß eng nationale Wünsche auch dann erfüllt werden müssen, wenn dadurch die Zukunft des Gesamtvolkes im Ringen der Nationen gefährdet wird. Soviel ist klar, daß Italien sein Ziel nur durch eine Zertrümmerung Österreichs erreichen kann. Wenn das aber wirklich gelänge, dann wird Italien die Geister, die es rief, vergeblich zu bannen suchen. Es wird am eigenen Leib verspüren, was es heißt, Grenznachbar des vordringenden Slawentums zu sein. Ein Bild der Zukunft läßt sich schon heute aus der russischen panslawistischen Presse gewinnen. In der „Birshewija Wedomosti" stand Anfang Februar zu lesen und der „Corriere della sera" druckte es in einer verborgenen Ecke ab: „Die russischen Zeitungen nehmen an, daß die Annexion von Trieft die von ganz Jstrien zur Folge hat. Nun hängt in Wahrheit das eine nicht vom anderen ab, und wenn man auch die Abtretung Triests an Italien zulassen wollte, so muß man sich energisch der Abtretung von Jstrien widersetzen, weil dieses Land, im Ganzen genommen, slawisch, serbokroatisch ist, nicht italienisch. Auch über Trieft können Zweifel entstehen. Es ist einstweilen italienisch. Aber in dreißig Jahren haben sich die Italiener verringert, während die Slawen zugenommen haben. Wenn Trieft und ganz Jstrien in italienische Hände gerät, werden die Italiener ihr möglichstes tun, um die Disitalianisation und die Slawisierung aufzuhalten. Es ist aber nicht im Interesse des Slawismus, geschweige denn der Gerechtigkeit, daß Trieft und Jstrien aus den Standpunkt zurückgehen, auf dem sie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts waren. Von der Abtretung Triests hätte man zu Anfang des Krieges sprechen können. Auch dann hätte man erwartet, daß Italien nach einer Reihe von Jahren Trieft den jungen slawischen Völkern herausgegeben hätte; dann würde es sich nämlich überzeugt haben, daß ein solcher Besitz wegen der Nähe Großserbiens für Italien keinen politischen und ökonomischen Vorteil hat." Das ist nicht etwa die Meinung eines einzelnen. Ssasonow hat dem Petersburger Berichterstatter des Corriere della sera erklärt, daß Trieft zwar italienisch werden dürfe, daß aber auf Jstrien und Dalmatien die Serben unveräußerliche Rechte hätten. In diesem Gegensatz der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/370>, abgerufen am 22.07.2024.